04.02.2015

Zur Herrschaft der Phrase und zum Verständnis der Anthroposophie

Zwei symptomatische Beispiele zur Situation des heutigen Bewusstseins.


Im ersten Vortrag seines wunderbaren „Pädagogischen Jugendkurses“ (GA 217) schildert Rudolf Steiner das Folgende:

Im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts können Sie durch eine intime geschichtliche Betrachtung Merkwürdiges finden. Wenn wir betrachten, was in jener Literatur, in jenem Schrifttum erscheint, das von allen denen gelesen wird, die an der Gestaltung des Geisteslebens teilnehmen, so finden wir, daß im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts, bis in die Mitte der achtziger, neunziger Jahre hinein, innerhalb des deutschen Sprachgebietes ein ganz anderer Stil in den Journalen, sogar in den Zeitungen geherrscht hat als heute. Damals war ein Stil, der Gedanken ziselierte, Gedanken ausgestaltete, der etwas darauf gab, gewisse Gedankengänge zu verfolgen; der sogar etwas darauf gab, Schönheit in den Gedanken zu haben. Heute ist unser Stil auf den entsprechenden Gebieten, verglichen mit dem letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts, roh und grob geworden. Man braucht nur irgend etwas, was es auch sei, aus den sechziger, siebziger Jahren von Menschen, die nicht gelehrt, nur allgemein gebildet waren, in die Hand zu nehmen und Sie werden diesen großen Unterschied finden. Die Gedankenformen sind andere geworden. [...] Was dazumal so furchtbar einzog in alles Geistesleben, das ist, was ich, symbolisch charakterisiert, die Phrase nennen möchte.
An dieser Phrase entwickelten sich die Gedankenlosigkeit, die Gesinnungslosigkeit und die Willenslosigkeit, die heute auf dem Wege sind, immer größer und größer zu werden. In erster Linie gingen diese Dinge aus der Phrase hervor. [...]
Nehmen Sie die innigen, wunderbaren Töne, die im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts etwa in der deutschen Romantik anzutreffen waren, nehmen Sie das manchmal wie aus frischer, gesunder Waldesluft heraus wehende Reden über Geistiges bei einem Menschen wie Jakob Grimm, und Sie werden sagen: Da herrschte in Mitteleuropa noch nichts von Phrase. Die zieht erst im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts in Mitteleuropa ein. Wer dafür eine Empfindung hat, der weiß schon, wie allmählich die Zeit der Phrase heraufgekommen ist. Und wo die Phrase zu herrschen beginnt, da erstirbt die innerlich seelisch erlebte Wahrheit. Und mit der Phrase geht einher ein anderes: Der Mensch kann den Menschen nicht mehr finden im sozialen Leben.


Wir können uns heute keine wirkliche Vorstellung mehr davon machen, wie anders noch Menschen wie Jakob Grimm gedacht, gesprochen, geschrieben haben – und so haben wir zunächst kaum einen Vergleich. Aber egal welche „Zeugen des Geistes“ aus älterer Zeit wir auf uns wirken lassen – immer werden wir erleben können, welche Tiefe an Empfindung in älteren Zeiten mit der menschlichen Seele noch verbunden gewesen ist. Diese Tiefe der Empfindung scheint dann immer mehr zu vertrocknen, zu erstarren, wirklich zu verschwinden.

Was aber tritt an die Stelle lebendiger Empfindung und lebendigen geistigen Erlebens? Das Hohle, Starre, Leere, das bloß Intellektuelle – und selbst darin noch Starre: immer mehr das Phrasenhafte. Starre Denk- und Wortformen, die von keinem lebendigen Erleben mehr erfüllt und beseelt sind.

Diese Entwicklung, die Rudolf Steiner beschreibt und für die er auf einen markanten Umbruch um etwa 1880 hinweist, ist inzwischen über ein Jahrhundert weitergegangen. Man muss sich vorstellen, dass die Entwicklung der Bewusstseinsseele an sich schon dazu geführt hat, dass die menschliche Seele innerlich immer ärmer geworden ist. Dazu kommt dann noch diejenige Entwicklung, die sich diese immer ärmere Seele auch im Äußeren geschaffen hat und die nun ebenfalls verschärft auf sie zurückwirkt: Standardisierung, Computerisierung, Mechanisierung...

