04.06.2014

Über die Natur des Denkens der Anthroposophie-Gegner

Eine weitere Antwort auf Ansgar Martins und seinen Aufsatz "Sexualmoral auf anthroposophisch".


Inhalt
Das Denken – stumpfer Intellekt oder Wahrnehmungsorgan des Geistigen
Faulheit und Hochmut leugnen den Geist und seine Entwicklung
Etwas beurteilen, dem man verfallen ist?
Blindheit und Endlichkeit des Egoismus
Zwischen idealistischer Liebe und biologischem Trieb
Von der Freiheit und ihren Folgen


Das Denken – stumpfer Intellekt oder Wahrnehmungsorgan des Geistigen

Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der den Menschen zum Geistigen führen will – zu seinem eigenen Geistigen und dem Geistigen des Weltganzen.

Man kann solche Aussagen ablehnen, man kann sie auswendig heruntersagen – oder man kann den hier gemeinten Weg betreten und dann aus eigener Erkenntnis dahin kommen, bestätigen zu können, dass dieser Weg existiert und dass er wirklich zum Geistigen führt.

Diejenigen, die an das Geistige nicht glauben, sondern vielmehr glauben, dass das Geistige nicht existiere, haben es leicht, alles damit Zusammenhängende lächerlich zu machen und sich darüber zu überheben. Über-heblich äußern sie sich so über etwas, was sie weder verstehen noch erleben. Wer aber das Geistige zu erleben beginnt, braucht nicht mehr zu glauben, dass Anthroposophie ein Erkenntnisweg ist – sondern er kann es aus eigenem Erleben bestätigen.

Der Intellekt ist eigentlich der Gläubige schlechthin. Bei jedem Urteil, jeder Meinung, die der Intellekt äußert, glaubt er, etwas über die Wirklichkeit auszusagen. Es ist aber allzuoft nur die subjektive Wirklichkeit seines eigenen Unglaubens und seiner eigenen Nicht-Erkenntnis. Und hochmütig sich über die Wirklichkeit erhebend, macht er seine eigene Beschränktheit zum Gesetz: „Was ich nicht erkannt habe, gibt es nicht. Was ich zu erkennen nicht bereit bin, ist nicht nur unerkennbar, es ist inexistent.“

Die eigene Faulheit und der eigene Hochmut führen zu weitreichendsten ontologischen Aussagen... Der faule Langschläfer räkelt sich im Bett, macht sich über die längst draußen Tätigen lustig und sagt: Die Sonne existiert nicht.

Wer an die Nicht-Existenz des Geistigen glaubt, wird auch nie die feineren Offenbarungen dieses Geistigen bemerken – denn wenn er etwas wahrnimmt, wird er es ganz anders deuten.

Nun ist aber bereits das Denken eine Offenbarung des Geistigen – eines geistigen Wesens. Sobald man dies ernst nimmt, kann man die Unterschiede im Denken verschiedener Menschen sehr fein wahrnehmen – und wird darin dann unendlich viel mehr sehen und erleben können als nur Unterschiede der Erziehung, der Meinung, der Überzeugung, des Glaubens...

Sobald man das Denken als Offenbarung eines Geistigen ernst nimmt, geht es immer weniger ausschließlich um den Inhalt der Gedanken, geht es immer mehr um die ganze Art des Denkens. Dann erst wird wirklich „des Denkens Hell und Dunkel“ empfunden, real erlebt, immer differenzierter, immer berührender.

Ob jemand abstrakt und intellektuell denkt oder künstlerisch und feinsinnig, ob jemand denkt, der den Geist leugnet, oder jemand, der den Geist sucht, oder jemand, der den Geist liebt – das werden Unterschiede, die immer tiefer erlebt werden. Auch kann sehr fein und deutlich erlebt werden, ob jemand abstrakt und intellektuell denkt und dennoch den Geist sucht, ob Wärme in seinem Denken lebt oder eine große Kälte, Offenheit oder Abgeschlossenheit, Zartheit oder Grobheit, Liebe zur Wahrheit oder Lust am Rechthaben, Achtung der Person des Anderen bei aller Schärfe oder Missachtung des Anderen bei aller scheinbaren Umgänglichkeit, Wahrhaftigkeit oder Überredungswille, reines Denken oder das Heischen nach Zustimmung – und so weiter.

