17.11.2014

Die Ehrfurcht als Erkenntnisorgan

Elemente zur Erkenntnis des Intellekts und der Geistes-Wissenschaft


In diesem Aufsatz möchte ich für den Leser innerlich nachvollziehbar und selbst erlebbar machen, in welcher Weise die Ehrfurcht und, allgemeiner ausgedrückt, eine ganz bestimmte, reale innere Seelenstimmung, eine absolute – das heißt notwendige – Bedingung für höhere Geist-Erkenntnis und das erkennende Erleben einer wirklichen geistigen Welt (nicht nur ideell, sondern wesenhaft verstanden) ist.

Ich tue dies, indem ich unmittelbar einiges von dem anführe, was Rudolf Steiner in Bezug auf diese Frage sagte bzw. schrieb. Indem man seine Ausführungen hierzu mitdenkt; indem man wirklich nachvollzieht, was er sagt; indem man gleichsam innerlich „ausprobiert“ und tut, was er sagt, kommt man zu eigenen Erfahrungen. Man erfährt buchstäblich den Unterschied von zum Beispiel einem Seelenzustand ohne Ehrfurcht und mit Ehrfurcht, und so weiter. Dadurch bleiben die Dinge nicht einfach nur gesagt, das heißt behauptet, sondern der einzelne Mensch selbst kann mit seinem ganzen Seelenwesen das Gesagte prüfen und innerlich nach-vollziehen. Das allein kann für den Einzelnen die Wahrheit von etwas Gesagten erweisen: die unmittelbare eigene Erkenntnis, dass etwas „so ist“.

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In seinem Grundwerk „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ schreibt Rudolf Steiner:

Eine gewisse Grundstimmung der Seele muß den Anfang bilden. Der Geheimforscher nennt diese Grundstimmung den Pfad der Verehrung, der Devotion gegenüber der Wahrheit und Erkenntnis. Nur wer diese Grundstimmung hat, kann Geheimschüler werden.


Diese Sätze und auch dasjenige, was folgt, sind vielen Menschen, die sich mit Rudolf Steiner und der Anthroposophie beschäftigt haben, bekannt. Hier aber kommt es darauf an, in das, was damit ausgedrückt ist, wirklich einzutauchen. Dass etwas „bekannt“ ist, deutet zunächst nur auf das Gedächtnis, auf ein Wissen, dieses ist aber für das reale Leben der Seele ohne Bedeutung, es ist etwas „Totes“, hat mit dem Wesen der Seele nichts zu tun. Um dieses geht es aber hier.

Alles, was mit Geistesforschung und Geist-Erleben zu tun hat, erfordert das gegenwärtige Tun und Erleben der Seele, einen tatsächlichen, aktuell realen Einsatz ihrer Kräfte des Denkens, Fühlens und Wollens. Nur wenn in bestimmter Weise aktuell und aktiv gedacht wird, gefühlt wird, gewollt wird, erhebt sich die Seele in einen Bereich, in dem das Geistige für sie real erlebbar werden kann; macht sie sich fähig, seine Gegenwart zu erleben. Nur durch dieses volle innere Tätigsein öffnet sie gewissermaßen ihre Augen, bildet sie sich überhaupt erst die notwendigen Organe, um zu erkennen – um zu erkennen, was das Geistige ist und dass es ist.

Wenn wir uns darauf besinnen, was Verehrung ist; wenn wir dies als Seelen-Realität innerlich zu erwecken versuchen, dann können wir erleben: Es hat mit einem Lebendigmachen von Gefühls- und Willenskräften zu tun. Das Fühlen wird zur Verehrung, das Wollen nimmt teil, indem es Hingabe wird.

Was aber ist Verehrung nun? Wie kann man diese Färbung des Gefühls beschreiben? Worum geht es? Welche innere Bewegung vollzieht die Seele da? Rudolf Steiner schreibt, um darauf hinzudeuten, weiter:

Wer Erlebnisse auf diesem Gebiete hat, der weiß, welche Anlagen bei denen schon in der Kindheit zu bemerken sind, welche später Geheimschüler werden. Es gibt Kinder, die mit heiliger Scheu zu gewissen von ihnen verehrten Personen emporblicken. Sie haben eine Ehrfurcht vor ihnen, die ihnen im tiefsten Herzensgrunde verbietet, irgendeinen Gedanken aufkommen zu lassen von Kritik, von Opposition. Solche Kinder wachsen zu Jünglingen und Jungfrauen heran, denen es wohltut, wenn sie zu irgend etwas Verehrungsvollem aufsehen können. Aus den Reihen dieser Menschenkinder gehen viele Geheimschüler hervor.


Wenn wir diese Beschreibung innerlich „mitmachen“, kommen wir auch selbst in die Stimmung der Ehrfurcht – und dann wissen wir, welche Stimmung dies ist, denn wir fühlen sie selbst.

Und auch dieses „Mitmachen“, dieses Nach- und Mitvollziehen von etwas Gesagtem, Beschriebenem, hat mit Ehrfurcht und Hingabe zu tun. Denn es hat damit zu tun, dass der Eigen-Wille schweigt, dass er sich etwas hingibt und etwas nach- und mittut, ohne etwas anderes zu wollen. Und es hat damit zu tun, dass das Urteil schweigt, dass man nicht urteilt, sondern innerlich nachvollzieht – im Denken, im Fühlen und im Wollen. Auch dafür braucht man Ehrfurcht, denn man braucht den vollen Einsatz der Seele. Das ist mehr als „Ausprobieren“, es ist auch mehr als bloße Hingabe. Natürlich kann man es auf dieser Ebene belassen: Natürlich kann man es auch bloß ausprobieren. Und die Hingabe (ohne Erfurcht) ist nur eine Steigerung dieses Ausprobierens.

Aber natürlich gibt es Übergänge. Wenn die Hingabe stärker und tiefer wird, ist es nicht anders möglich, als dass diesen Kräften des Willens auch jene des Gefühls entsprechen, dass auch sie mitsprechen und erweckt werden – und dass also zur Hingabe auch die Ehrfurcht hinzutritt. Dies geschieht natürlich nur, wenn man auch dies will. Es geschieht manchmal selbst dann nicht – so etwas wie Ehrfurcht muss man nicht nur wollen, man muss auch fähig sein, sie zu erwecken. Die Seele muss Ehrfurcht auch fühlen können. Wenn sie es nicht (aktuell) kann, nützt alles Wollen und auch Wissen nichts.

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Kehren wir zu den obigen Absätzen zurück, so sind wir also, wenn wir sie innerlich mitmachen, selbst in der Stimmung der Ehrfurcht. Natürlich kann man auch dazu kommen, sie nicht mitzumachen, sondern über sie zu urteilen. Vielleicht erwacht durch diese Sätze innerlich wie von selbst eine Antipathie, ein Hindernis, sie überhaupt nachvollziehen zu können. Vielleicht hat man eine „natürliche“, seit früher Kindheit und Jugend erworbene Abwehr gegen jede Ehrfurcht – dann wird es natürlich sehr schwer bis unmöglich, diese Stimmung in sich zu einer Wirklichkeit zu machen.

Diese Abwehr ist natürlich verständlich, denn auf einer anderen Seite steht das Freiheitsstreben, das Unabhängigkeitsstreben, das Sich-Befreien von jeglicher Fremdbestimmung – der eigenen Person, der Seelenkräfte. Oft genug hat man es vielleicht erlebt, dass von einem „Respekt“ und so weiter gefordert wurde, dass man aber „auf Befehl“ solche Gefühle (denn es geht ja nicht nur um Verhaltensweisen) weder haben konnte noch wollte, dass man sie bestimmten – oder auch allen – Menschen gegenüber überhaupt nicht haben wollte. In jedem Fall aber sind das Freiheitsstreben und das Selbstständig-sein-Wollen oder auch Sich-schon-selbstständig-Fühlen und ähnliche Empfindungen und Willensimpulse ein natürliches Hindernis für die so ganz anders gerichtete Stimmung der Ehrfurcht.

Für denjenigen, der zu einer Erkenntnis des Geistes kommen will, ist die Frage dann, wie er in ein anderes Verhältnis zu der soeben beschriebenen Abneigung kommen kann. Denn es ist klar, dass eine solche Abneigung, wenn sie wie beschrieben etwas Erworbenes geworden ist, etwas, was sich eben entwickelt hat, in dieser Hinsicht ein Hindernis ist – etwas, was einen gerade unfrei macht. Die Unfreiheit besteht darin, dass man sich nun von dieser Abneigung gegen alles, was mit Ehrfurcht oder ähnlichem zu tun hat, nicht mehr befreien kann. Es hat dann also die Abneigung gegen jegliche Unfreiheit dazu geführt, dass diese Abneigung selbst einen schließlich unfrei gemacht hat. Man ist nicht mehr frei, aus Freiheit seine Freiheit „aufzugeben“, um aus freiem Willen die Stimmung der Ehrfurcht in seiner Seele zu erwecken... Man kann vielleicht noch begreifen und nachvollziehen, dass man seine Freiheit damit gar nicht aufgeben würde, aber man ist nicht mehr fähig dazu. Man spürt: Man hat gar nicht mehr die Freiheit, Ehrfurcht zu empfinden...

