04.10.2014

Mr. May oder das Flüstern der Ewigkeit

Ein zutiefst stiller Film, hinter dem das Ewige spürbar wird. | Trailer.

In erweiterter Form veröffentlicht in: Die Drei, 11/2014, S. 62-64. PDF. | Gekürzt veröffentlicht in: Das Goetheanum, 31.10.2014, S. 14. PDF.


„10 Minuten Standing Ovations bei der Weltpremiere in der Sala Grande in Venedig ... Ein Filmjuwel!“ | „Ein berührender Film, meisterhaft inszeniert ... Eddie Marsan ist herausragend.“

Es gibt Filme, nach denen man hinterher gemeinsam schweigen möchte, weil man spürt, dass alle Worte die Atmosphäre, die der Film gewoben hat und die ihn ausgemacht hat, vertreiben würden. Filme, von denen die Seele sich intensiv und tief berührt fühlt. „Mr. May“ ist ein solcher Film.

„Mr. May“ ist ein Film, in dem die äußere Handlung bis in die Mimik hinein auf ein Minimum reduziert ist und die genau dadurch geradezu meisterhaft eine innere Essenz sichtbar werden lässt – weil diese Essenz wirklich da ist.

Die Handlung ist mit wenigen Worten skizziert. Mr. May ist ein älterer Mann von etwa 50 Jahren, der sich in einer Londoner Behörde darum kümmert, Angehörige oder Bekannte von Verstorbenen zu finden, damit diese nicht in völliger Einsamkeit beigesetzt werden. Schließlich wird er aber entlassen, weil er zu langsam ist. Es verbleibt ihm nur noch ein letzter Auftrag, ein letzter Verstorbener...

Es gibt wohl kaum einen Film, der ruhiger und stiller ist als dieser. Aber diese Stille enthält eine Unendlichkeit. Mr. May ist ein Mensch, den man aus der Sicht der „modernen“ Welt nur als einen zutiefst langweiligen, öden Menschen bezeichnen kann. Er hat einen scheinbar sinnlosen und trostlosen Job, sein Arbeitsplatz ist ein trostloser enger Raum mit einem kleinen Tisch und vielen Akten. Wenn er nachmittags in seine trostlose Mietwohnung zurückkehrt, bereitet er sich ein einsames, trostloses Abendessen, stellt Brettchen und Messer auf den Zentimeter genau an immer den gleichen Platz... Wenn er über die Straße geht, schaut er jedesmal nach links und rechts, auch wenn völlig offensichtlich kein einziges Auto kommt. Ein Mann, der scheinbar in vollkommen festen Gewohnheiten gefangen ist.

Aber der Inhalt seines Lebens sind sozusagen andere Menschen – nicht einmal lebendige, sondern verstorbene Menschen. Zunächst scheint es so, als erfülle er nur pedantisch und gewissenhaft die Aufgabe, die er nun einmal hat. Ebenso haben früher Buchhalter in absoluter Gründlichkeit bis an ihr Lebensende gewissenhaft Zahlenreihen aufgezeichnet und kontrolliert. Lebende Fossile, die einer anderen Zeit anzugehören scheinen. Aber dies ist nur der äußere Eindruck. Allmählich wird hinter diesem Äußeren ein Inneres sichtbar. Die gewissenhafte Hingabe richtet sich bei Mr. May nicht auf tote Zahlen, sondern auf tote Menschen – und dass dies etwas vollkommen anderes ist, wird zu einer tiefen Empfindung...

Und nicht nur richtet sich diese Hingabe auf Menschen, sondern es ist umgekehrt auch eine wahre, eine menschliche Hingabe – weit mehr als nur pflichtbewusste Gewissenhaftigkeit. In den Wohnungen der einsam Verstorbenen sieht man Mr. May einige persönliche Dinge an sich nehmen, die dazu dienen können, Angehörige zu finden. Später aber sieht man, wie er von jedem Verstorbenen mit Hingabe ein Foto in ein Album einfügt, das er manchmal still betrachtet – und spätestens in diesem Moment wird spürbar, wie jeder dieser Verstorbenen, die er nie gekannt hat, ihm etwas bedeutet, noch nach Jahren. Er erinnert sich an sie, die er nur vom Foto her kennt, und von den wenigen Informationen, die er nach und nach herausfinden konnte. Für ihn sind es lebendige, wirkliche Menschen, auch als Verstorbene. Jeder stille Blick gibt ihnen ihre volle Würde. Dabei scheint Mr. Mays Mimik fast nicht zu existieren, doch er braucht gar keine verschiedenen Empfindungen zu zeigen – allein dadurch, dass man sieht, was er tut, sieht man, was innerlich in ihm lebt...