Wie sehr der Phrasenhafte, Geistlose heute vorangeschritten ist, möchte ich an zwei symptomatischen Beispielen erlebbar machen:

Verherrlichung der ökonomischen Unvernunft und des Kampfes aller gegen alle

Als am 29. Januar im Deutschen Bundestag der SPD-Abgeordnete Dirk Becker die Politik seiner Partei in Bezug auf den „Arbeitsmarkt“, die Renten und die Wirtschaft ganz allgemein in höchsten Tönen lobte, wies der Abgeordnete Michael Schlecht (LINKE) darauf hin, dass die permanenten deutschen Außenhandels-Überschüsse es unmöglich machen, dass das umgekehrt sich verschuldende Ausland seine Schulden jemals zurückzahlen kann. Permanente Handelsungleichgewichte verursachen zwischen den einzelnen Volkswirtschaften zunehmende Instabilität. Deutschland hat seit Jahren unter anderem mit dem Aufbau eines „Niedriglohnsektors“ (dessen sich Kanzler Schröder sogar einst gerühmt hat!) alle übrigen europäischen Länder an die Wand konkurriert – und ist so unter anderem ganz unmittelbar für die Schuldenkrise des griechischen Staates mit verantwortlich.

Während internationale Ökonomen (etwa Nobelpreisträger Joseph Stiglitz) seit langem auf diese Tatsache aufmerksam machen, sind es in Deutschland nur ganz wenige Ökonomen (wie etwa Heiner Flassbeck), die dies seit der Euro- und Finanzkrise ebenfalls nicht müde werden zu betonen. Ich habe dies schon 2011 umfassend und ausführlich in meinem Buch „Zeit der Entscheidung“ beschrieben.

Während aktuell fast die gesamte Presse kollektiv, unisono und phrasenhaft auf die demokratisch gewählte neue Regierung Tsipras in Griechenland einschlägt, besitzt der neue griechische Finanzminister Varoufakis den Mut, die 1944 in Bretton Woods von Keynes und noch 1967 von Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller betonte  Notwendigkeit volkswirtschaftlicher Gleichgewichte erneut zu betonen. (Auch binnenwirtschaftlich haben Ökonomen international längst erkannt, dass die zunehmende Arm-Reich-Spaltung sogar für „die Wirtschaft“ selbst längst zu einer erstickenden Gefahr geworden ist). Selbstverständlich kann man im Sinne eines „Kampfes aller gegen alle“ fortwährend nach Profitmaximierung streben, doch es stellt sich dann die Frage, was für ein Welt- und Menschenbild man eigentlich hat...

Zurück in den Bundestag: Nachdem Michael Schlecht also die Vernunftlosigkeit und Gefahr solcher permanenten Außenhandels-Überschüsse angesprochen hat (hier im Video 5:55 bis 8:00), geht Dirk Becker darauf nahezu überhaupt nicht ein, sondern erwidert:

„Ich habe ein einigermaßen gutes Gedächtnis und Sie haben eine ähnliche Frage dem Wirtschaftsminister ich glaub’ vor einem Dreivierteljahr oder was oder vor einem Jahr im Wirtschaftsausschuss gestellt, wo auch der Wirtschaftsminister gesagt hat: Ja, wir wollen hier gucken, dass wir die Binnennachfrage, wo wir Defizite haben, stärken; dass wir auch die Nachfrage im Inland voranbringen – das haben wir geschafft. Er hat auch gesagt, dass wir natürlich auch darauf achten müssen, dass bei dem Überschuss, das, äh, wir haben, das wir nach wir vor haben, dass wir das nicht ausufern lassen, dass wir verantwortungsvoll damit umgehen. Aber nochmal: Wir sind nicht in einer weltweiten Planwirtschaft. Wir haben die starke Nachfrage nach deutschen Produkten, und [er beginnt, populistisch zu schreien] das ist eine Stärke unseres Landes! Nur wenn die Wirtschaft erfolgreich ist, haben wir das Geld, um das zu finanzieren, was auch Sie von uns fordern! Und man kann nicht das eine nicht wollen und alles andere fordern! Wir wollen dafür sorgen, dass Deutschland als Exportnation erfolgreich bleibt, damit die Menschen in diesem Land Arbeit haben!