Zunächst unmerklich, später immer deutlicher, wird das Denken selbst zu einem Wahrnehmungsorgan. Es war dies immer, nun aber wird dies bewusst und vertieft sich außerordentlich, wenn es geübt wird. Es ist natürlich deutlich, dass diese Wahrnehmungsfähigkeit des Denkens sich nur dann vertiefen kann, wenn es selbst immer selbstloser wird, wenn es lernt, das Persönliche schweigen zu lassen. Um die Welt zu schauen, muss das sinnliche Auge ganz selbstlos sein. Um die Wirklichkeit zu erleben, muss man im Denken die schon fertigen Vor-Urteile und die bloß persönlichen Empfindungen schweigen lassen lernen. Dann aber offenbart sich ein feines, sehr feines Wahrnehmungsorgan, das feinste und umfassendste Wahrnehmungsorgan – das Denken als Organ für den Geist, das auch sich selbst immer mehr als Geistiges offenbart.

Dies ist ein Entwicklungsweg, den der Denker durchmacht und den er immer bewusster und bewusster selbst in die Hand nimmt und voranführt.

Faulheit und Hochmut leugnen den Geist und seine Entwicklung

Ansgar Martins kennt den Geist nicht und verspottet ihn. Vielleicht meint er, nur über die äußere Wirklichkeit zu schreiben, da er ja an die Inexistenz des Geistes glaubt, aber in all seinen Worten liegt die Verspottung des Geistes.

Wenn er sich spöttisch über Rudolf Steiner äußert, so verspottet er den größten Geistes-Offenbarer unserer Zeit – ohne zu wissen, worüber er schreibt.

Er verspottet zum Beispiel Rudolf Steiners Aussagen, dass die Beziehung zwischen Männern und Knaben, zwischen den großen griechischen Philosophen und den Jünglingen, die ihre Schüler waren, wenig mit dem zu tun hatte, was wir heute unter Homosexualität oder Pädophilie verstehen. Ansgar Martins will im Klartext sagen: „Rudolf Steiner dachte und sprach über Sexualität sehr altbacken. Für ihn waren die ‚großen Geister‘ wie Aristoteles a-sexuelle Wesen, dabei ist Sexualität – ob Hetero, Homo, Bi oder Trans – das Normalste von der Welt. Nur die Anthroposophen haben das noch nicht ganz verstanden. Bei ihnen ist sie noch immer das Böse, das geläutert werden muss.“

Das ist das spöttische Urteil des Intellekts, dessen hervorragender Vertreter Ansgar Martins ist.

Auch hier kann sich heute jeder 23-Jährige haushoch über den höchsten Eingeweihten stellen und die eigenen Meinungen als Wahrheiten verkünden – weiß er sich doch im Einklang mit dem übrigen Mainstream, der wie er an die Inexistenz des Geistes glaubt. Und welche Bedeutung hat schon ein Eingeweihter, wenn das, worin er eingeweiht ist, gar nicht existiert? Wenn heute jeder Halbwüchsige Gott für tot erklären kann, ist ein Rudolf Steiner höchstens noch Gegenstand der Belustigung – am Stammtisch der Geistleugner oder auch öffentlich im „Waldorfblog“...

Zu faul, den Geist zu erleben; zu hochmütig, innere Entwicklung zu erkennen; zu egoistisch, um die Seele auch nur für die Vorstufen der Geist-Erkenntnis bereit zu machen – und zu begierdevoll, alles damit Zusammenhängende ins Lächerliche zu ziehen. Die eigene Taub-Stumm-Blind-Faulheit wird zu Lust an der Geist-Verleugnung und -Verspottung.