Und dies ist im Grunde ein Erleben des Übersinnlichen. Denn äußerlich ist sozusagen nichts sichtbar – nichts, außer dass ein Mensch alte Fotos betrachtet, dass er über die Straße geht, dass er mit fremden Menschen spricht. Man sieht scheinbar fast keine Gefühlsregungen – und doch ist das, was man sieht, etwas Unendliches. Denn man sieht die Hingabe. Diese aber ist kein Sinneseindruck mehr, das wird gerade bei Mr. May so tief berührend deutlich.

Auf seine stille, ihm selbst wohl kaum bewusste Art bringt er den (verstorbenen) Menschen mehr Hingabe und eigentlich Liebe entgegen, als es die ihn umgebenden Menschen untereinander tun. Seine leise, unaufdringliche Sorgfalt ist viel, viel menschlicher als alles auffällige Gehabe und laute Getöse des Alltags. Und gerade weil das Äußere so völlig verschwindet, so belanglos, ja öde zu sein scheint, wird das mögliche, daraus aufsteigende Erleben so intensiv. Das Verhalten von Mr. May ist auf natürliche, materialistische Weise nicht erklärbar – es ist sogar aus Sicht der „modernen Lebenseinstellung“ völlig sinnlos. Aber gerade aufgrund dieser bis auf die Spitze getriebenen Diskrepanz wird es eine fast unmittelbar greifbare Tatsache, dass der Mensch ein übersinnliches Wesen sein muss. Wenn man nicht alle äußeren und inneren Augen verschließt, sieht und erlebt man es.

Mr. May hat für sich eigentlich nichts, sein Leben ist scheinbar eine einzige graue Eintönigkeit – aber er empfindet es nicht so. Und so ist er in seinem Wesen eigentlich ganz Hingabe an Andere und an das, was er als seine Aufgabe ansieht und bis in die kleinste Tat auch mit seinem Sein erfüllt. Mr. May scheint selbst ganz unlebendig zu sein, und doch lebt er in jedem Moment ein stilles inneres Leben. Für sich selbst will er nichts – aber braucht er auch nichts. So wird dieses Leben im Grunde zu einer Art äußerlichem Bild für das Wesen der Liebe, die andererseits wirklich auch sichtbar wird, aber nur in den Taten, den Handlungen, im Sein und Wesen dieses unscheinbaren Mr. May.

Und diese übersinnliche Essenz wird dann auch sichtbar in den Begegnungen, die Mr. May hat – in den Wirkungen, die seine eigene Hingabe nach sich zieht und die ihrerseits eine Realität sind. Und doch „sieht“ auch hier wieder nur der, der sehen will und kann. Für Andere zeigt sich auch hier wiederum zunächst nur Unscheinbares oder ganz Gewöhnliches. Mr. Mays letzter „Auftrag“, William Stoke, scheint kein besonderer Mensch gewesen zu sein. Er scheint seine damalige Freundin und seine kleine Tochter im Stich gelassen zu haben, er war öfter im Gefängnis, hatte früher zu Armeezeiten einige gute Bekannte gehabt – mehr nicht. Der ehemalige Arbeitskollege, die altgewordene Freundin, die erwachsen gewordene Tochter wollen von ihm nichts mehr wissen – und schon gar nicht zu einer Beerdigung nach London fahren.

