07.06.2014

Die zukunftentscheidende Bedeutung der Ehrfurcht

Zwischen Geist und Intellekt – eine Besinnung zu Pfingsten.


Inhalt
Die Ehrfurcht und der Intellekt
Von dem höheren Wesen der Seele...
...und den Gegenmächten
Die verwandelnde Kraft der Wärme
Der vereinnahmende Intellekt...
...und seine wirkliche Überwindung
Gedankenklare Ehrfurcht
Die Menschheit zwischen Abgrund und Fülle


Die Ehrfurcht und der Intellekt

Das Schicksal der Menschheit wird sich an einer Seelenfähigkeit oder -unfähigkeit entscheiden: an der Kraft der Ehrfurcht.

Ebenso muss man auch sagen, dass sich das Menschheits-Schicksal an der Frage entscheiden wird, ob die Anthroposophie verstanden und aufgenommen werden wird – aber auch dies ist selbst vollkommen abhängig von derselben Seelenfähigkeit...

Ohne die Ehrfurcht keine Anthroposophie, ohne die Anthroposophie keine Zukunft der Menschheit...

Dass dies so ungeheuerlich wenig verstanden wird, ist zugleich seltsam und auch wiederum verständlich. Denn wir bewegen uns in einem Zeitalter, in dem die Ehrfurcht völlig verschwindet. Konkreter und damit näher an der wirklichen, übersinnlichen Realität formuliert: Die Menschheit taucht immer mehr ein in eine Sphäre, in der die Ehrfurcht gerade ausgerottet wird.

Der Intellekt braucht die Ehrfurcht nicht – ja, er kann mit ihr gar nichts anfangen, und mehr noch: sie wäre für ihn eine existentielle Bedrohung. Der Intellekt mit Ehrfurcht wäre nicht mehr Intellekt – er würde sich unmittelbar verwandeln. Der Intellekt würde weichen und etwas ... Neues würde an seine Stelle treten. Doch dies wird mit aller Macht bekämpft. Mit allem Stolz, der nur denkbar ist, steht der Intellekt der Ehrfurcht gegenüber – und hasst sie, verspottet sie ... und fürchtet sie.

Doch die Angst des Intellekts ist absolut untergründig, der Intellekt selbst kann sie nicht erkennen. Diese Angst gilt nicht nur der Ehrfurcht, sondern mehr noch demjenigen, zu dem die Ehrfurcht das Tor ist: dem Geist. Der Intellekt fürchtet die Ehrfurcht, weil er den Geist fürchtet – wie sein eigenes Todesurteil.

Aber die Widersachermächte, deren einziges Ziel es ist, den wahren Geist von der menschlichen Seele fernzuhalten, vermögen es hervorragend, dem Intellekt, dessen Alleinherrschaft sie immer mehr vorantreiben, die Angst völlig unbewusst zu halten – und dafür den Gegenpol auf die Spitze zu treiben: die Über-heblichkeit, den Hoch-mut, den Spott.

Schon den Kindern wurde früher gesagt: „Wer angibt, hat’s nötig“. Unendlich, wirklich unendlich viel mehr gilt dies für den Intellekt. Die Menschheit steht vor einem unglaublichen Kampf zwischen dem Intellekt, der gegenüber dem Geist ein Nichts ist, und dem Geist selbst. Der Schauplatz dieses Kampfes aber ist gerade die menschliche Seele, ist das eigene Innere des Menschen.

Diejenigen Menschen, die in sich dem Intellekt die Alleinherrschaft geben, machen es sich gar nicht bewusst, dass auch in ihrer Seele ein Kampf tobt. Immer und ohne Unterlass muss der Intellekt seine Herrschaft behaupten. Er tut dies nach außen, indem er mit einer ans Lächerliche grenzenden Selbstüberhebung alles Geistige und auch alles Demutvolle – insofern es gerade den Geist sucht und sich für den Geist bereit macht – verspottet. Er tut dies aber auch nach innen, indem er alles, was in der eigenen Seele den Geist entbehrt und nach ihm ruft, absolut unterdrückt – so absolut, dass es in der Regel nicht einmal ansatzweise die Schwelle des Bewusstseins zu überschreiten vermag.

Von dem höheren Wesen der Seele...