Vor diesem Hintergrund ist die Frage nach der Stimmung der Ehrfurcht also ein eminentes Freiheitsproblem. Hat man die Freiheit, diese Stimmung in der Seele zu erwecken und lebendig zu machen, oder hat man sie nicht?

Allzuoft werden die obigen Worte Rudolf Steiners eben in der anderen Weise gelesen – und wird auf sie so reagiert wie oben beschrieben: Man weiß aus früherer, aber leidvoller Erfahrung heraus, was Ehrfurcht ist, und will damit nichts zu tun haben. Und dann wird eben nur vermutet oder hineingedeutet, dass es hier um den Verlust von Freiheit geht; dass man es hier mit einer spirituellen Strömung oder einem Buch zu tun hat, das der Freiheit widerspricht; das eine Abhängigkeit schaffen will; das Dinge fordert, denen man zu gehorchen hat, und so weiter. In diese Richtung geht zum Beispiel dasjenige, was Helmut Zander über dieses Buch „Wie erlangt man...?“ und damit auch über Rudolf Steiner schreibt.

Worauf es aber ankommt, ist die Tatsache, dass die Stimmung der Ehrfurcht, von der hier gesprochen ist, für die höhere Erkenntnis nur dann irgendeinen Wert hat – und nur dann zu jener hinführen kann –, wenn sie aus voller Freiheit realisiert werden kann. Denn auch nur dann kann sie immer mehr jene Tiefe und Intensität erreichen und mit der Freiheit des Ich einhergehen, auf die beide es ankommt.

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Ehrfurcht steht sehr wohl in vollem Gegensatz zur „Opposition“ und „Kritik“. Aber sie macht nicht willenlos, sondern führt zur Ausbildung eines höheren Erkenntnissinnes, wenn sie mit der vollen Freiheit einhergeht. Auf diese Tatsache macht Rudolf Steiner aufmerksam, und er schreibt weiter:

Hast du einmal vor der Türe eines verehrten Mannes gestanden und hast du bei diesem deinem ersten Besuche eine heilige Scheu empfunden, auf die Klinke zu drücken, um in das Zimmer zu treten, das für dich ein „Heiligtum“ ist, so hat sich in dir ein Gefühl geäußert, das der Keim sein kann für deine spätere Geheimschülerschaft. Es ist ein Glück für jeden heranwachsenden Menschen, solche Gefühle als Anlagen in sich zu tragen. Man glaube nur ja nicht, daß solche Anlagen den Keim zur Unterwürfigkeit und Sklaverei bilden. Es wird später die erst kindliche Verehrung gegenüber Menschen zur Verehrung gegenüber Wahrheit und Erkenntnis. Die Erfahrung lehrt, daß diejenigen Menschen auch am besten verstehen, das Haupt frei zu tragen, die verehren gelernt haben da, wo Verehrung am Platze ist. Und am Platze ist sie überall da, wo sie aus den Tiefen des Herzens entspringt.


Das ist genau der Punkt: Aus den Tiefen des Herzens. Denn in diesen Tiefen lebt dann auch die Freiheit. Nichts ist gefordert, sondern das Herz selbst ist es, aus dem die Ehrfurcht hervorströmt. Dadurch wird sie eine wirkliche Gabe der Seele, ein Vermögen, eine Fähigkeit... Dadurch kann sie mit der Freiheit gar nicht in Widerspruch stehen. Natürlich gibt es Menschen, deren Seele ein Bedürfnis nach Abhängigkeit und nach dem Aufblicken zu einem „Guru“ und so weiter entwickelt. Aber dies hat nichts mit dem Gefühl der Ehrfurcht und der Fähigkeit zu diesem Gefühl als solchem zu tun. Dies ist der entscheidende Erkenntnisschritt, der hier gemacht werden muss: dass Ehrfurcht und Freiheit für sich selbst nicht in einem Gegensatz-Verhältnis stehen. Gerade der Freie vermag es, Ehrfurcht überall da zu empfinden, wo sie berechtigt ist. Er weiß, dass er seine Freiheit damit nicht verliert, sondern dass er nur etwas gewinnt, dass sich weitere Wege eröffnen, die hinführen zu etwas, was ohne die Ehrfurcht nie gefunden werden kann...

Armselig ist diejenige Seele, die kaum noch oder gar nicht mehr irgendeine Ehrfurcht zu empfinden vermag. Denn sie ist wirklich eine Gefangene ihrer eigenen Hindernisse. Es gibt nur einen wirklichen Gegensatz zur Ehrfurcht, und dieser ist nicht die Freiheit, sondern der Hochmut. Dieser ist es, der jegliches Gefühl der Ehrfurcht völlig unmöglich macht. Das muss man innerlich beobachten, man kann es in innerlichem Nachvollzug wirklich als unmittelbare, eigene Erkenntnis haben. Man versucht, die Stimmung der Ehrfurcht zu erwecken. Man stößt an Hindernisse. Was ist dieses Hindernis? Worin genau besteht es? Es besteht, wenn man es richtig erfasst, immer mehr oder weniger in dem Seelenempfinden (oder Standpunkt): dieses steht nicht „über“ mir, ist nicht „weiter“ als ich, und so weiter. Oder auch: Nichts steht über mir. Oder auch: Niemand ist weiter als jemand anders. In diesen und ähnlichen Gedanken, Gefühlen, Willensäußerungen macht sich das Hindernis gegen ein Erwachen der Ehrfurcht geltend. Und hinter einem solchen Denken, Fühlen, Wollen steht der Hochmut, der die Demut und damit auch die Ehrfurcht nicht kennen will, nicht haben will...

Es kann außer oder neben dem Hochmut natürlich auch einfach eine Art „Trockenheit“ der Seele sein, eine Unfähigkeit, die mittlerweile eingetreten ist oder (noch) besteht. Wer sollte die Ehrfurcht so ohne Weiteres erwecken können, wenn er es zuvor nie getan hat oder sie nie kennengelernt hat? Auch davon spricht Rudolf Steiner: dass es ein Glück ist, wenn man sie in jungen Jahren kennengelernt hat. Dass es ein Glück ist, wenn man zum Beispiel einen Lehrer hatte, zu dem man aufblicken konnte – konnte, weil man es selbst vermochte, und auch weil es ein Mensch war, bei dem dieses Aufblicken wirklich auch berechtigt war. Natürlich macht es letztlich keinen Unterschied, ob dieses Aufblicken vielleicht doch nicht so ganz berechtigt war, denn für das Kind, das diese Empfindung hat, ist die Ehrfurcht eine Realität – und nur auf das Vorhanden(-gewesen-)sein dieser Stimmung kommt es für das weitere Seelenleben letztlich an. Nicht darauf, wem dieses Aufblicken einst gegolten hat, sondern dass es als Fähigkeit in der Seele lebt oder wieder zu finden ist. Und in welcher Stärke und in welche Tiefen hinein es weiter entwickelt werden kann und wird...

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Gehen wir weiter mit mit Rudolf Steiner:

Wenn wir nicht das tiefgründige Gefühl in uns entwickeln, daß es etwas Höheres gibt, als wir sind, werden wir auch nicht in uns die Kraft finden, uns zu einem Höheren hinaufzuentwickeln. Der Eingeweihte hat sich nur dadurch die Kraft errungen, sein Haupt zu den Höhen der Erkenntnis zu erheben, daß er sein Herz in die Tiefen der Ehrfurcht, der Devotion geführt hat. Höhe des Geistes kann nur erklommen werden, wenn durch das Tor der Demut geschritten wird. Ein rechtes Wissen kannst du nur erlangen, wenn du gelernt hast, dieses Wissen zu achten. Der Mensch hat gewiß das Recht, sein Auge dem Lichte entgegenzuhalten; aber er muß dieses Recht erwerben.


Im Mitgehen mit diesen Sätzen kann jeder die Fähigkeit der eigenen Seele prüfen – am unmittelbaren Erleben. Deutlich ist, dass Ehrfurcht, Devotion, innig mit Demut zu tun hat. In welcher Weise sind wir heute noch dazu fähig? Oft ist es so, dass wir weder von dieser Empfindung der Devotion etwas wissen wollen, noch uns von irgendjemandem „belehren“ lassen wollen. Auch dies hängt natürlich eng miteinander zusammen.

Vielleicht wollen wir uns von Rudolf Steiner nur nicht belehren lassen. Vielleicht wissen wir schon, was Devotion ist, und wollen uns nur nicht all diese Sätze anhören, die Rudolf Steiner (oder jemand anders) schreibt, so als sei er ein spiritueller Lehrer und als wüssten wir nicht, was Devotion ist und sie erst mühsam lernen müssten – während er es aber schon weiß, und so weiter. Auch in dieser Hinsicht also können hier unzählige Hindernisse liegen.

