17.09.2014

Weltenkampf um die wichtigste Kompetenz des Menschen

Von der notwendigen Erkenntnis des Wesens des Intellekts.


Inhalt
Ein Wiener Philosoph demaskiert das Kompetenz-Dogma
Der Tod der Bildung – und der Philosophie
Der eigentliche Kampf, der bevorsteht


Ein Wiener Philosoph demaskiert das Kompetenz-Dogma

Der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann wird in wenigen Tagen, interessanterweise genau zu Michaeli, ein Buch veröffentlichen: „Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung.“ [o]. Darin wendet er sich scharf gegen die völlige Zerstörung der Bildung durch das neue „Kompetenz-Dogma“ und weist nach, das diejenige Ausrichtung und Zurichtung des Bildungssystems, die ursprünglich die optimale Selbstverwirklichung der Bildungs-Subjekte versprach, gerade immer mehr ein düsteres Gegenbild jeglicher Bildung verwirklicht. 

„Das Ziel von Bildungsprozessen ist nicht mehr eine wie auch immer definierte Bildung, sondern der umfassend kompetent gewordene Mensch [...].“


So schreibt Liessmann in einem vorgestern erschienenen Aufsatz in der Neuen Zürcher Zeitung. In diesem Aufsatz zeichnet er in groben Linien die Entwicklung des Kompetenz-Dogmas nach. Heinrich Roth prägte 1971 die Unterscheidung von Selbst-, Sach-, Methoden- und Sozialkompetenz. Erich Weinert schuf dann im Auftrag der ökonomisch geprägten OECD die Definition der Kompetenzen als:

„die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“.


Sehr klar wird hier, wie der tote, abstrakte Intellekt sich der Frage bemächtigt – und wie statt einer Entwicklung zu innerer Freiheit und einer Verwirklichung individueller Potentiale das Gegenteil ins zunächst unsichtbare Zentrum rückt: die Optimierung der menschlichen Fähigkeiten für deren Gebrauch ... durch wen oder was auch immer. Der Mensch entwickelt seine verborgenen Fähigkeiten nicht, um sein Wesen zu entfalten und sie in den Dienst frei und selbst gewählter Ziele zu stellen – sondern um sie nutzen zu können, während die Nutzung sehr leicht von der Außenwelt vorgegeben werden kann.

Und wir erfahren doch seit Jahren eine Welt, in der gerade dies immer schärfer geschieht? Wie lange tragen nicht schon Menschen ihre „Kompetenzen“ auf dem Arbeitsmarkt zu Markte und preisen sich mit all jenen Kompetenzen an, die eine völlige Verfügbarkeit sichern, angefangen mit der Flexibilität... Im Grunde brauchen wir längst die Kompetenz eines willigen Sklaventums, um in einer Welt zu bestehen, in der Jeder gegen Jeden ausgespielt werden kann. Denn das jahrzehntealte, sich immer mehr verschärfende Dogma der Moderne ist nun einmal die Konkurrenz – die Auslese der Besten, während alles andere nur Phrase ist.

Man kann nicht zwei Herren dienen. Entweder man propagiert die Konkurrenz – oder aber das Miteinander. Die heutige Politik sagt es oft noch nicht völlig offen, aber sie vermag nichts anderes, als der Konkurrenz willige, hörige Dienste zu leisten. Das „Soziale“ ist nur ein scheinheiliges, hilfloses Deckmäntelchen, um die Folgen dieses gnadenlosen Kampfes noch so lange wie möglich zu bemänteln. Lange wird dies nicht mehr möglich sein. Altersarmut, das Wegbrechen der Mittelschicht, die „Gentrifizierung“ ganzer Stadtteile, die Feudalisierung des alltäglichen Lebens – all das schreitet mit Riesenschritten voran.

Im Dienste dessen kann das neue Kompetenz-Dogma hervorragend verschleiern, dass es eigentlich um den Menschen gehen müsste, ja, was dieser Mensch eigentlich ist. Längst nicht mehr geht es im „Bildungswesen“ um Bildung, nicht mehr um ein humanistisches Bildungsideal seelisch-geistiger Vertiefung und Veredelung – sondern nur noch um die Optimierung handlungsorientiert definierter Fähigkeiten! Diese können völlig losgelöst von allen Inhalten in abstraktesten Worten formuliert werden.

So sollen zum Beispiel Kinder der fünften und sechsten Klasse nach dem österreichischen Modell unter anderem folgende Kompetenzen erwerben: „eigene Texte optimieren und dabei Schreibhaltung, Textsorte, Lesererwartungen, Verständlichkeit, Sprachrichtigkeit und Schreibrichtigkeit berücksichtigen.“ [o]. – So wird schon bei elfjährigen Kindern das Schreiben zu einer kalten, technischen Fertigkeit, die den genannten, vom toten Intellekt formulierten Anforderungen zu genügen hat. Mit eiserner Gewalt wird hier wunderbaren menschlichen Fähigkeiten, noch bevor sie sich überhaupt entwickeln können, alle seelische Wärme ausgetrieben...