Um diese Realität zu begreifen, müssen wir zwischen dem gewöhnlichen Bewusstsein und dem wahren, höheren Wesen des Menschen unterscheiden. Schon die Alltagserfahrung zeigt uns, dass wir oft anders sein wollen, als wir es verwirklichen – und sehr oft ist dieser „Anders-Wille“ moralischer. Dieser Wille aber ist, selbst wenn er sich zunächst als schwach erweist, auch eine Wirklichkeit. Und diese Wirklichkeit müssen wir uns noch unendlich erweitert denken. So, wie dieser „Anders-Wille“ sich leise und sanft, aber unerschütterlich in die gewöhnliche Wirklichkeit schiebt, so gibt es hinter der momentanen Realität noch viel mehr, viel, viel mehr. Der „Anders-Wille“, der zutiefst mit unserem wahren Wesen zu tun hat, ist viel, viel umfassender, als wir es zunächst auch nur zu ahnen wagen würden...

Doch sobald wir überhaupt einmal zu unterscheiden gelernt haben, zwischen einem Niedereren, das sich zunächst verwirklicht hat, und einem Höheren, das sich noch nicht verwirklicht hat, aber verwirklichen will – und das noch viel mehr mit uns selbst zu tun hat, als unser gegenwärtiges Wesen mit all seinen Schwächen, die uns selber stören, die wir sehr wohl empfinden und die wir insgeheim verwandeln wollen –, sobald wir gelernt haben, diesen Unterschied zu sehen, ist ein entscheidendes Tor geöffnet: ein Tor, durch das das Höhere immer deutlicher in den Blick kommen kann.

Nun ist aber die gegenwärtige Seele nicht einfach nur der niederere Zustand gegenüber dem, was sie als wahreres Wesen zu ahnen beginnt. Sondern die Seele steht in der Mitte zwischen dem höheren Wesen des Menschen, das immer wieder leise zur Seele spricht – auch in der Stimme des Gewissens eine Abschattung hat – und auf der anderen Seite jenen Kräften, die sie immer weiter davon abziehen wollen; die sie herunterziehen wollen; die die Trennung von ihrem eigenen Zukunftwesen dauerhaft machen wollen; die die Kluft unüberbrückbar machen wollen; die schon jedes Wissen von diesem höheren Wesen auslöschen wollen.

Wenn wir die Seele und ihren Ist-Zustand als ein Mittleres begreifen, können wir bewusst erkennen, wie die Kräfte wirken, denen sie ausgesetzt ist. Zart und absolut freilassend, man möchte sagen wehrlos, wirkt das höhere Wesen mit seinem leisen „Ruf“. Wir müssen selbst eine Sehnsucht nach dem wahrhaft Edlen und Moralischen haben wollen. Die gegenwärtige Seele selbst muss sich entwickeln wollen – sonst wird diese Entwicklung niemals geschehen. Wenn die Seele nicht will, dann kann sie jenen leisen Ruf sehr leicht überhören und übertönen – und dieser wird dann früher oder später verstummen... Das also ist die eine Seite, der leise, sanfte Ruf des höheren, des wahren Wesens, das der Mensch noch nicht ist, aber doch schon ist, nur nicht hier auf Erden...

...und den Gegenmächten

Die andere Seite aber zieht die Seele fortwährend in denjenigen Bereich hinein, wo sie jenen Ruf möglichst nicht hört und wo sie ihm auch nicht folgen will. In einen Bereich des Nicht-Hörens und Nicht-Hören-Wollens also. Dort, wo die Seele möglichst blind und taub und auch unwillig wird, dorthin ziehen die anderen Kräfte die Seele. Das Ziehen wird nur deshalb nicht bemerkt, weil es in der Regel schon erfolgreich geschehen ist. Es wird eben der Ruf der anderen Seite gar nicht mehr gehört – und die niederziehenden Kräfte sind bereits seit langem erfolgreich gewesen.

Schicksalsschläge können dieses „Machtverhältnis“ nachhaltig erschüttern – aber auch nur dann, wenn die Seele es schafft, angesichts eines solchen Schlages doch wiederum in der richtigen Weise innerlich Fragen zu empfinden, eine Suchende zu werden. Aller Intellekt und alle Selbstsicherheit kann durch einen Schicksalsschlag aufgebrochen werden – und doch so schnell wieder zurückkehren, viel zu schnell... Oder aber die Seele gerät völlig aus dem Gleichgewicht, ohne einen rettenden, stärkenden Weg zu finden, der sie dem Geist näherbringt. Es gibt unendlich viele Abwege und nur wenige rettende Pfade.