Es sind aber auch dies eigentlich wiederum nur verschiedenste Färbungen ein und desselben Hindernisses. Beobachten wir uns und unsere Seele wirklich genau genug! Wie sehr ist dieses Urteil „Belehren“ unser eigenes? Wie sehr fehlt uns in diesem Urteil einfach noch die volle Hingabe – die volle Hingabe rein an das, was wirklich dasteht, an den Gedankeninhalt, an die hinter den Worten stehenden seelisch-geistigen Tatsachen? Und selbst wenn wir schon in Vollkommenheit wissen sollten, was Ehrfurcht oder Devotion ist – was hindert uns, ganz und gar mit den Worten und dem, was sie bedeuten und bezeichnen, mitzugehen? Gerade der, der die Devotion und die Demut kennt, müsste dies doch können? Er müsste ganz und gar absehen können, von allem, was er schon kennt (oder zu kennen meint), auch von allem Urteil über den Autor, und sich mit allem, was er hat, an den eigentlichen, reinen Inhalt der Gedanken hingeben können, der sich entfaltet.

Dann wird man schon merken, dass – wenn man von den eigenen Projektionen und Widerständen absieht – bei Rudolf Steiner und in seinen obigen Worten wirklich nichts von Hochmut oder Belehren zu finden ist. Er tut nichts weiter, als Gesetze, Bedingungen, Voraussetzungen für die höhere Erkenntnis zu beschreiben. Widerstände, die in der eigenen Seele aufsteigen, sind zugleich Widerstände gegen diese Gesetze und Bedingungen selbst. Dies zu erkennen, ist dann schon ein entscheidender weiterer Schritt in der inneren Entwicklung zu höheren Erkenntnissen und in der Entwicklung der Fähigkeit der eigenen Seele zur Demut, zur Hingabe, zur Entfaltung eines reinen Fühlens und Wollens...

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Gehen wir wieder weiter mit – nun bis zum Ende des hier gegebenen Ausschnittes dieses Buches. Und versuchen wir aber auch jetzt, langsam und wirklich mitzugehen, das heißt, jeden Satz wirklich mitzuvollziehen, seine Wahrheit zu erleben, und nicht nur mehr oder weniger kenntnis-nehmend (und sei es intensiver als gewöhnlich) zu lesen:

Im geistigen Leben gibt es ebenso Gesetze wie im materiellen. [...] Wer in seinen Anlagen die devotionellen Gefühle hat, oder wer das Glück hat, sie durch eine entsprechende Erziehung eingepflanzt zu erhalten, der bringt vieles mit, wenn er im späteren Leben den Zugang zu höheren Erkenntnissen sucht. Wer eine solche Vorbereitung nicht mitbringt, dem erwachsen schon auf der ersten Stufe des Erkenntnispfades Schwierigkeiten, wenn er nicht durch Selbsterziehung die devotionelle Stimmung energisch in sich zu erzeugen unternimmt. In unserer Zeit ist es ganz besonders wichtig, daß auf diesen Punkt die volle Aufmerksamkeit gelenkt wird. Unsere Zivilisation neigt mehr zur Kritik, zum Richten, zum Aburteilen und wenig zur Devotion, zur hingebungsvollen Verehrung. Unsere Kinder schon kritisieren viel mehr, als sie hingebungsvoll verehren. Aber jede Kritik, jedes richtende Urteil vertreiben ebensosehr die Kräfte der Seele zur höheren Erkenntnis, wie jede hingebungsvolle Ehrfurcht sie entwickelt. Damit soll gar nichts gegen unsere Zivilisation gesagt sein. Es handelt sich hier gar nicht darum, Kritik an dieser unserer Zivilisation zu üben. Gerade der Kritik, dem selbstbewußten. menschlichen Urteil, dem „Prüfet alles und das Beste behaltet“, verdanken wir die Größe unserer Kultur. Nimmermehr hätte der Mensch die Wissenschaft, die Industrie, den Verkehr, die Rechtsverhältnisse unserer Zeit erlangt, wenn er nicht überall Kritik geübt, überall den Maßstab seines Urteils angelegt hätte. Aber was wir dadurch an äußerer Kultur gewonnen haben, mußten wir mit einer entsprechenden Einbuße an höherer Erkenntnis, an spirituellem Leben bezahlen. Betont muß werden, daß es sich beim höheren Wissen nicht um Verehrung von Menschen, sondern um eine solche gegenüber Wahrheit und Erkenntnis handelt.

Nur das eine muß freilich sich jeder klarmachen, daß derjenige, der ganz in der veräußerlichten Zivilisation unserer Tage darinnen steckt, es sehr schwer hat, zur Erkenntnis der höheren Welten vorzudringen. Er kann es nur, wenn er energisch an sich arbeitet. In einer Zeit, in der die Verhältnisse des materiellen Lebens einfache waren, war auch geistiger Aufschwung leichter zu erreichen. Das Verehrungswürdige, das Heiligzuhaltende hob sich mehr von den übrigen Weltverhältnissen ab. Die Ideale werden in einem kritischen Zeitalter herabgezogen. Andere Gefühle treten an die Stelle der Verehrung, der Ehrfurcht, der Anbetung und Bewunderung. Unser Zeitalter drängt diese Gefühle immer mehr zurück, so daß sie durch das alltägliche Leben dem Menschen nur noch in sehr geringem Grade zugeführt werden. Wer höhere Erkenntnis sucht, muß sie in sich erzeugen. Er muß sie selbst seiner Seele einflößen. Das kann man nicht durch Studium. Das kann man nur durch das Leben. Wer Geheimschüler werden will, muß sich daher energisch zur devotionellen Stimmung erziehen. Er muß überall in seiner Umgebung, in seinen Erlebnissen dasjenige aufsuchen, was ihm Bewunderung und Ehrerbietung abzwingen kann. Begegne ich einem Menschen und tadle ich seine Schwächen, so raube ich mir höhere Erkenntniskraft; suche ich liebevoll mich in seine Vorzüge zu vertiefen, so sammle ich solche Kraft. Der Geheimjünger muß fortwährend darauf bedacht sein, diese Anleitung zu befolgen. Erfahrene Geheimforscher wissen, was sie für eine Kraft dem Umstande verdanken, daß sie immer wieder allen Dingen gegenüber auf das Gute sehen und mit dem richtenden Urteile zurückhalten. Aber dies darf nicht eine äußerliche Lebensregel bleiben. Sondern es muß von dem Innersten unsrer Seele Besitz ergreifen. Der Mensch hat es in seiner Hand, sich selbst zu vervollkommnen, sich mit der Zeit ganz zu verwandeln. Aber es muß sich diese Umwandlung in seinem Innersten, in seinem Gedankenleben vollziehen. Es genügt nicht, daß ich äußerlich in meinem Verhalten Achtung gegenüber einem Wesen zeige. Ich muß diese Achtung in meinen Gedanken haben. Damit muß der Geheimschüler beginnen, daß er die Devotion in sein Gedankenleben aufnimmt. Er muß auf die Gedanken der Unehrerbietung, der abfälligen Kritik in seinem Bewußtsein achten. Und er muß geradezu suchen, in sich Gedanken der Devotion zu pflegen.

[...] Wer in diesen Dingen Erfahrung hat, der weiß, daß in jedem solchen Augenblicke Kräfte in dem Menschen erweckt werden, die sonst schlummernd bleiben. Es werden dadurch dem Menschen die geistigen Augen geöffnet.

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Wenn man lange genug die Stimmung der Ehrfurcht wirklich erlebt hat, weil man die eigene Seele wirklich zu einer Stätte der Ehrfurcht gemacht hat, zur Wirklichkeit der Ehrfurcht verwandelt hat, dann weiß man durch und durch aus eigener Erfahrung, warum diese Ehrfurcht eine Erkenntniskraft ist.

Warum weiß man dies? Weil man selbst erfahren hat, dass in diesem Zustand die Seele viel stärker und lebendiger und umfassender aktiv ist als in dem gewöhnlichen Empfinden. Zugleich ist es eine Erfahrung geworden, dass nicht nur die Seele selbst in diesen Momenten lebendiger und in vollerem Umfang lebendig ist, sondern dass auch das, dem sie sich zuwendet, lebendiger und in vollerem Umfang da ist, erlebt wird, an sie herantritt, aufgenommen werden kann, ja dass erst in diesem Zustand eine Vereinigung der Seele mit etwas eintreten kann, was vorher gar nicht da ist – so wie auch die Seele vorher in gewisser Weise eigentlich gar nicht „da“ ist.

Es liegt hier ein Übergang von Seele und Ich. Das Ich als innerster Kern der Seele und zugleich etwas, was noch über die Seele hinausgeht, ist diejenige „Instanz“, die Empfindungen in der Seele willentlich und bewusst hervorrufen kann. Je bewusster und willenskräftiger dies geschieht, desto stärker ist auch das Ich selbst anwesend. In gewisser Weise bringt es sich dadurch selbst ins Dasein, in ein höheres, aktuelleres Dasein, als es die gewöhnliche Ich-Empfindung ist. Gerade dies wiederum ist auch der Garant für die Freiheit in der Stimmung auch noch der tiefsten Ehrfurcht. Denn wann immer diese Stimmung bewusst in der Seele erweckt wird, ist es das Ich, das dieses tut – aus freiem Willen und aus eigener Kraft (und sei es, dass noch höhere Wesen mithelfen und dazu beitragen, dass dies überhaupt möglich ist...).