Lehrer, die die ihnen anvertrauten Kinder trotz allem mit Wärme und Menschlichkeit erziehen, tun dies nicht mit, sondern gegen diese eisig-kalten Kompetenz-Definitionen!

Der Tod der Bildung – und der Philosophie

Im Vorwort seines Buches schreibt Liessmann, „warum Bildung nicht glücklich macht“:

Denn wie sollten wir jemanden als glücklich bezeichnen, der ständig aufgefordert wird, seine Skills zu schulen und Kompetenzen zu erwerben, um im Wettbewerb bestehen zu können, der alles, was ihn neugierig machen könnte, auf seine Verwertbarkeit überprüfen muss, der ständig hört, wie viel an Bildungsballast er abwerfen solle, um für das Neue gerüstet zu sein, der täglich spürt, dass die Entwicklung und Entfaltung seiner Möglichkeiten und Fähigkeiten nur dem Ziel der ökonomischen Rentabilität dienen, der sich also immer in dieser Weise als fremdbestimmt erfahren wird?


Liessmann verweist gleichsam nebenbei auf ein Buch von Kurt Flasch: „Kampfplätze der Philosophie: Große Kontroversen von Augustin bis Voltaire.“ [­o]. Er ist selbst Philosoph und sieht, wie heute das Kompetenzdogma durch die Formulierung leerer Kompetenz-Definitionen auch die Philosophie ad absurdum führt. Doch die Frage ist, ob selbst ernsthafte Philosophen die Frage in ihrem vollen Ernst sehen und erleiden.

Der größte Kampf ist heute wirklich derjenige um das Überleben von Philosophie überhaupt, um das Überleben des menschlichen Denkens – des menschlichen Denkens. Denn der Kampf tobt heute zwischen einer Macht, die das Denken dem ganzen Menschen vollständig entreißen will – und jenen Mächten, die dem Menschen helfen wollen, das Denken als ein menschliches zu bewahren und überhaupt erst zu entwickeln.

Niemand hat derart klar und eindeutig über Jahrzehnte hinweg auf diesen Kampf hingewiesen wie Rudolf Steiner – schon vor einhundert Jahren! Man muss ihn als ungeheuren Propheten ansehen, der klar geschaut hat, was sich heute immer noch mehr und noch mehr Bahn bricht. Dass er als ein solcher weitestblickender Vorausschauer (und Diagnostiker schon seiner Zeit) nicht anerkannt ist, beruht auf einer einzigen Voraussetzung: darauf, dass das Denken der Menschheit gerade von jenem Intellekt beherrscht wird, der jegliche tiefere Wirklichkeitserkenntnis radikal bekämpft.

Unter dem Deckmantel vermeintlicher „Aufgeklärtheit“ wird jegliche Esoterik abgewiesen. Damit aber verkennt man nicht nur, wieviel Esoterik es in der ganzen abendländischen Geistesgeschichte gegeben hat – und man denke hier ruhig an die höchsten Vertreter abendländischer Bildung, etwa an Goethe oder Novalis –; damit verkennt man vor allem auch, dass Esoterik nicht nur Unwissenschaftlichkeit bedeutet muss, sondern dass sie auch den Gipfel der Wissenschaftlichkeit bedeuten kann, nämlich die volle Durchdringung des menschlichen Erkenntnisprozesses selbst. Die tiefere Selbsterkenntnis des Menschen – ohne alle materialistische Dogmatik – ist gerade reinste Esoterik. Und von dieser Esoterik aus, die zugleich reinste Philosophie und reinste Wissenschaft ist, kann dann der Weg zu einer tieferen Welterkenntnis gehen.

Dem aber steht die unvorstellbar zwingende und lähmende Macht des Intellekts entgegen – eines Intellekts, der so hochmütig geworden ist, dass er keine Erkenntnisart außer der seinen anerkennt: das tote Analysieren, das abstrakte Definieren, das kalte Sezieren, das bloße Erkennen des toten Skeletts der Dinge. Eines Intellekts, der so hochmütig geworden ist, dass er sich als die Spitze von allem wähnt, obwohl er selbst längst erkennen könnte, dass er nur Zerstörung anrichtet, überall nur Tod und Zerstörung bringt. Was ist an dem Intellekt eigentlich noch menschlich? Nichts mehr – er ist die völlige Abwesenheit des Menschlichen. Er ist reine Kälte, Gefühllosigkeit, unbeteiligte „Erkenntnis“ des Toten. Dies offenbart sich bis in die Sprache des Intellekts, bis in die Handlungen, die aus diesem Intellekt hervorgehen.

Der eigentliche Kampf, der bevorsteht

Dass dies nicht in vollem Umfang erkannt wird, liegt nur daran, dass sich die Menschen, die einzelnen Menschenseelen, diesem Intellekt noch immer (und immer mehr) ohnmächtig und blind unterwerfen. Dass sie gar nicht mehr in der Lage sind, denken und empfinden zu können, dass es noch ganz andere Möglichkeiten des menschlichen Denkens geben könnte – eines Denkens, das wieder tief, stark und lebendig in das Weltgeschehen eintauchen könnte; eines Denkens das ganz und gar mit dem Menschenwesen verbunden wäre, nicht abgelöst und zu einem toten und tötenden Schein geworden.

