05.03.2015

Was unserer Zeit fehlt

Gedanken in der Passionszeit


Verantwortungsvolle Menschen leiden an der heutigen Zeit. Die linke Wochenzeitung „Der Freitag“ versucht immer wieder, eine Debatte über Alternativen zum herrschenden neoliberalen Wirtschaftssystem zu führen. Sehr deutlich ist, dass die „Diktatur des Profits“, aber auch unsere ganze „moderne“ Lebensweise die Welt in einen Abgrund führt. Sehr klar ist die Visionslosigkeit der Politiker. Und sehr klar ist auch, dass viele, viele Menschen dies durchschauen. Was aber fehlt dann? Die Erkenntnis offenbar nicht.

In Bezug auf die Erkenntnis kann man im Internet auf zahllose, die Tatsachen tief durchschauende Beiträge stoßen wie zum Beispiel:

Wogegen muss man also anschreiben, anschreien und aufstehen? Na gegen die Gegenwart! Gegen unsere Gesellschaft, wie sie ist! Verdammt nochmal! Da sitzen wir in unseren mehr oder weniger bequemen Stühlen vor einem Schreibtisch und schreiben uns in Foren unsere Meinung vom Leib – und es interessiert niemanden. Es verändert nichts.
Der tägliche Irrsinn, Nutzerbeitrag von KaEff vom 17.11.2012.


Derselbe Autor „KaEff“ (K.F.?) schreibt am Ende:

Diese ganze Gesellschaft, in der wir leben, stinkt vor lauter Ungerechtigkeiten. Sie stinkt. Ich will eine öffentliche Diskussion über unsere Moral. Ich will eine öffentliche Diskussion über Visonen für unsere Zukunft als Gesellschaft. Wie wollen wir miteinander leben? Ich will, daß unsere Verfassung und die tatsächlichen Gegebenheiten gegübergestellt werden. Ich will, daß definierte Begriffe, wie z.B. Dienen und Demut, wieder erörtert und definiert weren.Ich will einen Paradigmenwechsel. JETZT! Mir reichts. Sowasvon.

Von oberflächlicher Empörung...

Ganz deutlich wird hier erkannt, dass die Ungerechtigkeiten und Unmenschlichkeiten in unserer Gesellschaft immer größer werden, dass das real Moralische immer weniger irgendeine Bedeutung hat, dass es keinerlei Visionen gibt, dass grundlegende Seelenfähigkeiten nicht vorhanden sind. Die führenden Politiker verwalten die Leere und ihre eigenen Privilegien – und die führenden Profiteure des Kapitals treiben die Schere zwischen Arm und Reich, zwischen Verlierern und Gewinnern immer weiter auseinander. Und nichts wird getan, alles setzt sich immer weiter fort – und das Lähmende daran wird immer größer.

Man empfindet sehr deutlich, dass ganz normale Menschen all dies sehr tief durchschauen – und dass in ungezählten Menschen eine tiefe Unzufriedenheit lebt und brodelt, ein starker Wunsch nach einer völlig anderen Gestaltung der Verhältnisse.

Was man aber an obigem Beitrag auch empfinden kann, ist noch etwas anderes – es ist die innere Haltung, in der heute eigentlich der Mensch immer mehr lebt. Und diese Haltung steckt in dem „Mir reichts“, in dem „Sowasvon“. Sie steckt in dem „Ich will“ und den Tippfehlern.

Inmitten der Verärgerung über diese „schlimme Welt der Politiker und Profiteure“ steht der normale Mensch, der sich darüber „schwarz ärgert“, aber nicht merkt, dass es um etwas geht, was die ganze Menschheit erfasst hat und noch immer mehr erfassen wird. Die Menschen haben zwar durchaus richtige Gedanken und Empfindungen über die äußere Katastrophe, aber der eigene Seelenzustand gehört mit zu dieser Katastrophe. Die Erkenntnis bleibt durchzogen von tiefster Subjektivität und mehr oder weniger vulgärer Oberflächlichkeit. Die höchsten, wichtigsten, drängendsten Fragen – die nach einer Vision für die heutige Menschheit – werden in das belanglos Persönlichste hinabgezogen („Mir reichts. Sowasvon.“).