Man muss sich das Video selbst anschauen, um bis ins Innerste wirklich mitzuerleben, wir hier von Anfang an die Phrase regiert und wie es mitten in der phrasenhaften Rede dann sogar noch eine Steigerung gibt hin zur sozusagen absoluten Phrase...

Dirk Becker betont in seiner „Antwort“ unmittelbar ein völlig anderes Thema (Binnennachfrage statt Außenhandel), gesteht dann im Grunde ein, dass der Einwand von Michael Schlecht berechtigt ist, vereinnahmt den Einwand daraufhin mit der Phrase „verantwortungsvoll umgehen“ – und wischt ihn dann dennoch völlig vom Tisch: Der Außenhandelsüberschuss (und nun ist die Höhe bereits völlig egal) sei „eine Stärke unseres Landes“. Was noch im Satz zuvor behauptet wurde – verantwortungsvoller Umgang –, wird nun in sein Gegenteil verkehrt und verunglimpft: „Planwirtschaft“. Die Phrase regiert, wie man es gerade braucht...

Dass man den wirtschaftlichen Prozess nicht vollkommen planen kann, ist selbstverständlich. Aber darum geht es ja gar nicht – sondern darum, zumindest im nachhinein Ausgleichsmöglichkeiten zu schaffen und die Vernunft mitsprechen zu lassen. Doch auch dies lehnt Dirk Becker völlig ab, belegt es mit einem unwahren Begriff und vertritt stattdessen das Prinzip der puren Konkurrenz, des puren Rechts des Stärkeren – und belegt dies mit wohlklingenden Worten. Dass die Stärke Deutschlands die anderen Volkswirtschaften erdrückt – davon wird nicht gesprochen. Wie dies aufgefangen werden kann, davon wird nicht gesprochen.

Und zugleich sagt Dirk Becker: „Nur wenn die Wirtschaft erfolgreich ist, haben wir das Geld“, um uns um das Wohl der Menschen zu kümmern. Das bedeutet aber im Umkehrschluss – und genau darauf wollen ja Experten wie Michael Schlecht, Joseph Stiglitz, Heiner Flassbeck und viele andere aufmerksam machen: Volkswirtschaften, die weniger erfolgreich sind, haben dieses Geld nicht...

Man spricht von der Europäischen Union, von der „Idee Europa“, von „gemeinsamen Werten“, aber einem Menschen wie Dirk Becker ist es egal, wenn sich in Griechenland Massenarbeitslosigkeit und Elend ausbreitet. Er begreift die Zusammenhänge nicht einmal. Aber er schwingt sich auf, alle Einwände menschlicher und volkswirtschaftlicher Vernunft beiseitezuwischen – mit puren Phrasen, Schlagworten, populistischen Worthülsen...

Was also sind die „gemeinsamen Werte“? Ökonomischer Irrationalismus? Der Kampf aller gegen alle? Das Recht des Stärkeren, alle anderen zu erdrücken? Von welchem Europa wird gesprochen – und welche Idee menschlichen Zusammenlebens und des Menschen wird hier eigentlich gedacht? Wird überhaupt noch irgendetwas gedacht? Nein, wo die Phrase herrscht, wird nicht mehr real gedacht und längst nicht mehr real irgendetwas empfunden.

Dirk Becker sagt nichts anderes als: „Uns geht es nur dann gut genug, wenn wir die anderen zwingen, Schulden zu machen, wenn wir besser sind als alle anderen.“ – Der Irrsinn, der darin liegt, bleibt völlig unsichtbar. Zu verdanken ist das der absoluten Phrasenhaftigkeit, die sich längst wie ein Mehltau über alles Denken und Sprechen solcher Politiker gelegt hat.