Für das Ich kann es nun wie erwähnt zu einer unmittelbaren Erfahrung und sicheren Erkenntnis werden, dass durch die Stimmung der Ehrfurcht Bereiche der Wirklichkeit betreten werden, die zuvor verschlossen geblieben waren – und sich auch wiederum verschließen, wenn die Ehrfurcht wieder verlorengeht oder man bewusst aufhört, sie innerlich lebendig zu erwecken. Wenn das Seelensein und die ganze Atmosphäre des Seelenlebens nicht mehr Erfurcht ist, dann ist auch diejenige Wirklichkeit, der sich die Seele zugewandt hatte, nicht mehr die Wirklichkeit, die sie bis dahin war.

Derjenigen Seelenstimmung und demjenigen Seelenzustand, der nicht die Ehrfurcht umfasst, bleibt also jene Wirklichkeit, die mit dieser Ehrfurcht erlebt werden kann, verschlossen.

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Wenn wir jetzt einmal auf diejenige Tätigkeit der Seele – und in dem Maße, wie es mit willenskräftiger Bewusstheit durchdrungen ist, des Ich – blicken, die im Denken besteht und ohne Ehrfurcht geschieht, müssen wir sagen: Das rein intellektuelle Denken ist nicht fähig, bestimmte, höhere (bzw. tiefere) Bereiche der Wirklichkeit zu erfassen. Es erfasst eine Oberfläche, hinter die es aber nicht zu dringen vermag. So, wie es selbst oberflächlich bleibt – nämlich an der Oberfläche der Seele, ohne tieferes Engagement und ohne ein Erwecken ihrer tieferen und höheren „Bereiche“ –, so bleibt es auch im Erkennen an der Oberfläche dessen, was erkannt wird oder werden soll. Und auf das Erkennen selbst bezogen muss man sagen: so verwirklicht die Seele auch das Erkennen nur oberflächlich.

Die Intelligenz des Menschen, verstanden als umfassende Fähigkeit zu erkennen, bedeutet und ist viel mehr als nur der Intellekt, verstanden als Entfaltung der Denkfähigkeit ohne alle tieferen Möglichkeiten, also ohne zum Beispiel die Stimmung der Ehrfurcht, aber auch ohne wirkliche Willenskraft. Der abstrakte Intellekt ist also gewissermaßen die „seichte“, „bequeme“ Variante der menschlichen Intelligenz – dasjenige, was in völliger Vergessenheit des eigentlichen Wunders der Intelligenz als wahrhaft göttlicher Erkenntnisfähigkeit, an der (abstrakten) Oberfläche der Dinge bleibt.

Das heißt nicht, dass die Bewegungen dieses so verstandenen Intellekts nicht sehr wohl sehr komplex und verwickelt sein können. Abstrakt bedeutet lateinisch „abgezogen“. Oberflächlich bedeutet in dieser Hinsicht nicht unbedingt „simpel“. Sehr, sehr komplex kann dasjenige sein, was der Intellekt tut und womit er sich beschäftigt – und doch kann es mit der eigentlichen Realität und Wirklichkeit nichts mehr zu tun haben. Das Problem ist, dass dieser Intellekt seine eigene Welt gar nicht mehr beurteilen kann. Er beurteilt zwar alles andere, all seine Gegenstände, die er in Beziehungen setzt, die er in teilweise hoher Komplexität, Akkuratheit und Differenziertheit beurteilt und analysiert und so weiter – aber welchen Bereich der Wirklichkeit er damit umfasst und ob überhaupt noch einen und wie sich dieser zu einer möglichen vollen Wirklichkeit verhält, das entzieht sich jeglicher Beurteilungsfähigkeit durch diesen Intellekt.

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Damit hat dann der Hochmut zu tun, der mit diesem so verstandenen Intellekt verbunden ist. Es ist wie gesagt nicht die menschliche Intelligenz, es ist dasjenige, was aus dieser geworden ist und worauf sich diese reduziert hat. Und es ist selbst in dieser reduzierten Form nicht der Intellekt selbst, der hochmütig ist, denn auch der so beschränkte und reduzierte abstrakte Intellekt könnte noch sehr bescheiden und im besten Sinne einfach bei dem bleiben, was er beurteilen kann, ohne sich darüber hinaus auszudehnen. Der Hochmut ist etwas, was hinzutritt, womit der abstrakte Intellekt sich innig und stark verbinden kann, womit er aber nicht eins und identisch ist.

Wenn der abstrakte Intellekt sich aber mit diesem Hochmut verbindet, dann überschreitet er seinen Bereich in der Art, dass er als gewissermaßen eine Grundprämisse zu dem Urteil kommt, dass er alles beurteilen könne und dass es außer dem, was er beurteilen kann oder worüber er ein Urteil fällt, keinerlei Wirklichkeit gibt. Dasjenige, was er beurteilt, ist die (volle) Wirklichkeit – und seine Urteile sind immer wahr. Das ist der Hochmut des Intellekts, darin besteht dieser Hochmut. Er besteht in dem Urteil, die Wirklichkeit zu erkennen – und darin, dass alles, was ihm und seinen Behauptungen und Urteilen widerspricht, Irrtum und Illusion sei.

Das Problem ist, dass natürlich dieser Intellekt (bzw. der mit ihm verbundene Hochmut, der den Intellekt verführt) die Sache immer umdrehen kann, um zu sagen: Auch das ist Irrtum. Du behauptest, ich sei in Illusionen verfangen. Du spricht von einer „höheren Wirklichkeit“, die ich niemals erkennen könne. Aber da bist du gerade in Illusionen verfangen. Du kannst deine metaphysischen Träume und Mythen nicht ablegen, um zu erkennen, dass allein ich die volle Wirklichkeit erkenne, während alles, was du darüberhinaus zu erkennen meinst, nichts als Schäume und Schein sind, die du der Wirklichkeit als romantische, vormoderne oder nenne sie, wie du willst, Unwirklichkeiten hinzufügst. Erkenne doch, dass ich, der Intellekt, das volle, wahre, einzige Erkenntnisorgan des Menschen bin, dass ich die Wirklichkeit erkenne!

Den Intellekt, insofern er mit diesem Hochmut so sehr verbunden ist, wird man also nicht überzeugen können. Man wird daher auch einen anderen Menschen, solange er so argumentiert, denkt und erlebt, nicht überzeugen können. Das Einzige, was man zunächst tun kann, ist, sich selbst zu überzeugen – nämlich davon zu überzeugen, dass tatsächlich eine ganz andere Wirklichkeit betreten wird, sobald man diesen abstrakten Intellekt erweitert und andere Seelenfähigkeiten und Seelentätigkeiten und -kräfte hinzunimmt. Diese Kräfte erweitern den Intellekt in Richtung der umfassenden menschlichen Intelligenz (in Richtung, es ist ein Weg...), und zugleich befreien sie ihn von dem, was ihn gefangen hält, nämlich von dem ihn so durchdringenden und durchtränkenden Hochmut.

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Aber selbst wenn man sich mit Blick auf diesen abstrakten Intellekt schon beschränkt und versucht, ihn ohne Hochmut zu handhaben, und sagt: „Ich weiß, dass ich mit meinem Ansatz nur in bestimmter Weise schaue und dass es daneben andere Ansätze gibt, die anderes zutage fördern, und dass keiner davon besser oder schlechter ist“ – selbst dann besteht eine große Gefahr. Auch diese Gefahr kann man eigentlich nur selbst erkennen und erleben, wenn man innerlich nachvollzieht, wenn man wirklich voll bewusst auf das blickt, was man mit dem abstrakten Intellekt tut – und was man mit anderen Taten und Stimmungen der Seele tut. Man muss wirklich die verschiedenen Seinszustände der Seele kennen, um beurteilen zu können, wo die Fallstricke, Irrtumsmöglichkeiten und so weiter liegen.

Denn der abstrakte Intellekt kann sehr wohl sagen: Ich kenne meine Beschränktheit und weiß, dass es andere Zugänge gibt, die nicht weniger wert sind – und doch kann es noch immer so sein, dass er unbewusst auf all diese anderen Zugänge herabblickt. Auf Zugänge, die wesentlich mehr als er erkennen, was er jedoch nur als „anderes“ bezeichnet. Auf Zugänge, denen er es vorwerfen würde, wenn sie von einem „mehr“ sprechen, weil er zwar vielleicht bereit ist, „andere Zugänge“ anzuerkennen, aber ein „Mehr“ dürfen sie dann eben doch nicht erkennen, sie dürfen nur ein „anderes“ erkennen. Wenn er schon in die Lage gekommen ist, dieses Andere nicht mehr leugnen zu können, so will er zumindest durchsetzen, dass „alles“ gleichberechtigt ist. Nicht nur, dass alles „seine Berechtigung“ hat, sondern dass kein Zugang einem anderen überlegen ist oder weiter führt oder in höhere Bereiche der Wirklichkeit führt. Es dürfen einfach nur „andere“ sein – „andere“, auf die der abstrakte Intellekt dann doch immer noch leise herablächeln kann, da er weiterhin der Meinung bleibt, dass sein Zugang in der ganzen heutigen Welt doch immer und auch weiterhin der wichtigere und wichtigste bleiben wird.