Der gewöhnliche, heute in Unzahl verbreitete Zustand der Seele ist also derjenige der scheinbar nahezu absoluten Geistesferne. Der Geist mag noch so nahe sein, er wird von der Seele nicht erkannt und wird zurückgewiesen. Sie ist dann beherrscht vom Intellekt – und identifiziert sich mit diesem geradezu. Dann ist die Seele stolz auf diesen Intellekt, den sie als den ihren betrachtet; oder der Intellekt ist stolz auf sich – je nachdem, wie man es anschaut. Dieser Stolz und diese Identifikation führt aber unmittelbar zur absoluten Blindheit. Stolz ist die größtmögliche Subjektivität und Identifikation die größtmögliche Distanzlosigkeit. Der Intellekt wirft dies beides jenen Menschen vor, die nach dem Geist streben, doch das Grundphänomen ist, dass er selbst der Inbegriff der Blindheit ist – denn er kann sein eigenes Wesen nicht erkennen!

Die Widersachermächte, die auf dem Schauplatz der menschlichen Seele gegen den Menschen kämpfen – gegen jedes Streben der Seele nach dem Geist und nach ihrem eigenen höheren Wesen –, sind der Hochmut und die Seelenkälte. Hinter diesen wirksamen Realitäten stehen wirkliche Wesenheiten, deren Wirken in der Anthroposophie exakt beschrieben ist, doch sind ihre Namen in diesem Zusammenhang nicht relevant, denn der kalte, hochmütige Intellekt würde sich mit Wonne darauf stürzen, um alles wiederum lächerlich zu machen. Das Wichtige ist, dass wir die Phänomene selbst erkennen können: Hochmut und Seelenkälte...

Es handelt sich um polare Kräfte, denn der Hochmut selbst ist wiederum nicht kalt, aber er kennt und will nur sich, wendet sich mit Spott gegen alles, was er durch sein eigenes Wesen (den Hochmut) verkennt. Gerade weil die Seele, indem sie im Intellekt aufgeht – man könnte auch sagen: ertrinkt – beiden Kräften ausgesetzt ist, ist ihre Gefangenschaft so aussichtslos. Beide polaren Kräfte ergänzen sich so vollkommen, dass eine Rettung fast nicht möglich ist.

Die verwandelnde Kraft der Wärme

Der Intellekt vereint in sich in vollkommener Weise Hochmut und Seelenkälte. Er braucht keine einzige seelische Regung zu empfinden – und sein Hochmut ist grenzenlos. Der Hochmut aber wiederum macht erst recht kalt gegenüber der Umgebung, jedenfalls gegenüber allem, was er be- und ver-urteilen zu können glaubt, und das ist im Prinzip alles. Die Kälte wiederum macht immer hochmütiger, denn immer mehr nimmt man nur noch sich wahr, seine Gedanken, seine Urteile... Wenn man nun noch berücksichtigt, dass es hier um Wesen geht, die sich in ihrer Wirkung perfekt in die Hände spielen, kann (und sollte) einen das kalte Grausen überkommen...

Vorhin sagte ich, eine Rettung ist fast nicht möglich. Eine rettende Kraft aber gibt es – und das ist die Liebe. Die Liebe ist die Gegenkraft zum Intellekt, denn sie ist sowohl die Gegenkraft zur Seelenkälte als auch die Gegenkraft zum Hochmut. Liebe ist warm und ist nicht hochmütig. Wenn etwas eine Bresche in die absolute Herrschaft des Intellekts – und damit in die Versklavung des Seelenwesens – schlagen kann, so ist es diese Kraft: die Liebe-Wärme-Kraft.

Gemeint ist hier nicht die Gefühls-Liebe im gewöhnlichen Sinne, obwohl auch diese in demselben Sinne wirksam wird. Gemeint ist hier Wärme-Kraft als geistige Realität – auch im Denken. Dort, wo der ganze Mensch denkt – nicht nur der kalte Intellekt, sondern der ganze Mensch, was den fühlenden und den wollenden, auch moralisch wollenden Teil der Seele einschließt –, dort kann der Intellekt nicht bestehen. Er muss das Feld räumen, zumindest um entscheidende Schritte...