Die Herrschaft der gestelzten Phrase im akademischen Diskurs – und ihre größten Diener

Im zweiten Vortrag des Pädagogischen Jugendkurses schildert Rudolf Steiner sehr bildhaft und zugleich wesenhaft das Heraufkommen der sogenannten „objektiven Wissenschaft“, die sozusagen absoluten Gehorsam fordert und sich als absolute Autorität gebärdet. Es ist äußerst lohnend, diese Vorträge ganz zu lesen, denn sie geben wirklich ein tiefes Empfinden dessen, was tatsächlich eine Realität ist. Ein Wesen, das sich „objektive Wissenschaft“ nennt, hat die Herrschaft über das menschliche Denken übernommen. Die Menschen – gerade jene, die sich auf dem Felde jenes Wesens bewegen – haben sich seiner Herrschaft unterworfen. Und unmerklich hat dieses Wesen auch dafür gesorgt, dass immer mehr eine bestimmte Sprache geführt wird und dass alle anderen Arten zu sprechen, zu schreiben, zu denken, ausgerottet werden.

Wir sprechen heute vom akademischen Diskurs. Dass dies jedoch kein „herrschaftsfreier Raum“ ist, sondern dass in diesem Raum vielmehr ein ungeheurer Zwang waltet, das dürfte jedem tiefer blickenden und erlebenden Menschen heute sehr, sehr klar sein. Rätselhaft bleibt zunächst nur die Frage, wer diesen Zwang eigentlich ausübt. Aber diese Frage stellt sich überall: im Bereich der Medien, der Politik und anderer menschlicher Zusammenhänge, in denen etwas Kollektives zu wirken beginnt, ebenso wie im akademischen Diskurs. Auch hier wirkt ein Wesen, dessen wesenhaftes Wirken gerade darin besteht, zu kollektivieren, zu vereinheitlichen, eine bestimmte Art zu denken, zu sprechen, zu „forschen“, den „Teilnehmern des Diskurses“ aufzuzwingen.

Mit Hilfe Rudolf Steiners kann man sich dieses Wesens sehr bewusst werden und die Natur dieses Wesens immer tiefer erkennen.

Ein Symptom für das Wirken dieses Wesens, das den „akademischen Diskurs“ immer stärker in eine ganz bestimmte Richtung bringt, ist das Vorwort zum (als erstes erschienen) Band 5 der von Christian Clement herausgegeben Kritischen Ausgabe der Schriften Rudolf Steiners. Offenbar war es der Holzboog Verlag, der für dieses Vorwort den Schweizer „Mystikforscher“ Alois Maria Haas angesprochen hat – oder, wie man heute phrasenhaft sagen würde: hat gewinnen können. Ein Gewinn war dies gewiss nicht, es sei denn, man kann es als Gewinn bezeichnen, wenn die Herrschaft des Phrasenhaften so offensichtlich wird. In einem Werk, das als seinen Mittelpunkt Schriften Rudolf Steiners vereint, ist dies jedoch ein machtvoller Schlag gegen alles, was Rudolf Steiner jemals gewollt und wofür er sein ganzes Leben lang gewirkt hat.

Haas, der in wenigen Tagen 80 Jahre alt wird, hat verschiedenste akademische Werke über die Mystik veröffentlicht. Doch scheint er seinem Forschungsgebiet so entfernt zu sein wie ein Maulwurf dem Mond. Um selbst zu erleben, in welche Niederungen sich der akademisch versklavte Intellekt zwingen lässt, braucht man nur Sätze wie die folgenden einmal tief auf sich wirken zu lassen:

"Ein solcher Verweis auf die Legitimität einer immanenten Interpretation des haeckelschen Werks – ausgesprochen am Anfang seiner Karriere – erlaubte Steiner im Rückblick das Postulat einer ihn und seine Denkweise preisenden Krönung der ‚Naturwissenschaft’ durch „Geisteswissenschaft“ aufzustellen, deren Ermöglichung er in kritischem Rückbezug auf Immanuel Hermann Fichtes Anthropologie (1856) in seiner Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung. Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode (1894) zu artikulieren versuchte." [S. IX-X].