Was selbst in dieser Form der Intellekt nicht durchschaut, ist eben, dass er an einer Oberfläche verbleibt. Die „Oberfläche“ ist ja schon eine Wertung, zumindest für den Intellekt, und dies will er nicht zulassen. Für ihn ist es keine „Oberfläche“, für ihn sind alles einfach unterschiedliche Aspekte.

Hier kommen wir zu einem wichtigen Punkt. Für den Intellekt sind zum Beispiel der textkritische Zugang zum Evangelium und der religiöse Zugang gleichberechtigt. Er gesteht auch dem religiösen Zugang Berechtigung zu – aber er bleibt bei dem unreligiösen Zugang und fordert auch für diesen volle Berechtigung. Aber erleben wir ganz genau, was hier geschieht: Er gesteht auch dem religiösen Zugang Berechtigung zu. Ist es nicht so? Liegt in der heutigen Welt nicht genau das vor? Wer befindet sich hier auf einem „Rückzugsgefecht“? Der Intellekt oder der religiöse Zugang?

Der Intellekt (ich spreche hier immer vereinfachend, es geht natürlich um Kräfte, die hier im Intellekt wirken, wenn dies geschieht) – der Intellekt also weiß natürlich, dass er das religiöse Erleben nicht ganz verneinen kann, und vielleicht ist er auch vernünftig genug, dies gar nicht zu wollen, aber was tut er dann? Er gesteht ihm auch seine „Berechtigung“ zu... Das heißt, es bleibt der Intellekt, der das Urteil fällt und beansprucht, was er als berechtigt anerkennt oder nicht. Es bleibt eine gewisse „Gnade“ des Intellekts – auch wenn er weiß, dass er sich ohne diese Gnade natürlich, momentan noch, etwas zu angreifbar macht. Der religiöse Zugang muss also anerkannt werden – damit man ihn, den Intellekt, und seinen Zugang, weiter schalten und walten und dominieren lässt.

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Es ist nicht so einfach, ganz klar und unmittelbar auf den Kern des Problems hinzuweisen. Er muss erlebt werden, aber es ist nicht leicht, den entscheidenden Punkt dieses Erlebens wirklich zu erreichen.

Der entscheidende Punkt ist, dass der hier gemeinte Intellekt wirklich die Oberfläche der menschlichen Intelligenz ist. Er selbst ist nicht bereit, dies anzuerkennen oder sich zu verwandeln. Dies kann nur der ganze Mensch wollen. Nur das wirkliche Ich kann zu dem Entschluss kommen, diesen Intellekt zu mehr zu machen, als das, was er ist. Wieder zu dem zu erweitern, was die menschliche Intelligenz einmal war – unter Erhalt der durch den Intellekt erreichten Bewusstheit und Gedankenklarheit –, oder anders gesagt: zu dem zu erweitern, was die menschliche Intelligenz werden soll und kann.

Dies bedeutet nicht, dem einzelnen Menschen zu sagen: Lege diesen abstrakten Intellekt ab, erweitere ihn, mache dich auf den Weg. Es bedeutet lediglich, für diese Erkenntnis einzutreten, dass es so ist, und diese Erkenntnis so verständlich wie möglich zu machen – damit möglichst viele Menschen zu dieser Erkenntnis kommen können und die Sehnsucht zu empfinden beginnen, sich auf den Weg dieser Verwandlung des Intellekts zu machen. Dies ist nur möglich, wenn das Wesen des abstrakten Intellekts und des in ihm wirksamen Hochmutes immer mehr erlebt wird. Wenn dadurch auch immer mehr erlebt wird, wie das Weiterwirken dieses abstrakten Intellekts die Menschheit immer mehr in den Abgrund führen würde. Wenn erlebt wird, was der Intellekt in unserer heutigen Zeit bereits an Zerstörungskraft freigesetzt hat und jeden Tag wieder freisetzt.

Auch hier geht es nicht um ein bloßes Wissen, denn das haben wir selbstverständlich alle, mehr oder weniger. Darum geht es nicht, sondern um das wirkliche, reale, innere Erleben. Nicht darum also, dass wir wissen, was für eine ungeheure Katastrophe das Bienensterben zum Beispiel ist. Nicht darum, dass wir wissen, wie sehr in der Ukraine-Krise auf allen Seiten gelogen wird und wie überall verschleierte Motive mitspielen, oft genug von den Beteiligten selbst überhaupt nicht mehr durchschaut. Und so könnte man Tausende Dinge nennen. Wir alle wissen um diese Dinge – aber worum es geht, ist, Kräfte der Seele zu erwecken, die heute noch schlafen, die aber erweckt werden müssen, wenn die Menschheit eine Zukunft haben soll.

Wir wissen um das Bienensterben, aber wir können es nicht fühlen. Wir können die dahinter stehende Katastrophe nicht fühlen. Vielleicht noch weniger als die Ehrfurcht kennen wir das wirkliche Entsetzen... Wir wissen um das tägliche, allgegenwärtige Lügen und Verfälschen, aber wir sind nicht mehr (oder noch nicht) fähig, uns über die allwaltende Unwahrhaftigkeit und die allfehlende Liebe zur vollen Wahrheit und Wahrhaftigkeit zu entsetzen und tief darunter zu leiden. – Und dies ist auch sehr verständlich, denn erst das volle Erringen einer tiefen Wahrheitsliebe würde dazu führen, dass man unter den heutigen Lügen und dem Mangel an tiefer Wahrheitsliebe auch tief leiden würde. Und wir alle haben dies noch nicht, oder immer noch ganz ungenügend.

Aber auch hieran sieht man wieder, wie durch neue Entfaltung der seelischen Kräfte neue Erkenntnis-Fähigkeiten entstehen: In dem Maße, in dem sich die Wahrheitsliebe der Seele vertiefen würde – bis dahin, dass sie ganz Wahrheitsliebe wird, dass sie Unwahrheit gar nicht mehr ertragen kann, ohne zutiefst und real darunter zu leiden –, erst in dem Maße würde die ganze Unwahrhaftigkeit der heutigen Wirklichkeit gesehen, erlebt und erkannt werden. Immer und immer wieder sind Seelenkräfte, die errungen werden, zugleich auch Erkenntniskräfte.

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Das bedeutet aber: Erst wenn der Intellekt erweitert wird und allmählich immer mehr andere Seelenkräfte hinzuentwickelt werden, die diesen Intellekt wirklich verwandeln, und erst in dem Maße, in dem dies geschieht, kann überhaupt real und voll-wirklich erkannt werden, was dieser bloße Intellekt bewirkt. Vorher hat man eben im Wesentlichen nur diesen Intellekt und nimmt das, worauf hier als Katastrophe gedeutet ist, eben gar nicht ganz und gar ernst, weil man es gar nicht ganz und gar sehen kann. Und dann geht es eben immer weiter und sagt der Intellekt auch weiterhin: Das Andere ist auch berechtigt, schließen wir Frieden, du hast deinen Zugang, ich habe meinen...

Der entscheidende Punkt liegt in der Aussage: Der Intellekt in seiner gegenwärtigen, abstrakten Form ist das eigentlich Katastrophale. Wenn er nicht verwandelt wird, hat die Menschheit keine Zukunft.

Solange dies nicht erkannt wird, wird der Streit ewig weitergehen. Dem Intellekt wird dies vorgeworfen werden, er wird den Vorwurf zurückweisen... Das Problem ist, dass ein Wissenschaftler, der zum Beispiel „Textkritik“ und „kritische Textgenese“ betreibt, natürlich nicht dafür verantwortlich ist, dass in der Ukrainekrise auf allen Seiten gelogen und subtil eskaliert wird; auch nicht dafür, dass die Landwirtschaft zu einer Chemieindustrie geworden ist; auch nicht dafür, dass die Altenpflege und auch alle anderen Lebensbereiche zunehmend auf das Kommerzielle reduziert werden. Der Intellekt des Wissenschaftlers wirkt also im äußeren Leben nicht zerstörerisch. Und doch ist es nichts anderes als der Intellekt, der im äußeren Leben zerstörerisch wirkt.

Der Wissenschaftler benutzt den gleichen Intellekt, der unsere heutige Welt zu dem gemacht hat, was sie täglich offenbart. Und was er nicht sieht, ist, dass er auch den Text, an den er herangeht, in der gleichen zerstörerischen Weise behandelt.