Auf all dies hat Rudolf Steiner fundamental und tiefgreifend hingewiesen, lange bevor er dann im engeren Sinne der so umfassend abgelehnte Esoteriker und Geistes-Wissenschaftler geworden ist. Rudolf Steiner hat die wahre Esoterik des menschlichen Denkens enthüllt – und er hat das Wesen des vom Menschlichen abführenden Intellekts umfassend geschildert. Eine Philosophie, die ihre eigenen Quellen und Ursprünge ernst nimmt, hätte in den erkenntnisphilosophischen Grundwerken Rudolf Steiners ein ungeheures Geschenk in der Hand, um sich selbst zu einer wahrhaften Auferstehung aus den Klauen des Intellekts zu führen.

Was wäre demnach heute die wichtigste Kompetenz? Es wäre diejenige, zumindest eine erste, leise Ahnung entwickeln zu können, dass der tote Intellekt, der heute das ganze Weltgeschehen eisern im Griff hat, gerade etwas ist, was nichts mit dem Menschenwesen zu tun hat, sondern was das reale Menschenwesen auf immer von sich selbst entfernen will. Hinter dem Intellekt steht und im Intellekt wirkt eine Macht, die nicht will, dass der Mensch sein eigentliches Wesen und seine eigentlichen Fähigkeiten findet...

Die hinter dem Intellekt stehende Macht will nicht, dass der Mensch das real Geistige findet. Der „Geist“ ist für den Intellekt ein Horror, der verteufelt werden muss – mindestens so schlimm, wie es die Kirche mit der Gnosis tat. Dabei spricht man heute noch von Geisteskultur, Geistesleben, Geisteswissenschaft. Doch all dies muss tot sein, darf nur abstrakt verstanden werden, darf nur noch ein Wort sein. Der lebendige Geist, der Geist als Realität darf von der Menschenseele nicht gefunden werden. Das ist das alleinige, einzige Ziel derjenigen Macht, die hinter dem Intellekt steht. Denn nur dann kann der Mensch immer tiefer in die Selbst-Entfremdung gestoßen werden – in eine Entfremdung, wo dann immer mehr Jeder gegen Jeden kämpfen wird, weil die Dogmen immer toter werden und die unmenschlichen Motive immer mächtiger...

Der Kampf gegen Bologna, gegen die Ökonomisierung der Bildung, gegen die Ökonomisierung des gesamten Lebens, gegen Militarisierung und immer mehr zunehmende Unmenschlichkeit ist nicht durch einzelnes Aufbegehren und Kritisieren zu gewinnen. Kritik an PISA, an TTIP, CETA, NSA und so weiter kann allenfalls winzige Teilerfolge bringen – während die Entwicklung auf anderen Wegen nur um so stärker heranbranden wird. Solange nicht erkannt wird, was die machtvolle Wurzel all dieser Entwicklungen ist, wird die Menschheit ohnmächtig ihrer eigenen Vernichtung als Mensch-heit gegenüberstehen. Die Rettung liegt nicht im äußeren Widerstand. Sie liegt in der Erkenntnis, dass die Menschheit verloren sein wird, wenn der Intellekt immer weiter und immer stärker herrschen wird. Denn dieser wird immer stärker in der Weise wirken, wie es bereits jetzt alle Lebensbereiche offenbaren. Mit nur wenig Phantasie kann man sich Szenarien ausmalen, wie die Welt in wenigen Jahrzehnten aussehen wird, wenn dieser Impuls in dieser Weise weiter fortrollt...

Die Rettung kann nur in einer kraftvollen Entwicklung der eigentlich menschlichen Denkfähigkeit und Denk-Kraft liegen – und in der vollen Entlarvung des heute herrschenden Intellekts als einer völligen Abirrung dieser Fähigkeit in ein totes, abstraktes, wirklich nicht mehr mit dem Menschenwesen verbundenes Eigen„leben“. Nur durch Macht und Hochmut kann der Intellekt die Menschen weiter in seinem Bann halten. Aber erkannt kann werden, dass er etwas nicht Menschliches ist, das vom Menschen Besitz ergreifen, dem der Mensch sich unterwerfen kann.

Der Mensch selbst ist nicht tot, abstrakt, kalt und gefühllos – aber der Intellekt ist es. Er ist also nicht menschlich. Wenn dies erkannt wird, kann im Menschen die volle Sehnsucht erwachen, sich von diesem Intellekt wirklich zu befreien – denn wir alle stehen stark unter seiner Herrschaft, nicht nur jene Menschen, die ihn in übersteigertem Egoismus für immer weitere Macht- und Kapital-Vermehrung nutzen. Der Kampf geht nicht allein gegen diese Menschen (das reichste und mächtigste Prozent oder so etwas), sondern er geht gegen den Intellekt selbst. Wenn die Menschheit diesen wesentlichsten Kampf einmal erkennen würde, dann würde sie Wege zu einem wahrhaft menschlichen Denken finden können. Rudolf Steiner war dessen Wegbereiter.