Das mysteriöse Wesen der „objektiven Wissenschaft“ und des „akademischen Diskurses“ zwingt diejenigen, die sich ihm unterordnen, zu einer Denk-, Sprech- und Schreibweise, die völlig kalt, gefühllos und unbeteiligt ist, nichts mehr von Geist oder Seele enthält. Bei Haas ist die Sprache noch dazu bis an die Grenze des Verständlichen, man muss sagen: missbraucht. Allenfalls dient sie noch der eigenen Eitelkeit, die sich stolz bewusst ist, dass sie ihre eigenen Phrasen zumindest selbst noch versteht. Man konstruiere einen Satz mit möglichst vielen akademischen Substantiven und stelle sich hoch über seinem Forschungsobjekt auf – und schon ist man ein mustergültiger Teilnehmer des „wissenschaftlichen Diskurses“. Und je weniger Geist und Seele die eigene Sprache und das eigene Denken besitzen, desto höher kann man sich über den Geistesforscher stellen. Die Phrase und der eigene Hochmut, gestützt auf die Anerkennung aller übrigen freiwilligen Sklaven des Diskurses machen es möglich...

Ein weiteres Beispiel:

"Steiners Mystikstudien gehören natürlich nicht nur in den engeren Bereich eines forschenden und/oder spirituell interessierten Engagements an mystischen Traditionen um die Jahrhundertwende, sondern vor allem auch in die um diese Zeit sich artikulierende geistige Neuorientierung, die – zuerst wohl „im Umfeld des sog. ‚Kulturprotestantismus’ insbesondere bei Max Weber, Georg Simmel und Ernst Troeltsch“ – als „Dramatisierung wahrgenommener Entkirchlichungs-Phänomene [...] zu einer universal-historischen Hypothese der ‚Säkularisierung’ in der Moderne“ geführt hatte. ‚Das säkulare Zeitalter’, das heute zum kulturellen Referenzbegriff für die nordatlantische Welt avanciert ist und bis in die Aufklärung des 18. Jahrhundert zurückreicht, deckt inzwischen einen weiten Bereich dessen ab, was von allen Aufgeklärten, die über Religion beredt sich vermelden wollen, als konstitutive ‚religiöse Unmusikalität’ seit Max Webers Dictum im Wappenzeichen geführt wird. So soll a priori verhindert werden, dass in ihren Äußerungen allenfalls eine subkutane Untertänigkeit dem Religiösen gegenüber noch geortet werden könnte." [S. X-XI].


Es ist selbstverständlich beeindruckend, einem so belesenen und informierten Experten wie Haas zu begegnen. Doch mit mehr als purer Belesenheit kann er nicht glänzen. Glänzende Addition von Namen und Zusammenhängen, stichwortartig gestapelt und abgehakt – so kann man unter seinesgleichen wohl Eindruck schinden. Zugleich verkapselt man sich in einen trostlos dumpfen Elfenbeinturm, der absolut nichts mehr mit dem wirklichen Leben – auch nichts mehr mit dem wirklichen Leben des Geistes zu tun hat. Es ist, wenn überhaupt, toter Geist, der lieber zwischen Buchrücken eingeschlossen bliebe, als in das Licht echter Öffentlichkeit zu treten. Hier reagiert nur noch ein Wesen, das den Tod des Geistes und der Seele will – und zu dessen Dienern sich dann unbewusst Menschen wie Haas machen, die die Sprache dieses Wesens freiwillig führen.

In einer Fußnote schreibt Haas:

Dankbar benütze ich hier und im Folgenden zur Ermittlung der Lebensdaten die Hinweise von Wikipedia. Ansonsten teile ich weitgehend das Misstrauen gegen die Geiselhaft, in deren Bann uns die ,Blödmaschinen’ (Markus Metz u. Georg Seeßken: Blödmaschinen. Die Fabrikation der Stupidität. Frankfurt a. M. 2011) zu zwingen versuchen! [S. XI].