Natürlich fördert er – der Wissenschaftler und der abstrakte Intellekt – andere „Ergebnisse“ zutage als zum Beispiel die Verehrung oder die religiöse „Herangehensweise“. Und natürlich sind auch diese Ergebnisse interessant oder vielleicht sogar wertvoll. Aber ebenso wird ja auch unsere Natur nicht von einem Tag auf den anderen zerstört. Ebenso vernichtet ja auch nicht der Landwirt (der längst kein Bauer mehr ist) jetzt und hier die Lebensgrundlagen. Ebenso ist ja auch das von ihm bewirtschaftete Getreide wertvoll, denn ohne Brot würden wir wohl verhungern. Und doch geschieht all dies täglich unter einem zerstörerischen Vorzeichen. Die Medizin scheint zu heilen, aber sie heilt auf zerstörerische Weise. Sie kuriert Symptome. Sie setzt mechanistisch an. Sie nimmt die Nebenwirkungen in Kauf. Sie hat Apparate, sie hat Wissen, sie hat Handlungsleitlinien. Doch im Positiven und in dem, was überall geschieht, waltet das Negative, das Zerstörende, dasjenige, was an das Wesen der Dinge nicht herankommt, sondern sich gegen dieses Wesen wendet...

Darum geht es, heute, im Großen. Rudolf Steiner sagte manchmal: Es ist heute nicht die Zeit für kleine Entscheidungen. Was er meinte, ist, dass es längst um große Weichenstellungen geht, und dass, wenn diese nicht geschehen und immer wieder nicht geschehen, die Menschheit an den Abgrund kommt – und zwar schon längst, schon gestern, schon vor hundert Jahren, also immer weiter...

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Für Rudolf Steiner bestand der Ernst, um den es geht, und auch in der Verwandlung des Intellekts geht, bereits da, wo zum Beispiel mit der Wahrheit umgegangen wird. Dem beliebigen Aufstellen von Thesen und Hypothesen, die zwar mit wissenschaftlichem Interesse verbunden sind, die aber keine existenzielle Färbung haben; die nach besten Standards der Diskursgemeinschaft zur Verfügung gestellt und bei Bedarf wieder revidiert werden und so weiter – stellte er „den vollen Wahrheitsernst“ gegenüber.

Und auch hier muss man wiederum erleben, dass damit auf einen grundstürzenden Unterschied gedeutet ist. Es bedeutet nicht, dass nicht auch der Wissenschaftler nach bestem Wissen und Gewissen Hypothesen formuliert, forscht und Ergebnisse entwickelt – es bedeutet etwas wesentlich Existentielleres. Es bedeutet ein allmähliches, wirkliches Sich-Verbinden mit der Wahrheit. Mit etwas, dessen Existenz die heutige Wissenschaft gerade ablehnt! Es gibt nicht „die“ Wahrheit, sagt man – und macht sich damit gerade immun, allmählich immer mehr empfinden zu können, dass es die Wahrheit eben doch gibt, und dass es hier um eine Sphäre geht, der man sich erkenntnismäßig nur dann allmählich annähern kann, wenn man in seiner Seele zuerst jenen immer tieferen, realeren Wahrheitsernst wirklich erringt.

Der Wissenschaftler will diese Seele außen vor lassen, ohne zu sehen, dass gerade in dieser Seele Kräfte entwickelt werden müssen, um dasjenige zu erkennen, dessen Existenz er ablehnt – oder allenfalls als Hypothese oder berechtigten Glauben anderer anerkennt...

Wir sollen bis zu dem Worte, das wir sprechen, uns verantwortlich fühlen, sollen uns vor allen Dingen verantwortlich dafür fühlen, daß ein jegliches Wort, das wir sagen, im allerernstesten Sinne so weit von uns geprüft wird, daß wir es als Wahrheit vertreten können. Denn nicht wahre Aussagen, auch wenn sie sozusagen aus gutem Willen hervorkommen, sind etwas, was innerhalb einer okkulten Bewegung zerstörend wirkt. Darüber darf keine Täuschung sein, sondern darüber muß völligste Klarheit herrschen. Nicht Absichten sind es, auf die es ankommt, denn die nimmt der Mensch oftmals sehr leicht, sondern objektive Wahrheit ist es, auf die es ankommt. Und zu den ersten Pflichten eines esoterischen Schülers gehört es, daß er sich nicht bloß dazu verpflichtet fühlt, dasjenige zu sagen, wovon er glaubt, daß es wahr ist, sondern daß er sich verpflichtet fühlt, zu prüfen, ob dasjenige, was er sagt, wirklich objektive Wahrheit ist.


Es ist ein grundlegender Unterschied, ob sich der abstrakte Intellekt der Wahrheit verpflichtet fühlt und nach bestem Wissen und Wollen vorgeht – oder ob man tief moralisch ein Verhältnis zur Wahrheit sucht und sich den allergrößten Ernst auferlegt, nicht einmal Hypothesen aufstellt, weil man noch nicht weiß, ob sie wahr sind oder nicht. Hingedeutet ist hier auf eine viel, viel existentiellere, bewusstere, willenskräftigere und tatsächlich ehrfürchtigere Beziehung zur Wahrheit.

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In der etablierten Wissenschaft des abstrakten Intellekts kennt man das Ideal der Objektivität und versucht gerade, es durch Ausschaltung des Persönlichen, Subjektiven, damit aber auch des Seelischen zu erreichen. Das ist in gewisser Hinsicht bereits viel. Rudolf Steiner hat in manchen Vorträgen beschrieben, wie die Entwicklung der modernen Naturwissenschaft wirklich eine Schule für das Denken und seine Reinheit gewesen ist. Heute aber sind wir an dem Punkt, wo diese Entwicklung längst überschritten ist.

Das Denken hat die durch die Naturwissenschaft zu gewinnende Reinheit gewonnen, aber die übrigen Seelenkräfte sind in gewisser Weise nicht durch diese Schulung hindurchgegangen. Jetzt schlagen sie sozusagen durch, indem sich einerseits der Hochmut mit dem Intellekt verbindet und dieser sehr oft als Alleinherrscher an die Spitze gestellt wird, gleichsam nach dem Motto: „Es gibt keine Wahrheit, aber wenn sie überhaupt objektiv erkennbar sein soll, dann durch mich, den Intellekt.“ Andererseits ist das Subjektive, das der Forscher über Jahrhunderte gerade aus seiner Forschung herausgehalten hat, nach wie vor da, sozusagen im übrigen Menschen – und schleicht sich von dort immer wieder hinein: sei es in den subjektiven, beschränkten Hypothesen und Deutungen, sei es sogar in unbewussten oder ganz bewussten Antipathien, auf deren Grundlage dann die Hypothesen und Deutungen zusätzlich in bestimmte Richtungen gebracht werden.

Die Jahrhunderte der Entwicklung der „objektiven“ Naturwissenschaft haben dazu geführt, dass das Denken tatsächlich immer objektiver geworden ist, aber der ganze (übrige) Mensch ist natürlich trotzdem Subjekt geblieben. Das wissenschaftliche Denken ist also sehr objektiv geworden, damit aber auch sehr abstrakt – es stellt sich die Objekte seiner Forschung gegenüber, es verbindet sich nicht mehr mit ihnen, es untersucht und analysiert abstrakt, kalt und ob-jektiv (lateinisch „gegenüber-geworfen“). Im Untergrund des übrigen Menschen lodern aber sozusagen nach wie vor die subjektiven Gefühle, Meinungen, Vorurteile und so weiter. Wenn sie unterdrückt und weiterhin außerhalb gelassen werden können, bleibt die Forschung objektiv und kalt – wenn sie hinaufschießen und sich einschleichen, wird sie wiederum subjektiv... Das ist sozusagen die Alternative der modernen Wissenschaft: Kälte und Abstraktheit – oder doch wieder ein Rückfall in die Subjektivität.

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Rudolf Steiner wies auf einen völlig anderen Weg hin. Er wies darauf hin, dass aus dem Wissenschaftsideal und überhaupt aus der menschlichen Tätigkeit das Moralische nicht ausgeschaltet werden dürfe, sondern dass es voll hineingenommen werden müsse. Der ganze Mensch soll ein Erkennender werden, nicht nur der abstrakte Intellekt, aus dem subjektives Fühlen und eigener Wille soweit wie möglich ausgeschaltet worden sind. Der ganze Mensch soll aber seine Moralität entwickeln. Dem dienen gerade die sogenannten „Nebenübungen“, die eine unerlässliche Grundlage für jede innere Entwicklung sind, also eigentlich Hauptübungen, aber Nebenübungen neben dem eigentlichen meditativen Leben – das dann in eine Geistes-Forschung übergehen kann.

Nicht außen vor lassen soll der Mensch sein Fühlen und Wollen, aber rein machen soll er es – läutern im Sinne des achtfachen Pfades, den schon Buddha gegeben hat. Von diesem reinen Fühlen und Wollen droht der Objektivität keine Gefahr. Warum nicht? Weil die Läuterung gerade darin besteht, die Seelenkräfte von der Subjektivität zu reinigen und zu heilen. Und weil diese Läuterung nur möglich ist, wenn das Ich als läuternde Instanz in Erscheinung tritt. Wenn das Ich den Willen zu einer inneren Entwicklung fasst, dann vollzieht sich gleichzeitig die Grundlegung für eine wirkliche Geistes-Wissenschaft, denn von da an muss das Ich vor allem lernen, Selbsterkenntnis zu üben. Das bedeutet aber, dass das Ich immer mehr die Fähigkeit erringt, die eigene Seele und sich selbst zu objektivieren – zu beobachten, sich selbst gegenüberzustellen. Das Ich also, das Subjekt selbst, wird zugleich die Objektivität selbst.