Wärme im Denken hat immer damit zu tun, dass – und ist nur möglich, wenn – die Seele schon begonnen hat zu suchen. Wenn die Seele eine suchende geworden ist, oder aber wenn sie mit einem Teil ihrer selbst noch nicht dem Intellekt verfallen ist, dann kann sie mit ihrem Wesen auch die Wärme verbinden. Und wenn diese Kraft auch in ihr Denken einfließt, verändert sich allmählich alles. An die Stelle des bloß logischen, kalten Denkens tritt ein Denken, das immer mehr Wahrheitsliebe in sich aufnimmt. Die Wahrhaftigkeit wird größer, das innere Fragen wird tiefer, der Ernst nimmt zu... Die Oberflächlichkeit nimmt ab, das Urteilen wird langsamer, das Denken wird selbstloser, immer mehr um wirkliche Objektivität bemüht, es wird vorsichtiger, suchender, tastender...

Wärme verwandelt das Denken. War es zuvor kalt, wird es nun zu einer Art Sehnsucht nach der Wahrheit, Liebe zur Wahrheit, Sehnsucht nach der Weisheit, Liebe zur Weisheit (Philosophia) – und schließlich, am Ende des Weges, immer mehr zur Sophia selbst. Dies alles aber steht schon in inniger Verbindung mit der Realität des Geistes. Was ist Wahrheit, was ist Weisheit anderes als eine Offenbarung des real Geistigen? Immer mehr macht sich die Seele bereit, das Geistige aufzunehmen, eine Art Kommunion zu erleben. Zunächst hat sie nur eine Sehnsucht danach – doch unbemerkt geht sie dem, wonach sie sich sehnt, entgegen, und wird zugleich auch immer würdiger, es zu empfangen...

Wer guten Willens ist, kann unmittelbar erleben und begreifen, was hier gesagt ist – er kann die Polarität zwischen dem kalten, hochmütigen Intellekt und einem in reiner Wahrheits-Geistes-Liebe sich entfaltenden Denken unmittelbar erfassen. Dies tut er dann aber bereits mit derselben Kraft, denn nur sie kann wahrhaft erkennen.

Der vereinnahmende Intellekt...

Der Intellekt kann alles verwirren – er kann einem jedes Wort aus der Hand schlagen und im Munde umdrehen. Selbst die Liebe kann der Intellekt vereinnahmen und behaupten, er als „aufklärerische Instanz“ hätte ja schon immer die Liebe zur Wahrheit gehabt und so weiter. Wir sehen, dass der bloße Verstand, die bloße Logik, alles beweisen kann – und zu jedem Beweis auch wiederum einen Gegenbeweis geben kann. Verstand und Logik allein können die Wahrheit nicht finden. Und der Intellekt leugnet ja sogar, dass es „die“ Wahrheit geben könne – denn damit müsste er den Geist anerkennen.

Doch der Verstand kann also die „Liebe“ für sich vereinnahmen und behaupten, gerade der „Ethos“ der Aufklärung würde es gebieten, alles Reden vom Geist endlich sein zu lassen, um sich der Wirklichkeit zuzuwenden. Frei würden die Menschen erst dann werden, wenn sie alles Unerkennbare und bloß Herbeigeträumte endlich fallen lassen würden, um sich dem zuzuwenden, was „die Aufklärung“ als Wirklichkeit zu verkünden hat. Aufklärung braucht weder Gott noch Geist, aber sie liebt die Menschen, die sie endlich von allen Zwängen und Wahnvorstellungen befreit.

Der Intellekt vermag so zu argumentieren – und er glaubt sich dabei natürlich und überzeugt mit solchen Argumentationen viele Menschen.

Dass der Intellekt sich selbst glaubt, braucht uns nicht weiter zu verwundern, denn er ist, wie wir oben schon sahen, der blinde Gläubige schlechthin. Vollkommen von sich überzeugt und vereinnahmt, glaubt er in jedem Moment nur sich selbst, ohne seine blinden Flecken je sehen zu können. Aber auch, dass er viele Menschen überzeugt, ist klar, denn dies ist leicht, wenn man die lebendige Verbindung mit dem Geistigen verloren hat. Dann hat der Intellekt mit seiner Argumentation teilweise sogar recht, dann ist der Geist nur noch ein „Glaube“, auf den man verzichten kann. Doch sollte man nicht auf den Geist verzichten, sondern auf den Glauben – und zum Erkennen durchbrechen!