Wieder geht es nicht ohne einen „klugen“ Literaturverweis... Dass aber Haas mit seiner ganzen Sprache längst im Bann einer ganz anderen Geiselhaft gefangen ist, dessen kann er sich nicht bewusst sein – ist doch die jeweilige Denkweise, die man sich angewöhnt hat, scheinbar das Ur-Eigenste, was es gibt. Dass aber bei dieser Gewöhnung auch Wesen mitwirken können, die den Menschen gerade in eine solche Geiselhaft führen wollen, wird man überhaupt nur denken können, wenn man den eigenen (!) Willen dazu stark genug gemacht hat und alle Macht des kollektiven Diskurses einen nicht davon abhalten kann, sich mit solchen Begriffen einer realen Wirklichkeit zu nähern.

Es ist sehr bemerkenswert, dass Haas mit seinen eigenen Worten, wahrscheinlich ohne es zu bemerken, zugibt, dass die „Blödmaschinen“ eine ganz bestimmte starke Wirksamkeit entfalten, die er mit den Worten „Geiselhaft“ und „Bann“ umschreibt. Dass Maschinen selbst nur so wirken können, wie sie eben wirken, versteht sich von selbst. Hinter den Worten „Geiselhaft“ und „Bann“ steht jedoch mehr. Solche Worte sind gewissermaßen „Grenzbegriffe“, die plötzlich sichtbar machen, dass die Seele sehr wohl empfindet, dass hier etwas geschieht, was weitreichende Wirkungen hat. Nur ist sie sich kaum bewusst darüber, um welches weitreichende Wirken es eigentlich geht – noch weniger darüber, wie dieses Wirken eigentlich verursacht wird und wie die Zusammenhänge sind, dass es in eben dieser Weise geschieht – und noch weniger darüber, dass hinter dieser Art Wirksamkeit tatsächlich etwas stehen kann, das ein „Interesse“ an genau dieser Wirksamkeit haben kann...

Man könnte sich doch einmal fragen, warum zum Beispiel die Idee der sogenannten „Effizienz“ auf den menschlichen Intellekt in seiner heutigen Form eine solche Macht ausübt, dass der Mensch das ganze menschliche Leben in Formen bringt, die etwas absolut Selbstzerstörerisches haben – ja dass Effizienz sogar in der Lage ist, so etwas wie Phantasie, Muße, Toleranz oder Liebe zu vernichten. Dass der Mensch dies alles sogar wissen kann, dass aber selbst dieses Wissen nichts ausrichtet... Allein eine solche Frage könnte einen bereits weiterführen in der Erkenntnis von Zusammenhängen, für die sich die heutige Wissenschaft blind macht. Oder vielmehr: Für die jenes mysteriöse Wissen der „objektiven Wissenschaft“ und des „akademischen Diskurses“ die Menschen blind macht. Kollektiv soll das Denken sein, kollektiv und phrasenhaft. Die richtigen Fragen dürfen nicht gestellt werden. Es ist wie bei „Momo“: Der entscheidende Punkt muss ein blinder Fleck bleiben...

In der Fußnote: „[...] in deren Bann uns die ‚Blödmaschinen’ [...] zu zwingen versuchen!“ – scheint einmal kurz die Menschlichkeit des Menschen Haas auf. Das Lebendigste an seinem ganzen Vorwort ist vielleicht das Ausrufezeichen in diesem einen Satz aus dieser Fußnote. Und warum? Weil dieses Ausrufezeichen am wenigsten Phrase ist. Ein Ausrufezeichen gehört eigentlich nicht in einen akademischen Text – es enthält keine Objektivität, keine beherrschte Reflexivität, sondern stattdessen ein wirkliches „Stück“ Seele. Wenn doch das ganze Vorwort aus jener Unmittelbarkeit und Phrasen-losigkeit, aus jener Seelenhaftigkeit und Lebendigkeit gestaltet sein könnte, wie jenes Ausrufezeichen! Das gerade wäre Anthroposophie – aber das wird heute nicht verstanden und nicht einmal gewollt.