Was kann Martins Rudolf Steiner aber entgegenstellen? Durch einen völligen Mangel an Fähigkeit, Unterschiede zu erleben, projiziert er die Gegenwart in die Vergangenheit und sagt im Grunde: Sex gab es schon immer, er hatte bei den Griechen im Prinzip den gleichen Charakter wie heute, nur dass die Männer ein bisschen homosexueller gewesen zu sein schienen. – Man fragt sich, wie ein Zwanziger zu so weitreichenden Behauptungen kommt. Er leugnet nicht nur den Geist, sondern auch jede Entwicklung im tieferen Sinne. Ganz wie die Kreationisten, die nicht an eine Evolution glauben, glaubt Martins, dass eine tiefere Bewusstseins-Entwicklung der Menschheit nicht existiere, macht sich zumindest keinerlei Gedanken darüber, wie weitreichend diese gewesen ist. Ja, er glaubt offenbar sogar, dass Sexualität schon immer die obsessive Bedeutung hatte, die unser leibbezogenes Zeitalter ihr gibt.

Etwas beurteilen, dem man verfallen ist?

Für Martins und unsere ganze geistblinde Zeit ist Sex so etwas wie „die schönste Nebensache der Welt“ – ein verschämter Ausdruck dafür, dass es eigentlich eine Hauptsache ist, dass man endlich die Verklemmtheit abwerfen solle, um den Sex ganz offiziell zu einer Hauptsache im menschlichen Leben zu erklären. Sexualität ist Alltag – und nur die Anthroposophen, die dagegen ankämpfen, machen sich zu völligen Witzfiguren.

Es ist interessant, dass Martins Rudolf Steiner nicht einmal im Ansatz versteht. Und dass er völlig dem naturalistischen Fehlschluss unterliegt: vom Sein auf das Sollen zu schließen. Dass unsere Welt heute völlig sexualisiert ist, heißt nicht, dass dies eigentlich menschlich wäre – nur für Martins und den Mainstream ist das so, denn wer nichts anderes anerkennt als die „Macht des Faktischen“ und die seiner eigenen Begierden und Denkmuster, für den ist das Sein gleich dem Sein-Sollenden. Anders gesagt: Außer dem Sein gibt es gar keinen anderen Soll-Zustand. Zwar könnte die Welt sozial besser oder gerechter sein, auch sonst vernünftiger, aber den Sex zum Beispiel betrifft das nicht – hier gibt es keinen anderen Zielzustand als ebenfalls eine immer weitergehende Freiheit der ... Begierden und Lustformen. Sexuelle Lust ist die Natur des Menschen, es gibt also nichts Unnatürliches, damit auch nichts Verbotenes, außer das, was einem anderen schadet.

Aber wie will man überhaupt beurteilen, was schadet? In manchen Teilen der Welt werden schon Kinder zu Soldaten gemacht. Noch ohne eigenes Urteilsvermögen greifen sie zur Waffe und verhärten ihre Herzen, werden zu seelischen Wracks... In unserem Teil der Welt werden schon Kinder mit den sexualisierten Botschaften unserer Zeit bombardiert, tritt hier unvermeidlich eine Verfrühung ein, ein kollektiver Zwang, das Sexuelle wahrzunehmen, zu verstehen, zu denken, zu kennen, darüber zu sprechen, und so weiter...

Wer will beurteilen, was hier schadet und was nicht – vor allem, wenn man das, dem es schaden könnte, gar nicht kennt? Der Kurzschluss lautet: Alles, was mit Lust verbunden ist, ist nicht schädlich, sondern natürlich und gut. Das ist wiederum der Fehlschluss des mit dem Körper verpaarten Intellekts. Der Körper kennt die Lust, die körperbetonte Seele genießt und kultiviert sie, der Intellekt verteidigt sie...

Die Frage, ob das schädlich ist, ist so zunächst unvollständig gestellt, denn die Frage ist ja immer: schädlich für was? Was wird geschädigt?

Wenn man nun Seele und Geist des Menschen in ihrer Realität gar nicht kennt, so kennt man gar nicht die Realität dessen, was geschädigt werden könnte. Über die größten Gegebenheiten des Menschenwesens geht man hinweg und stellt seine körperbetonte (um nicht zu sagen körperbehinderte, vom Körper behinderte) Weltsicht in den Mittelpunkt – um eine absolut oberflächliche Antwort zu geben.