Wenn man den Geist nicht verachtet (weil man an seine Nicht-Existenz glaubt), sondern sucht, wird man seine Offenbarungen in jedem Fall sehr bald erleben können. Zwischen der „Wahrheitsliebe“ des „aufklärerischen“ Intellekts und jener tief empfundenen Wahrheitsliebe der geist-suchenden Seele gibt es einen weltenweiten Unterschied. Erlebte Wahrheitsliebe aber ist bereits eine Erfahrung eines Geistigen – denn sowohl die real, als Realität gesuchte Wahrheit als auch das die Wahrheit suchende Wesen sind geistige Realitäten.

Sogar der aufklärerische Impuls ist seinem tiefsten Wesen nach nichts anderes – doch wird er allzuschnell seinerseits wiederum vom Intellekt vereinnahmt und dann blind gemacht: blind für sein eigenes Wesen und blind für die wahre Wirklichkeit. Was nützt alle „Aufklärung“, wenn Gott und wenn das Geistige existiert? Sie nützt dann nur etwas, um den Glauben zu beseitigen – das aber ist gut und schlecht zugleich. Gut, wenn es den Impuls gibt, vom Glauben zum Wissen vorzudringen, schlecht, wenn anstelle des Glaubens nur ein Nichts zurückbleibt, das immer weiter den Widersachermächten verfällt...

...und seine wirkliche Überwindung

Wenn wir uns aber fragen, wie wir den Intellekt wirklich überwinden können – nicht die Gedankenklarheit, sondern nur die Kälte und den Hochmut –, so bleibt nur eine Antwort. Wenn der Intellekt sogar fähig ist, die Liebe zu vereinnahmen und zu behaupten, er hätte die wirkliche Liebe, obwohl er sie nicht hat, so bleibt nur eine einzige Eigenschaft, die der Intellekt nicht vereinnahmen kann, die er wirklich nur verspotten kann: die Ehrfurcht.

Zugleich ist die Ehrfurcht das einzige sichere Tor zur wirklichen Liebe. Und dies hat einen ganz klar erkennbaren Grund. Selbst die Liebe kann noch sehr egoistisch sein und dann unheilvoll mit der Selbstliebe verknüpft sein. Wie sehr wird dieses Wort heute missbraucht! Wie sehr hält sich heute ein jeder die Liebe zugute und ist dennoch trotz aller Liebe sehr egoistisch... Ehrfurcht aber ist mit Egoismus nicht vereinbar. Dort, wo die Ehrfurcht lebendig wird, muss der Egoismus wirklich weichen, dort wird die Seele wirklich selbstlos...

Das wäre auch bei der wirklichen Liebe so, nur ist die Liebe gegenüber allen möglichen Illusionen ungleich anfälliger. Das liegt daran, dass wir alle so gerne „liebevolle Menschen“ sein wollen – zumindest dieses Selbstbild von uns pflegen wollen. Was man aber derart stark will, kann man sich auch durch unzählige Illusionen vorgaukeln, der Mensch ist nun einmal nicht objektiv, dafür müsste er gerade bereits selbstlos sein... Die Ehrfurcht dagegen ist zunächst etwas, was man heute überhaupt nicht mehr will. Wenn man sich dennoch um sie bemüht, ist es viel sicherer, dass dieser Wille auch wahrhaftig ist – und dass man sie dann auch wahrhaftig mehr und mehr erreicht...

Die Unterscheidung ist auch deshalb leichter, weil die Liebe wie erwähnt immer von der Selbstliebe unterschieden werden muss und gerade die Selbstliebe zunächst immer da ist, sogar immer stärker als die wirkliche Liebe zum Anderen. Die Ehrfurcht hat einen solchen Gegenpol nicht – es gibt eigentlich keine „Selbst-Ehrfurcht“. Man kann sich zwar auch einreden, man hätte Ehrfurcht vor irgendetwas, und sich diese dennoch bloß vorstellen, ohne sie real zu haben, doch von einer „Selbst-Ehrfurcht“ wird diese Frage jedenfalls nicht gestört.

Dies hängt damit zusammen, dass eine Widersachermacht gerade ausdrücklich die Selbstliebe einflößt – es ist dieselbe Kraft wie der Hochmut. Selbstliebe und selbstlose Liebe sind gerade Polaritäten. Die Ehrfurcht hat eine solche Polarität nicht. Sie führt am sichersten an beiden Widersachermächten vorbei – und dadurch auch am sichersten in die wahre Wärme-Liebe-Kraft hinein.