Wer soll Objektivität üben, wenn nicht der Wissenschaftler? Wann aber könnte die Objektivität je größer sein, als wenn der innerste Wesenskern des Menschen, das Ich selbst, ganz und gar bewusst das Prinzip dieser Objektivität ergreift und sogar auf sich selbst anzuwenden lernt? Dann ist diese Objektivität nicht mehr nur eine Methode, dann wird sie ihrem Wesen nach absolut durchschaut. Und dann weiß das Ich aus innerster, unmittelbarster Erfahrung, wann es objektiv ist und wann nicht – und weiß dies sogar in Bezug auf die eigenen Seelenkräfte. Selbst diese können sich von da an nicht mehr unbewusst geltend machen. Selbsterkenntnis ist der einzige Garant für volle Objektivität. Seelenerkenntnis und eigene Seelenforschung ist der einzige Garant für volle Wissenschaftlichkeit...

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Kehren wir noch einmal zurück zum Wahrheitsernst und zur Wahrheitsliebe. Wahrheitsliebe ist mehr als, sagen wir, selbst Liebe zur Objektivität, zur objektiven Wissenschaftsmethode. Man könnte sich vorstellen, dass ein Wissenschaftler eine starke Liebe zur Objektivität hätte und sich mit aller Kraft bemüht, objektiv zu sein. Wird er durch diese Liebe subjektiv? Nein, die Liebe ist zwar ein Gefühl und auch ein Wille – aber sie richtet sich nun gerade auf die Objektivität. Die Liebe gilt dann gerade der Methode – die eben auch gebietet, alle Liebe zum Forschungsgegenstand außen vor zu lassen. Seine Methode kann der Wissenschaftler also durchaus lieben, ohne subjektiv zu werden – sie ist gerade ein Schutz vor der Subjektivität.

Dennoch kann die Liebe zur wissenschaftlichen Methode nie so stark sein, wie es eine Liebe zur Wahrheit selbst sein könnte. Denn die erstere bleibt doch immer nur die Liebe zu etwas Abstraktem, einer bloßen Methode – und bedeutet zugleich, dass der Mensch sich doch immer wieder verleugnen muss, gerade um der Objektivität willen. Immer wieder muss sich der Mensch auf das bloße, abstrakte Denken reduzieren, will er objektiv bleiben. Wenn er die objektive Wissenschaftsmethode liebt, bedeutet das, dass er es lieben muss, sein Fühlen und Wollen schweigen zu lassen.

Hieran kann deutlich werden, dass die Liebe zur Wahrheit, von der Rudolf Steiner spricht, etwas wesentlich Stärkeres sein kann (und auch soll), als es selbst eine Liebe zur rationalen Wissenschaftsmethode je sein könnte – wobei die meisten Wissenschaftler sicher nicht sagen würden, dass sie ihre Methode geradezu lieben, denn ihre ganze übrige Tätigkeit besteht ja darin, ohne Gefühl vorzugehen. Diejenigen Wissenschaftler, die dieses Gefühl in Bezug auf die Methode doch wieder haben und aufrichtig und mit vollem Herzen (!) sagen können, dass sie das Wissenschaftsideal lieben, sind eigentlich schon Menschen, die innerlich auch den Impuls zu jener unmittelbaren Wahrheitsliebe haben, von der Rudolf Steiner spricht.

Diese Wahrheitsliebe aber bedeutet gerade, seine Seelenkräfte nicht zurückzuhalten, sondern die Liebe zur Wahrheit zu dem Ersten zu machen. Am Anfang steht also nicht eine Unterdrückung des Gefühls, sondern gerade eine Verstärkung. Aber eine Verstärkung, die sich auf das richtet, was gerade die Objektivität bringen kann, nämlich eine Liebe zur Wahrheit. Man mache diese Liebe zur Wahrheit nur immer glühender – man tut damit nichts anderes, als dass man seine Seelenkräfte, den ganzen Menschen, auch sein Fühlen und sein Wollen, in den Dienst der „Objektivität“ stellt. Nun aber nicht in den Dienst einer abstrakten Objektivität, einer abstrakten Methode, sondern in den Dienst der Wahrheit selbst. Diese Liebe richtet sich auf eine Wirklichkeit, auf etwas Lebendiges, Reales. Und gerade die Liebe führt dazu, dies auch zu erkennen: immer mehr zu erkennen, dass Wahrheit wirklich etwas Reales ist.

Das ist im Prinzip auch dem Wissenschaftler klar – sonst hätte alles Streben nach Objektivität keinen Sinn. Aber der Wissenschaftler versucht gerade, objektiv zu sein, indem er sein Fühlen und Denken ausschaltet, wodurch er aber abstrakt wird und zwischen sich und die Wirklichkeit eigentlich eine Mauer zieht. Gerade weil er auch in sich selbst eine Grenze zieht und das Fühlen und Wollen aus seinem Denken abtrennt, trennt er sich auch von der übrigen vollen Wirklichkeit. Nur der ganze Mensch kann die volle Wirklichkeit erkennen. Das abstrakte Wissenschaftsideal kann man nur lieben, wenn man sich selbst als ganzen Menschen „abschafft“. Die Wahrheit aber kann man als ganzer Mensch lieben – mit seinem ganzen Herzen und seinem ganzen Willen.

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Mit der Liebe zur Wahrheit ist aber auch ein ganzmenschliches Erkennen vereinbar. Wer die Wahrheit liebt, der darf Wissenschaft auch mit dem Herzen betreiben! „Man sieht nur mit dem Herzen gut“, sagt der Fuchs dem Kleinen Prinzen. Ohne das Herz bleiben dem Menschen als Erkennendem wesentliche Bereiche der Wirklichkeit verborgen.

Aber was muss der Mensch tun, damit auch dieses Erkennen wissenschaftlich ist? Er muss seine Gefühle läutern, damit sie nicht subjektiv bleiben – sondern objektive Erkenntnis-Sinne werden. Also nicht Ausschaltung, sondern Läuterung – das ist der Übergang von heutiger akademischer Wissenschaft zu Geistes-Wissenschaft, zu einer spirituellen Ich-Wissenschaft, die Natur, Seele und Geist gleichermaßen wissenschaftlich, mit voller Klarheit und Objektivität erforschen können wird. Die Läuterung ist die Reinigung und Präzisierung der Erkenntnis-Instrumente. Die Bewusstheit, mit der die inneren Forschungsschritte dann geschehen und mit denen in jedem Moment sich selbst Rechenschaft abgelegt werden kann, ist die Objektivität dieser Forschung.

Nicht Absichten sind es, auf die es ankommt, denn die nimmt der Mensch oftmals sehr leicht, sondern objektive Wahrheit ist es, auf die es ankommt. Und zu den ersten Pflichten eines esoterischen Schülers gehört es, daß er sich nicht bloß dazu verpflichtet fühlt, dasjenige zu sagen, wovon er glaubt, daß es wahr ist, sondern daß er sich verpflichtet fühlt, zu prüfen, ob dasjenige, was er sagt, wirklich objektive Wahrheit ist.


Das heutige Wissenschaftsideal steht zu dem, was Rudolf Steiner mit „Wahrheitsernst“ meint, tatsächlich etwa in demselben Verhältnis, wie die Pflicht zur Liebe steht. Man kann auch die Pflicht lieben. Kant war gewissermaßen ein glühender Verehrer der Pflicht. Manch ein Beamter ist ein glühender Liebhaber einer abstrakten, absolut peniblen Genauigkeit. Hier aber geht es darum, die Wahrheit zu lieben – zu erkennen, dass die Wahrheit etwas ist, was wirklich existiert, und dann seine ganze Fähigkeit der Liebe, der Verehrung, der Hingabe in den Dienst der Wahrhaftigkeit zu stellen. Hier beginnt Geisteswissenschaft, hier werden die Grundlagen für etwas gelegt, was über die heutige „Wissenschaft“ weit, weit hinauszugehen vermag.

Das ist das eine – die Liebe zur Wahrheit. Das Andere ist die Tatsache, dass die Erkenntnis der vollen Wahrheit und Wirklichkeit den vollen Einsatz des Menschen fordert. Der Mensch erkennt sozusagen so viel, wie er einsetzt. Setzt er nur den abstrakten Intellekt ein, erkennt er auch nur den abstrakten Teil der Welt bzw. färbt sich ihm die ganze Wirklichkeit abstrakt. Der Mathematiker erkennt die Zahlenverhältnisse, der Physiker die abstrakten Naturgesetze, der Künstler die Schönheit der Welt. Was aber würde der ganze Mensch erkennen? Derjenige Mensch, der all seine Seelenkräfte anwendet – und nicht nur anwendet, sondern auch mit all seiner Kraft läutert und reinigt und mit all seiner Kraft stärkt und vertieft und immer weiter entwickelt? Ein solcher Mensch würde unendlich viel mehr und noch ganz anderes und anders erkennen als der Mathematiker, Physiker und Künstler zusammen. Das ist Geisteswissenschaft – die Entwicklung und Anwendung neuer Erkenntnisfähigkeiten.