Dann wird der Leib mit seiner Lust zum Selbstzweck, die Seele mit ihrer Lust, Sucht und Abhängigkeit als simple Psyche zur Mitläuferin und der „Geist“ zum bloßen Intellekt, der das psycho-körperliche Weltbild, in dem der Sex einen wesentlichen Mittelpunkt bildet, als natürlichen Endpunkt hinstellt und alles andere als altertümlich verspottet.

Die Seele taucht ganz in den Leib unter und genießt das Leibes-Erleben – und der Intellekt wird ein Diener dieser unheiligen Verbindung der Seele mit dem Leib, kann selbst nur noch leiblich und das Leibliche denken.

Wie will man etwas beurteilen, wenn man ihm bereits (oder aber: noch) verfallen ist?

Blindheit und Endlichkeit des Egoismus

Die Frage ist doch, was die wirkliche Realität und das wirkliche Wesen von Leib, Seele und Geist ist.

Jemand, der Seele und Geist gar nicht kennt – sondern nur ihre unentwickelten oder aber degenerierten Rudimente und Karikaturen –, kann darüber natürlicherweise gar keine wahren Aussagen machen. Alle Aussagen, die der leibgebundene Intellekt machen kann, werden leibbezogen bleiben und das Leibliche immer falsch bewerten, zu materialistisch sein.

Dass Sex und körperliche Lust auch ein Hindernis sein könnten, dafür muss derjenige blind sein, der die Welt jenseits dieses Hindernisses gar nicht kennt. Doch die Leibeslust – die in den Leib untergetauchte Seele – ist der große Quell und fortwährende Nährboden des Egoismus. Im Leib sind wir vereinzelt, und leibliche Lust ist immer selbstbezogene Lust. Dass dies ein Hindernis für höhere Entwicklungsstufen sein kann, in denen es gerade um die Überwindung des Egoismus und der Sinneslust geht, kann derjenige nicht erkennen, der inmitten dieses Lust-Gebietes verbleiben will.

Der Leib drängt auf die Befriedigung der in ihm lebenden Triebe. Die Seele, die sich daran gewöhnt hat, die damit verbundenen Lüste zu genießen und sie bis in eine reiche Vorstellungswelt hinein zu kultivieren, hervorzurufen und zu steigern, wird selbst leib-ähnlich, bleibt und wird selbstbezogen, verstrickt sich in ein pur gewöhnliches Denken, Fühlen und Wollen, das immer weniger ahnt, dass auch ganz andere seelische und geistige Empfindungen und Erlebnisse möglich wären, wenn man sich nur von den Fesseln und der Diktatur des Leibes befreien könnte.

Derjenige, der immer wieder die körperliche Lust sucht, wird überhaupt nicht verstehen, wovon die Rede ist, wenn man ihm zu beschreiben versucht, welche unendliche Tiefe des seelischen Erlebens möglich ist, wenn es nicht um „guten Sex“ geht, sondern vielleicht um zarte Romantik, entweder ohne oder aber mit zarter körperlicher Vereinigung. Der Trieb und die Lust drängen auf Befriedigung, die eigentliche Seele dagegen lebt in der Zärtlichkeit. Im einen Fall geht es vor allem um die Begegnung zweier Leiber und zweier sehr egoistisch bleibender Seelenanteile – im anderen Fall geht es um die zarte Suche nach einer Begegnung von Seele zu Seele. Die Tiefe dieser Begegnung kann dann auch das Leibliche umfassen, aber dann ist die leibliche Vereinigung von tiefster seelischer Zartheit.

Derjenige, der dies schon nicht kennt, wird erst recht nicht verstehen, wovon die Rede ist, wenn man ihm zu beschreiben versucht, welche unendliche Tiefe des geistigen Erlebens möglich ist. Angesichts dieser Erlebnisse sind alle körperlichen Lust-Empfindungen einfach nur primitiv und eindimensional zu nennen – waren sie es doch schon im Vergleich zum seelischen Erleben. Von der Tiefe, der Fülle und der Schönheit der inneren Erlebnisse der Seele und des Geistes haben diejenigen Menschen nicht einmal eine blasse Ahnung, die ganz dem plumpen Intellekt (möge er noch so glänzend sein) und der gewöhnlichen Körperlust (möge sie noch so lustvoll sein) verfallen sind.