Und darum entscheidet sich die Menschheits-Zukunft und auch die Zukunft der Anthroposophie an dieser Eigenschaft der Ehrfurcht: Ohne sie werden wir auch die wirkliche Liebe nicht finden, erst recht aber nicht die wirkliche, existentielle Liebe zum Geist...

Gedankenklare Ehrfurcht

Ohne den Geist aber wird die Menschheit auch die Liebe immer mehr verlieren. Man kann sich darüber noch eine ganze Zeit lang hinwegtäuschen. Es wird sich aber immer mehr offenbaren, dass gerade die Eigenliebe immer dominierender werden wird, die wirkliche Liebe zum Anderen aber immer mehr abnehmen wird, auch überhaupt als Fähigkeit, als Vermögen. Die Menschheit wird verlernen, zu lieben, wenn sie den Geist nicht wiederfindet – und sie wird den Geist nicht wiederfinden, wenn sie die Ehrfurcht nicht wiederfindet.

Wir brauchen auch hier nur einmal sehr genau und aufmerksam versuchen, zu erleben. Alles, was wir wirklich mit einer großen Liebe zu lieben fähig sind, ist zumeist schon etwas, dem wir zugleich auch Ehrfurcht entgegenbringen – oder zu irgendeinem Zeitpunkt entgegengebracht haben. Denken wir an die erste, tief idealistische Liebe junger Menschen; denken wir an das Erlebnis gegenüber einem Säugling, einem kleinen Kind; denken wir an tiefe Erlebnisse in der Natur...

Oft täuscht man sich darüber hinweg, dass die Seele innerlich etwas von Ehrfurcht erlebt hat. Man muss dies gar nicht immer erkennen. Und doch – ist es nicht Ehrfurcht, wenn wir zum Beispiel sehen, wie aufrichtig kleine Kinder noch sind? Wie unschuldig oft? Vielleicht erleben wir nur so etwas wie ein aufrichtiges Staunen, vielleicht eine leise Wehmut oder irgendetwas Ähnliches. Doch all dies sind Übergänge zu der Stimmung der Ehrfurcht, und wenn es uns nur einmal bewusst gelänge, unseren eigenen Gefühlen auf den Grund zu gehen und ihren Ursprung zu empfinden – wir wären unmittelbar dabei, die Schwelle zur wirklichen, bewussten Empfindung der Ehrfurcht zu überschreiten...

Dann braucht es nur noch einen weiteren Schritt: diese Ehrfurcht selbst wiederum bewusst zu üben und zu vertiefen. Sobald wir dies aber tun würden, würden wir bemerken, wie sich dadurch unser ganzes Erleben in ungeahnter Weise vertiefen würde. Und wir würden zugleich bemerken, dass wir dadurch nichts von unserer Gedanken-, Erkenntnis- und Unterscheidungsklarheit verlieren würden, denn diese nehmen wir mit, aber in richtiger Weise...

Selbstverständlich braucht die Seele einen starken Mittelpunkt in sich. Sie muss das klare Denken üben – aber ohne ein solches könnte sie bereits auch keine wirkliche Liebe zur Wahrheit entfalten, käme der Wahrheit jedenfalls nicht näher. Wir sprechen hier also keinesfalls von einer Ehrfurcht, die nur äußere Stützen sucht, während sie innerlich keine hat – sondern wir sprechen von einer starken, wachen, gedankenklaren Seele, die auch das Wesen des Intellekts sehr gut kennt, die sich aber aus einer bewussten Entscheidung heraus mit all ihrer Gedankenklarheit auf den Weg begibt, die Fähigkeit der Ehrfurcht zu üben. Dann wird gerade diese Gedankenklarheit die Brücke und das Tor zum Geist.

Die Ehrfurcht wird die Seele die Wege führen, in denen sie sich ungeahnte Kräfte erringt – Kräfte, die die geistige Welt der Menschheit längst zugedacht hat und die ihr auch bitter nötig sind, um die künftigen Prüfungen durchmachen zu können.

Die Menschheit zwischen Abgrund und Fülle

Wir brauchen uns in der heutigen Welt nur umzusehen, um zu erkennen, wie ungeheuer groß die Gefahren sind, in die uns der Intellekt – Hochmut und Seelenkälte – bereits gebracht hat und immer noch weiter bringen wird. Und zugleich können wir empfinden, wie machtlos dieser Intellekt ist, auch wenn er sich noch so hochmütig gebärdet. Und mehr noch: Wir können vor allem erleben, wie leer dieser Intellekt ist, leer gerade durch seine Seelenkälte, die dem Menschenherzen und der Menschenseele nichts geben kann. Nur derjenige Teil der Seele hat etwas davon, der bereits Intellekt ist; alles übrige bleibt unberührt, denn der Intellekt selbst ist etwas, was keine wirkliche Rührung kennt – wie könnte er da das wirkliche Menschenwesen berühren?