Und doch sind bei den ehemaligen Kumpeln auf einmal Erinnerungen an diese lange verstrichene Zeit da, an diesen Menschen – der doch nicht ganz so schlecht war, wie es zunächst schien. Still und unaufdringlich wird auch hier deutlich, dass auch William Stoke Seiten hatte, die ihn besonders machten, einzigartig, so wie jeder Mensch einzigartig ist... Und so verwandelt sich schließlich auch der Schmerz der verlassenen Frau, der Tochter, die ihren Vater kaum kennengelernt hat, in etwas anderes, in eine Art langsame Umkehr und Heilung. Dies geschieht dadurch, dass ein fremder Mensch, Mr. May, so viele Mühen auf sich genommen hat, um die Angehörigen überhaupt zu finden. Gerade dies ist das so tief Berührende – dass sich ein Mensch um den Toten und um die Lebenden kümmert, um das Band, das zwischen ihnen gewesen war oder vielleicht auch viel zu wenig gewesen war ... der dies überhaupt nicht tun müsste. Die unerklärliche stille Hingabe dieses unauffälligen Menschen rührt etwas in einem – rührt und weckt auch die eigene Liebe, etwas von der eigenen Essenz, der eigenen tiefen Menschlichkeit. Und die Menschen spüren, auch wenn es ihnen unbewusst bleibt: Es ist nie zu spät, den Schmerz zu überwinden und an seine Stelle immer wieder neu die Liebe zu setzen; sie spüren es nicht nur, es geschieht in ihnen...

Und dies ist die Essenz dieses wunderbaren Filmes: Die Liebe – die Liebe als real erlebbare Essenz, als real erlebbare, übersinnliche Erfahrung. Wenn an einem Film das übersinnliche Wesen des Menschen deutlich werden kann, dann ist es dieser Film. Gerade indem er, soweit dies einem Film (!) möglich ist, den Sinneseindruck eigentlich ganz zurückdrängt, öffnet er den Zugang zum Erleben dessen, was über alle bloß sinnlichen Eindrücke hinausgeht.

Am Ende bekommt der Film dann noch eine Wendung, die den Blick von der Hingabe des Mr. May auf seine eigene Tragik richtet, die ja in gewisser Weise dennoch besteht. Indem man (als Zuschauer) an seinem Leben Anteil nimmt, wünscht man auch ihm etwas von demjenigen, was er fortwährend für Andere tut, eine Erlösung aus der Einsamkeit, in die er jeden Abend zurückkehren muss. Und tatsächlich empfindet schließlich die Tochter des Verstorbenen eine Art tiefere Sympathie für Mr. May, und sie verabreden sich für ein Wiedersehen. Es wird deutlich, dass dadurch auch Mr. May aus seiner Gefühlseinsamkeit befreit wird – und es deutet sich an, dass hier eine zarte, vorsichtige Liebesbeziehung entstehen könnte. Dann aber, zurück in London, überquert Mr. May das erste Mal unvorsichtig eine Straße – und kommt durch einen Unfall ums Leben.

Der Film endet damit, dass nun Mr. May ohne einen einzigen Verwandten oder Freund zu Grabe getragen wird. Dann aber wird sichtbar, dass zeitgleich das Begräbnis von William Stoke stattfindet – und alle, alle sind sie gekommen, auch diejenigen, die dies zunächst überhaupt nicht in Betracht gezogen hatten. In ihnen allen hat die Begegnung mit Mr. May soviel an Erinnerungen und Seelenbewegungen ausgelöst, dass sie nun am Grabe stehen und Abschied nehmen. Die Tochter aber blickt am Ende fragend zu Mr. Mays Beerdigung hinüber, ohne zu wissen, dass es die seine ist – sie scheint etwas zu spüren, aber es kommt nicht zu klarem Bewusstsein. Die Menschen verlassen den Friedhof, und Mr. Mays Grab liegt einsam da. – Dann aber taucht wie aus einem Nebel allmählich eine Gestalt auf, die auf das Grab zugeht. Dann eine andere, noch eine, und schließlich immer mehr. Es sind die Verstorbenen, mit denen Mr. May sich in den zweiundzwanzig Jahren seiner Arbeit verbunden hat.

Es ist unwesentlich, dass diese Menschen genauso aussehen, wie sie auf den Fotos aussahen, die Mr. May so sorgsam in seinem Album bewahrt hat. Auch hier wird wieder sehr deutlich, dass dies im Grunde nur Bild ist – Bild für eine Wirklichkeit, die man nicht weiter sichtbar machen kann. Sie alle also, diese Verstorbenen, kommen nun nach und nach und umringen schließlich gemeinsam Mr. Mays Grab – und es sind viele. Ein zutiefst berührendes Schlussbild, mit dem dieser stille Film still endet...