Der Egoismus, die Selbstbezogenheit und die Körperlust sind nur für die Geistleugner unserer Zeit der große Selbstzweck. Jedem, der etwas tiefer blickt, erweist sich diese Selbstbezogenheit als öde, sinnlose, letztlich armselige Sackgasse – und das gilt auch für jeden verfeinerten Egoismus, denn selbstverständlich hält sich der Intellekt nicht für völlig egoistisch, vielleicht nicht einmal die lüsternste Seele tut dies... Wer im Meer der Selbstbezogenheit schwimmt, bemerkt nur die kurzen Momente, in denen er ein wenig herauszuschauen glaubt, und hält diese dann für sehr bedeutend, behauptet sogar sehr leicht, das Meer sei Land und dergleichen mehr.

Nur die oberflächlichsten Weltanschauungen halten den Egoismus für einen Selbstzweck. Aber die Oberflächlichkeit hat heute schon so zugenommen, dass man nicht einmal mehr so weit denken kann, um zu erkennen, dass das bloße Streben nach Glück und Lust auch nichts anderes als Egoismus ist. Erst wenn das Denken, Fühlen und Wollen der Seele sich auch Anderen hingeben kann, beginnt etwas anderes.

Aber worum geht es überhaupt? Um Glück? Worum geht es im Lichte der Ewigkeit? Gibt es dieses Licht überhaupt? Spielt die Ewigkeit eine Rolle? Ist das Menschenwesen ewig – und wenn ja, worum ginge es dann? Diese Fragen stellen sich die verächtlichen Geistleugner nicht, sie können es ja gar nicht, ohne ihren Standpunkt zu verlassen. Und sie sind zu arrogant, einen anderen, spirituellen Standpunkt auch nur einmal ernsthaft zu denken.

Wie wertlos aber das gewöhnliche Intellekt-Denken ist, zeigt schon der Umstand, dass das gewöhnliche Denken sich zusammen mit dem Ätherleib bereits innerhalb von drei Tagen nach dem Tode im Weltenall auflöst. Nichts von dem, was ein Mensch mit diesem Denken sein Leben lang gedacht hat, bleibt ihm dann noch. Der Mensch, der im Erdenleben nichts anderes gepflegt hat, hat dann also eigentlich gar nichts mehr...

Dies gilt aber selbst dann, wenn spiritueller Inhalt auf die gleiche gewöhnliche Weise gedacht wird. Auch dieser verschwindet, ist nichts Bleibendes, nichts eigentlich Geistiges. Und da wird die Frage langsam existentiell.

Aber die Geist-Leugner können mit existentiellen Fragen gar nichts anfangen – sie können nur in den Grenzen der Leiblichkeit verbleiben, die einen Anfang und ein Ende hat; in den Grenzen des Intellekts, der einen Anfang und ein Ende hat...

Zwischen idealistischer Liebe und biologischem Trieb

Kehren wir noch einmal zur Sexualität zurück. Martins wirft der Anthroposophie vor, dieses Thema moralisch und spirituell aufzuladen, ja zu überfrachten. Das kann er nur sagen, weil er Moralität und Spiritualität ablehnt. Und nur deshalb kann er auch nicht sehen, wie armselig es ist, die Sexualität ins Gewöhnliche zu ziehen. Er will sie von Tabus und Vorurteilen befreien, zerrt sie aber gerade ins profane Licht und beraubt sie ihres Mysteriums. Natürlich tut das nicht nur er, sondern unsere ganze Zeit. Aber Sexualität ohne Mysterium ist nur noch Körperlust. Nun, jedem das Seine. Nur hat ein Ansgar Martins keine Ahnung, welche Tiefen des Erlebens möglich sind, wenn man etwas seinem Wesen nach so Heiliges nicht in den Bereich des Profanen hinabzieht.