Wenn man es in einem Bild beschreiben wollte, so müsste man sagen: Diese Art von Sich-Aufregen gleicht völlig einem Menschen, der sich zwischen zwei Spielfilmen auf dem Sofa über „die da oben“ echauffiert, um dann in dem Bewusstsein, moralisch besser zu sein, weiter untätig dahinzuträumen.

Nicht durchschaut wird, dass mit dem bloßen Erkennen schlimmer Zustände noch nichts getan ist, dass dies vielmehr stark den eigenen Hochmut und die eigene Selbstgewissheit anstachelt. Nicht durchschaut wird, dass die Seele heute, gerade weil die Welt so ist, wie sie ist, einer unglaublichen Entleerung und Vulgarisierung unterliegt. Dass sie eine ungeheure Tendenz zur Oberflächlichkeit, zur inneren Bequemlichkeit und zu arrogantem Hochmut hat. Was ist denn die Vision von „KaEff“? Mehr Gerechtigkeit und im Übrigen weiter so? Was kann menschliches Leben sein? Wo ist die Demut in „KaEffs“ Seele? In dem „Mir reichts. Sowasvon“?

Fordern kann man viel – und sich dann genüsslich der Illusion hingeben, dass die Welt schon besser wäre, wenn alle nur so wären, wie man selbst. Doch klarmachen müsste man sich, wieviel reale Oberflächlichkeit, wieviel Materialismus und Egoismus, wieviel Desinteresse am anderen Menschen auch in der eigenen Seele lebt. Klarmachen müsste man sich, dass dies Realitäten und Kräfte sind, die in die Menschheitsentwicklung immer mehr einziehen.

...zu tieferem Erkennen

Nicht nur nach außen und an die Oberfläche müsste man den Blick richten, sondern darauf schauen, was eigentlich in tieferem Sinne geschieht, wofür alle äußeren Geschehnisse sozusagen nur ein Symptom sind. Dann erst bekommt man langsam, allmählich, eine Ahnung für die wirklichen, die wirkenden Realitäten – und ein Ahnen davon, was die Menschenseele aber auch sein könnte, werden kann, ja soll. Und umgekehrt: Je mehr man einmal versuchen kann, zu empfinden, welche Qualitäten die Seele in sich lebendig machen könnte, welche Qualitäten es sind, die ihr wahres, edles, leuchtendes Menschentum ausmachen (würden), desto mehr wird man im Anschluss daran auch erleben können, welche Kräfte heute in jedem Moment und überall wirken, um diese Entwicklung absolut zu verhindern, sie nicht geschehen zu lassen. Ja, Kräfte, die schon jeden zufälligen Blick auf diese Möglichkeit verhindern wollen...

Der Ruf nach einer neuen Debatte über Moral, nach einer neuen Erörterung und Definition von Begriffen wie Dienen und Demut täuscht allzu leicht darüber hinweg, dass die Bedingungen für diese „Debatte“ gar nicht gegeben sind – auch nicht bei denen, die sie fordern. Man fordert sinnloserweise Demut von den rücksichtslosen Profithaien und den in immer mehr Abgehobenheit agierenden Politikern, aber man hat sie selbst nicht und erlebt gar nicht mehr, was das eigentlich ist. Man „weiß“ es zwar und weiß auch, dass „die da oben“ es dringend bräuchten – aber als Realität hat man es selbst nicht mehr. Man fordert es nur noch – natürlich von anderen. Und so ist jeder Ruf nach „neuen Debatten“ fast immer ein Kennzeichen dafür, dass die zu debattierenden Dinge sehr gründlich verlorengegangen sind. Durch Debatten wird man sie aber nicht wiedergewinnen!