Wir brauchen nur einmal zu lesen, wie Ansgar Martins über die Frage nach der Sexualkunde an Waldorfschulen herzieht – oder wie ein Helmut Zander oder Christian Clement über Rudolf Steiner urteilen. An alledem können wir tief und immer tiefer empfinden, wie das intellektuelle Denken nichts von dem begreift, was ein anderes Denken unmittelbar erfahren kann – ein Denken, das wirklich Liebe und auch Ehrfurcht in sich aufzunehmen vermochte. Doch nicht einmal das ist ausschlaggebend, dass das intellektuelle Denken nichts begreift. Was man vor allem empfinden muss, ist, wie arm das Leben dadurch wird. Dies kann man natürlich nur „vom anderen Ufer aus“ – von dort aus, wo man schon weiß, wie reich das Leben sein kann und ist, wenn man das bloß intellektuelle Denken hinter sich lassen kann – und zu einem viel tieferen Erkennen kommt.

Dann ist der Sex kein gewöhnliches Alltagsthema, aber auch kein Tabuthema, sondern man steht über diesen beiden falschen Möglichkeiten: Man weiß, was es heißt, zu idealisieren statt zu profanisieren – man weiß, dass man dann nicht mit Illusionen hantiert, sondern gerade in eine viel tiefere Wirklichkeit hineinkommt. Dann verkennt man auch Rudolf Steiner nicht als einen Menschen, der möglichst genauso viele Fehler und Schwächen hatte wie man selbst (oder sogar mehr), sondern man erkennt, wie weit dieser Mensch einem voraus war; was er alles erkannt hat, was er alles weitergeben konnte, was er für eine tiefe Liebe zu allen Menschen in sich trug und unendlich viel mehr. Dann erkennt man, was das eigentliche Wesen der Waldorfpädagogik ist, das eigentliche Wesen des Menschen, der wirkliche Gang der Bewusstseinsgeschichte der Menschheit und so vieles andere.

Wir haben die Wahl: entweder durch das Tor der Ehrfurcht zu gehen, um die wirkliche Wärme-Liebe-Kraft und damit die geistige Erkenntnis-Kraft zu finden – oder immer weiter dem Hochmut und der Kälte des Intellekts zu verfallen, dann aber voraussichtlich sogar dem Hochmut, dies nicht einmal zu durchschauen... Zu erkennen ist dieser Hochmut dann eigentlich nur noch an seinen Wirkungen: an der fortwährenden Lust, auf diejenigen herabzuschauen, die vom Geist sprechen. Unbewusst wirkt dann auch immer der Neid mit, denn man spürt trotz allem, was man nicht hat. Unter dem Spott lebt doch immer leise die Sehnsucht, denn auch die vom Intellekt durchtränkte Seele ist noch immer die Seele eines Menschen.

Noch... Die Frage ist, welchen Zuständen die Menschheit in Zukunft entgegengeht. Noch setzen wir die Seele fortwährend voraus. Heute ist die Seele zutiefst umkämpft. Es kann sein, dass sie in einer bereits relativ nahen Zukunft wirklich verlorengehen kann – dass es wirklich unmöglich werden kann, dass die tiefere Sehnsucht noch erwacht; dass sie nicht einmal mehr leise spricht. Dann könnte es sein, dass man nicht einmal mehr versteht, was jemand mit „Idealisieren“ meint. Heute kann man es noch verspotten – in naher Zukunft wird es vielleicht Menschen geben, die es nicht einmal im Ansatz mehr verstehen können, die dann auch nicht einmal mehr spotten können. Dann würde sich die Menschheit wirklich spalten – in diejenigen Menschen, die das wirklich Moralische kennen und auch suchen werden, und in diejenigen, die dem Intellekt vollständig verfallen sein werden.

Es geht heute längst nicht mehr nur um die Frage, ob man den Krieg wieder als Mittel der Politik in Erwägung zieht oder nicht. Es geht um die Art des Denkens, bis ins Kleinste hinein.