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Damit kommen wir wieder zur Ehrfurcht – als eine von vielen Erkenntniskräften, die heute überhaupt nicht eingesetzt werden, weil sie gerade als zutiefst subjektiv angesehen werden. Die Subjektivität liegt aber nicht in den Seelenkräften selbst, sie liegt in der Frage, wie sie zur Entfaltung kommen. Diejenige Instanz, die über Subjektivität oder Objektivität (bzw. Wissenschaftlichkeit) entscheidet, ist das Ich selbst. Wenn das Ich die Seelenkräfte so anwendet, dass es sich (und anderen) klar Rechenschaft über sein Vorgehen ablegen kann, geht es wissenschaftlich vor.

Wissenschaft ist nicht Ausschaltung der Gefühle – Wissenschaft ist volle Klarheit in Bezug über das Vorgehen. Wissenschaft wertet nicht, sondern sie fordert Klarheit. Eine Beschränkung von Wissenschaft auf Gefühllosigkeit und abstrakten Intellekt wäre gerade unwissenschaftlich, weil subjektiv und willkürlich. Nicht die Gefühle müssen ausgeschaltet werden, sondern die Unklarheit, wenn von Wissenschaft und „Objektivität“ die Rede sein soll. Gefühle und ihr Beteiligtsein im Erkenntnisprozess sind nur dann „subjektiv“ bzw. unwissenschaftlich, wenn man keine Rechenschaft ablegen kann.

Im Grunde ist dies heute längst erkannt, etwa wenn im Bereich der Psychotherapie und der Supervision die eigenen Gefühlswahrnehmungen tatsächlich als Spiegel und als Erkenntnisinstrument reflektiert werden (auch gemeinsam, im Rahmen von Intervision, kollegialer Beratung usw.). Nur geht Rudolf Steiners Geisteswissenschaft hier noch wesentlich weiter, weil diese Seelenkräfte eben weiterentwickelt und verstärkt werden sollen – ebenso wie das Denken selbst. Nicht darum geht es, bestehende Seelenvorgänge auch noch zu beobachten, sondern darum, ganz neue Seelenvorgänge und -fähigkeiten hervorzurufen und zu entwickeln.

Für die geistige Wirklichkeit ist die volle Entfaltung der Seelenkräfte des Denkens, Fühlens und Wollens gerade unbedingt notwendig. Und der wirkliche Wissenschaftler müsste hier gerade beginnen, eine nicht vor-urteilende Neugier zu entwickeln. Wissenschaftlich wäre gerade, zu fragen: Was passiert, wenn ich dies und jenes tue? Was passiert, wenn ich mein Fühlen im Sinne des achtfachen Pfades läutere? Was passiert, wenn ich meine Denkkräfte verstärke, indem ich versuche, meinen Willen ganz mit meinem Denken zu vereinen? Was passiert, wenn ich Ehrfurcht entwickele und mit dieser Kraft auf etwas schaue? Das wäre Wissenschaft – alles andere ist nicht Wissenschaft, sondern Begrenzung von Wissenschaft auf einen (bequemen) Teilbereich, willkürliche Begrenzung, die nur deshalb nicht willkürlich und subjektiv erscheint, weil „alle“ damit einverstanden scheinen...

Durch das energische Hervorrufen der Stimmung der Ehrfurcht haben wir bereits erfahren, wie sehr diese Stimmung eine Erweiterung des Erkennens bedeutet – ein Sich-Offenbaren von Aspekten und Bereichen der Wirklichkeit, die vorher einfach „ausgeschaltet“ sind. Diese anfängliche Erfahrung muss man sich nun unendlich erweitert vorstellen – weil eben sowohl diese Kraft der Ehrfurcht als auch noch ganz andere Seelenkräfte dem Menschen noch gar nicht zugänglich sind, noch nie wirklich entwickelt wurden und auch noch nie in den Dienst des Erkennens gestellt wurden...

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Rudolf Steiner sagt einmal in Bezug auf ganz konkrete Inhalte höherer Erkenntnis – was aber auf die höhere Erkenntnis überhaupt übertragen werden kann:

Es sollte im Grunde genommen sogar von uns vermieden werden, an eine solche Sache dann zu denken, wenn wir nicht zugleich die Stimmung dafür aufbringen können. Wir sollten gerade eine solche Sache, wie die heute vorgebrachte, nur dann denken, wenn wir wirklich im Innern der Seele diese Stimmung aufbringen können, die einfach darinnen liegt, daß empfunden wird, wie [...] [im Folgenden wird dann auf den Inhalt dieser in mantrischer Form gegebenen höheren Erkenntnis Bezug genommen]. [...]
Wir sollten nur dann, wenn wir uns immer auch an dieses erinnern, und wenn wir aufbringen die Gefühle, die mit dieser Erinnerung an dieses zusammenhängen, wir sollten eigentlich auch nur an diese Mantren denken, uns innerlich mit diesen Mantren in Verbindung setzen, damit wir sie auch innerlich nicht entweihen, dadurch in ihrer Kraft entweihen, daß wir sie mit dem gewöhnlichen, trockenen, philiströsen Denken denken, mit dem wir sie ja denken, wenn wir uns nicht erst in die entsprechende Seelenstimmung versetzen.
Und wir sollten daraus, daß das so ist, auch die innere Seelenstimmung bekommen, um zu fühlen, daß Selbsterkenntnis des Menschen etwas Feierliches, Ernstes, Heiliges ist, und daß eigentlich diese Dinge nur so von der Seele innerlich auch gesprochen werden sollten – geschweige denn äußerlich –, daß sie empfunden werden als Ernstes, Feierliches, Weihevolles.

Ein großes Hindernis, weiterzukommen auf einem esoterischen Wege, ist eben dieses, daß so vielfach im Cliquenwesen von diesen Dingen gesprochen wird, wenn nicht diese ernste, feierliche, weihevolle Stimmung zugleich entwickelt wird, sondern sogar mit einem Anflug von Eitelkeit diese Dinge beschwätzt werden. Man denkt dabei nicht, wie im esoterischen Leben alles darauf beruht, daß Wahrheit, richtige volle Wahrheit herrsche. Der kann überhaupt im esoterischen Leben nichts machen, der nicht diese Erkenntnis hat, daß im esoterischen Leben Wahrheit, volle Wahrheit herrschen muß, daß man also nicht kann von der Wahrheit bloß sprechen und dann dennoch die Dinge nur so auffassen, wie man sie im äußerlichen Profanleben auffaßt. Das tut man, wenn man die Sache zum Gegenstande des gewöhnlichen Geschwätzes macht.


Wenn man das hier Gesagte wirklich mit Ernst und Ehrfurcht mit-denkt und mit-fühlt, dann kann einem sehr deutlich werden, wie unendlich viel da zerstört wird, wo die nicht heilige Stimmung waltet, wo also mit profaner, das heißt nackter, leerer, gewöhnlicher Seelenstimmung an etwas herangegangen und mit etwas umgegangen wird.

Zugleich versteht man hier noch tiefer, was Rudolf Steiner mit „Wahrhaftigkeit“ meint. Hier meint er damit zugleich den vollen Ernst und die voller Wahrhaftigkeit gegenüber der eigenen inneren Seelenhaltung. Er meint hier die Selbsterkenntnis, dass man das Geistesstreben und damit auch das Erkenntnisstreben, das Streben nach Wirklichkeits-Erkenntnis, noch gar nicht voll ernst nimmt, wenn man noch nicht den starken Impuls hat, das ganze innere Streben und die hohen Inhalte, mit denen man umgeht, eben auch mit den heiligsten Gefühlen des Ernstes, der Ehrfurcht, der hohen Bedeutung zu begleiten und zu durchdringen. Es geht um den Mut, die vollen Seelenkräfte auch wirklich einzusetzen, mit der vollen Überwindung der Abstraktheit und Profanität auch wirklich ernst zu machen. Oder aber sich einzugestehen: Ich will über das gewöhnliche Erkennen eigentlich gar nicht hinauskommen...

Eitelkeit und mangelnder Mut zu wirklicher Esoterik, das heißt aber: zu wirklicher Läuterung der Seelenkräfte, zu wirklichem Aufrufen der Kräfte der Ehrfurcht, der Demut, des willensstarken, aber warmen Denkens – das sind die Elemente, die einen nicht wirklich zur Geistes-Wissenschaft kommen lassen.

Ehrfurcht ist eine Erkenntniskraft und ist eine Kraft, die neue Wahrnehmungsorgane erweckt. Sich dies bewusst zu machen und den Mut zu haben, dies zu vertreten und diese Kraft zu entwickeln, bedeutet den Übergang vom abstrakten Intellekt zum ganzen Menschen, von der gewöhnlichen Wissenschaft zur Geistes-Wissenschaft.