Not tut also eine gründliche, sehr gründliche Erkenntnis, wie umfassend all jene Dinge, über die man so gerne debattiert, auch in einem selbst verloren gegangen sind. Erkennen müsste man (wollen), wie sehr man selbst drinnensteckt und mitschwimmt in einem Kräftestrom, der die Seele immer weiter hineintreiben will in eine Oberflächlichkeit, in einen selbstgefälligen Egoismus, in Bequemlichkeit und Genuss, in ein lässiges „Mitnehmen“ aller Segnungen des „Werbe-Internet-Event-Zeitalters“ – und zwischendurch in ein ehrlich empfundenes „Mir reichts. Sowasvon.“

Empfinden müsste man, wie selbstbezogen und oberflächlich auch die eigene Seele ist. Wahrhaftig empfinden kann man dies aber erst, wenn eine Erkenntnis der realen Entwicklungsmöglichkeiten der Seele und ihres wahren Wesens und eine Sehnsucht danach beginnen, sich zu entwickeln. Vorher wird der Hochmut der Seele und ihr unbedingtes Festhalten am eigenen positiven Selbstbild jegliche Erkenntnis und erst recht jede Sehnsucht verhindern. Erkenntnis dessen, was die menschliche Seele sein kann, und eine Sehnsucht nach einem Werden, einer inneren Entwicklung, das ist es, was so notwendig ist und was sich dann immer weiter und tiefer gegenseitig befruchten würde...

Solange der Mensch nicht merkt, dass er nicht „fertig“ ist, kann die Menschheit immer nur weiter in die Dekadenz geraten, denn dann wirken unerkannt die negativen Kräfte, die den Menschen tatsächlich immer weiter zu etwas anderem machen, als er bis dahin noch war. Fortwährend glaubt der Mensch, die Dinge sind, wie sie sind – und er auch –, aber er nimmt die reale Entwicklung als solche nicht wahr. Dahin aber muss er kommen. Und vor allem muss die Seele dahin kommen, zu empfinden, dass sie nicht „fertig“ ist, dass sie zu etwas ganz, ganz anderem werden kann, etwas Wunderbarem, was überhaupt erst wieder das Wort „edel“ verdienen würde. Die Seele kann den realen Begriff des Edlen auch in der irdischen Wirklichkeit zu einer Realität machen!

Das ist die Aufgabe der Seele: sich so zu entwickeln, wie es in ihrem Wesen, in ihren realen Möglichkeiten liegt. Wenn der Mensch eine solche innere Entwicklung nicht ergreift, dann kann die Menschheit immer nur weiter in eine furchtbare Dekadenz geraten – denn diejenigen Kräfte, die diese Dekadenz herbeiführen wollen, sind am Wirken. Doch wenn der Mensch eine solche innere Entwicklung ergreift, dann kann sich die Menschheit wirklich entwickeln, dann kann sie eine reale Entwicklung durchmachen, deren Möglichkeit heute so Viele leugnen. Die wahre und rettende Entwicklung kann niemals auf äußerem, materiellem Gebiet liegen, sie kann nur auf dem Felde des Menscheninneren liegen, seines seelisch-geistigen Wesens. Hier muss es reale Taten geben.

Hier kann der Mensch absolut wegkommen von jeglichem bequemem „Sowasvon“, das nach außen gerichtet ist. Statt einem ohnmächtigen, aber auch subtil genüsslich-bequemem „Mir reichts“ gegenüber der ach so schlimmen äußeren Welt kann die Seele zu einer immer tiefer empfundenen Unzufriedenheit gegenüber sich selbst kommen – und mit einer wirklichen inneren Entwicklung anfangen. Sie kann zum Beispiel anfangen, wirkliche Demut zu entwickeln... Sobald dieses wirkliche innere Streben begonnen hat, wird die Seele immer stärker empfinden, dass hier, im Seeleninnern der Menschen, der eigentliche Schauplatz ist, wo sich die Zukunft der Menschheit entscheidet.