Letztlich ist die angebliche Angst vor oder der immer wieder erhobene Vorwurf von Unwissenschaftlichkeit selbst nur vorgeschoben. Wovor man eigentlich Angst hat, das ist die Lebendigkeit selbst. Denn der wirkliche Geist im Gegensatz zu seinem toten Schatten, mit dem sich die intellektuelle „Wissenschaft“ beschäftigt, ist etwas sehr Lebendiges. Mieke Mosmuller hat in ihrem Buch „Das Menschliche Mysterium“ auf das Märchen „Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“ hingewiesen.

Dieses Märchen ist eigentlich ein Gleichnis für den toten Intellekt. Dieser fürchtet nichts – distanziert kann er alles betrachten, nichts schreckt ihn, denn er selbst tötet alles und macht es zum bequemen Objekt. Doch wodurch lernt der Junge am Ende doch das Fürchten? Dadurch, dass das Kammermädchen ihn nachts einmal mit einem Wassereimer voller Gründlinge überschüttete, „dass die kleinen Fische um ihn herum zappelten“! Das Zappelnde, das Lebendige, das nicht zu Kontrollierende und zu einem toten Begriff zu Machende – das ist die eigentliche Furcht derer, die Rudolf Steiner und der Geisteswissenschaft „Unwissenschaftlichkeit“ vorwerfen. Sie wissen nicht, dass Wissenschaftlichkeit nicht bedeutet, alles abzutöten (in tote Begriffe zu bringen), sondern dass es auch eine Wissenschaft des Lebendigen und auch eine lebendige Wissenschaft des Geistes gibt.

Diese Wissenschaft ist aber erst da möglich, wo sich die Seele des Menschen radikal von der Phrase und von allen Denkschablonen verabschiedet, um aus vollkommen eigener Kraft zu beginnen... Was dann beginnt, ist der Anfang des wahrhaft Menschlichen. Vorher ist alles Schablone, unterworfen gewissen Kräften, die nicht menschlich sind und die auch nicht bewusst werden, weil der Mensch sich ihnen ja gerade unterwirft und so das Wesentliche aus der Hand gibt. Da aber, wo das wahrhaft Menschliche beginnt – und wo dann jene Kräfte keinen Zutritt mehr haben, da beginnt auch die wahrhaft menschliche Wissenschaft.

Der Mensch ist zur Wissenschaft berufen, denn er ist zum Erkennen berufen. Um aber wahrhaft menschlich zu erkennen, muss der wirkliche Mensch erst einmal hervortreten! Dafür braucht es Mut und Geisteskraft, die erst einmal geübt und errungen werden muss. Man darf nicht erwarten, sofort menschliche Wissenschaft betreiben zu können – wenn die menschlichen Kräfte überhaupt noch nicht da sind! Haas hat sehr wohl erkannt, dass nicht-menschliche Kräfte die Seele in eine bestimmte Richtung drängen wollen. Er hat aber nicht erkannt, dass die Seele längst weitgehend in solche Richtungen gedrängt worden ist, und dass es gilt, sich aus diesen bereits sehr weitgehenden Verstrickungen erst einmal wieder zu befreien. Doch heute werden diese Verstrickungen gerade als „objektive Wissenschaft“ gefeiert und allgemein anerkannt.

Dass diese objektive Wissenschaft keineswegs die wahrhaft menschliche Wissenschaft ist, dass aber die letztere keineswegs subjektiv ist, sondern dass sie schlicht in einen Bereich vordringt, der nicht mehr tot und bequem ist, das zu erkennen, wird die wichtigste Menschheits-Tat der Zukunft sein. Mit dieser Tat wird das Verstehen der Anthroposophie stehen oder fallen. Und bevor dieser Schritt getan wird, kann die Anthroposophie immer nur ihrerseits getötet werden – durch jene kollektiv gehandhabte Form des toten Verstandes, der auch alle seine Objekte zu Tode bringt...

An dem Punkt aber, wo wir uns bewusst werden, wie sehr wir als Menschheit bereits in die Phrase hineingeraten sind, an einem solchen Punkt fassen wir ein bestimmtes inneres Erleben, das uns, wenn wir es weiterverfolgen, zu einem Verständnis für das Wesen der Anthroposophie und auch für ihre Wissenschaftlichkeit führen könnte.