Und gleichzeitig weiß er nicht, was Steiner meint, wenn er darauf hinweist, dass die erwachende Sexualität nur eine Erscheinungsform einer viel umfassenderen Erdenreife und Erdenliebe ist. Die gleichzeitig mit der Geschlechtsreife erwachenden Ideale zeigen, dass die mit dem Leib zusammenhängende Liebe in einem unendlich viel größeren Zusammenhang steht. Wer aber das wahre Wesen der Ideale gar nicht begreift oder solche nicht einmal mehr in all ihrer Tiefe erlebt, der kann auch die Bedeutung des von Steiner Aufgezeigten gar nicht erfassen. Aber verspotten – verspotten kann der beschränkte Intellekt immer. Denn je beschränkter er ist, desto verschrobener muss er diejenigen Ansichten finden, die er nicht begreift. Sein Unverstand wird nur noch von seinem Hochmut übertroffen – und zugrunde liegt beidem der Unwille und die Unfähigkeit, das Seelische und Geistige wirklich zu erleben.

Wenn ein Junge und ein Mädchen sich in einer tief idealistischen Liebe ineinander verlieben, so ist dies ein Geschehen, das Leib, Seele und Geist umfasst, wobei die Bedeutung des Seelisch-Geistigen gar nicht überschätzt werden kann. In der Reinheit und Zartheit einer solchen Liebe leuchtet vieles von dem Wesen der Seele und dem Geheimnis des Geistes auf. Und es kann doch jedem feiner empfindenden Menschen, der sich von seinen Vor-Urteilen befreit, leicht deutlich werden, dass hier unendlich viel mehr wirkt als nur die Anziehung biologischer Geschlechter – dass diese geheimnisvolle Polarität des Männlichen und Weiblichen viel weitere und höhere Wirklichkeitsbereiche umfasst.

Die Argumentation eines Ansgar Martins, man solle endlich aufhören, von dieser „höheren Wirklichkeit“ zu reden, kann, um es einmal ganz herunterzubrechen, ja auf ihn selbst angewandt werden. Man kann ja sogar aufhören, von dem zu sprechen, was die gewöhnliche Psychologie anerkennt. Also auch von gewöhnlichen Sympathien und Antipathien. Man kann auch aufhören, von dem gewöhnlichen „Gernhaben“ zu reden und einfach anerkennen, dass man ganz und gar getrieben ist von Hormonen, Vergangenheitserfahrungen, bestimmten Mustern und undurchschauten, aber doch durch Gehirn, Physiologie und Genetik bestimmten Präferenzen, Tendenzen und Impulsen. So weit geht Martins vielleicht nicht – aber es könnte ihm und dem ihn umgebenden Mainstream einmal helfen, ein Gefühl dafür zu bekommen, wie fatal es ist, Wirklichkeitsbereiche auszublenden, die höher und wesentlicher sind als das, was man übrigbehält...

Von der Freiheit und ihren Folgen

Man muss die Sexualität nicht veredeln – dann wird man das Edlere aber auch nie kennenlernen. Merkwürdig ist aber doch, dass es im jungen Menschen selbst einen tiefen Impuls gibt, dies zu tun. Dies zeigt, dass im Menschen selbst dieser Impuls lebt – bis er an der heutigen Wirklichkeit meistens doch wieder mehr oder weniger zerschellt, weil das Menschenwesen nicht stark genug ist, gegenüber der äußeren Welt standzuhalten. Es wird selbst zu äußerlich, verliert sich in der Sinneswelt...

Man muss nicht beten, man muss das religiöse Erleben nicht kennen oder pflegen – aber dann wird man auch die Beziehung zu einer göttlichen Welt nicht wahrhaft haben können.

Man muss sein Denken nicht in eine Entwicklung bringen – nur wird man dann nie wissen und erfahren, was das wahre Wesen des Menschen ist.

Man muss gar nichts. Nur wird man, wenn man seine eigenen Grenzen nicht überschreitet, innerhalb dieser bleiben müssen...

Der beschränkte Intellekt – der, sei er noch so meisterhaft, als Intellekt beschränkt ist – kann sich und seine Grenzen niemals durchschauen. Dies ist nur durch diejenige Instanz möglich, die mehr ist als der Intellekt und die auch diesen in eine Verwandlung bringen kann, wann immer sie in jenem Mysteriengeschehen weit genug gegangen ist, das seit Urzeiten in den Worten ertönt:

Erkenne Dich selbst!