...und wirklichem Leiden

Christian Morgenstern hat diese völlige Umkehrung des „Mir reichts“ in wunderbar schlichten Worten beschrieben. Dieser wahrhaft edle Geist schrieb einmal: „Sei mit dir nie zufrieden, außer etwa episodisch, so dass deine Zufriedenheit nur dazu dient, dich zu neuer Unzufriedenheit zu stärken.“

Das ist geradezu das Einzige, was die Menschheit heute braucht: Eine völlige Abkehr von ihrer im Grunde unendlichen Selbstzufriedenheit (bei aller Unzufriedenheit mit der Außenwelt). Eine Begeisterung für eine völlig neue Unzufriedenheit mit sich selbst. Eine Begeisterung für eine kraftvolle, mutvolle Entwicklung der eigenen Seele. Nicht Sattsein und mediale und andere Unterhaltung konsumieren, nicht Abwinken und Sich-Abwenden, um die eigene Ohnmacht und Oberflächlichkeit aufzuwerten – sondern sich in das Leiden an den Dingen wirklich hineinbegeben und auf der anderen Seite in eine immer tiefere innere Regsamkeit und Aktivität hineinkommen. Interesse, inneres Streben, moralische Entwicklung. Innerlich tätig sein, regsam sein, nie aufhören. Aber auch nicht „aktivistisch“, sondern mit einem immer mehr sich bildenden inneren Zentrum der Ruhe, der Demut, eines tiefen, stillen Mutes.

Ein innerer Mensch muss zum Aufstehen gebracht werden.

Dieser innere Mensch ist es, der wirklich an den Dingen leiden kann, ohne sich sofort zu empören. Die Seele weiß dann, dass sie das Empfinden des Schlimmen erst wirklich tief haben muss, um daraus etwas geboren werden zu lassen. Das wirkliche Leiden, das heute so wenig „gekonnt“ wird, ist eigentlich dasjenige, was in unserer Seele die Furchen zieht, aus denen heraus erst wirkliche Frucht hervorgehen kann... Der innere Mensch wird die wahre „Passion“ lernen, ein bewusstes, wollendes, wirkliches Leiden an den Dingen, ohne sich sofort dagegen zu wehren, durch Protest, durch Ohnmacht, durch was auch immer. Wer leidet denn wirklich an der Ungerechtigkeit in der Welt? Wer leidet denn am Bienensterben? Wer leidet denn wirklich? Es ist alles so furchtbar oberflächlich – und flüchtet dann sehr schnell ganz in das bloß Gedankliche oder dumpf-antipathische Sich-Empören. Das reine Leiden der Seele als solches wird heute fast absolut nicht mehr gekannt und empfunden.

Was wir heute wirklich brauchen, ist Passion, ist ein tiefes, ein reines, ein demutvolles Leiden ... an der Welt und auch an der Welt unserer eigenen Seele. Erst wenn wir dieses wahrhaftige Leiden lernen werden, und wenn wir dann lernen werden, es wahrhaftig und lange fühlen, aushalten, tragen zu können ... erst dann werden wir darauf hoffen dürfen, dass sich aus diesem Leiden etwas erheben wird, was heilend wirken werden wird. Dieses Etwas wird dann auch „Passion“ sein, aber verwandelt in eine heilige Leidenschaft. Diese aber wird einem völlig verwandelten Menschen gehören.

Suchen wir also, um diesem Rettenden entgegenzuleben, zunächst in tiefer Wahrhaftigkeit die lange Passionszeit der Seele... Suchen wir mit allem Willen das wirkliche Leidenkönnen an der jetzigen Wirklichkeit der Außenwelt und der eigenen Innenwelt! Was aus dieser wirklichen Passion dann zuerst langsam, langsam geboren werden wird, ist eine immer tiefere Sehnsucht nach innerer Verwandlung...