28.03.2015

Rudolf Steiners Erkennen und Clements Deutung

Eine Entgegnung auf eine aktuelle Darstellung Clements.


Inhalt
Clements Aussagen
Berkeley, Kant, Hegel – oder Steiner?
Mentale Bilder und abhängige Wesenheiten
„Innenerfahrung“ zwischen Selbstverständlichkeit und Verengung Steiners


Clements Aussagen

In einer aktuellen Stellungnahme auf eine Besprechung seiner Einleitung zur SKA 7 schreibt Christian Clement Folgendes (meine Übersetzung folgt unten):

What I actually have said in my introduction is this: what Steiner describes as “spiritual beings” can not adequately be understood  if we think about it as “things” or "objects" in some transcendent realm called “the spiritual world”, that exists separated from and independent of the "I" that perceives and knows it. Based on Steiner's epistemological framework, which he outlined in his philosophical writings, both the “spiritual world” and the “sensual (material) word” must be understood as metaphorical expressions for two states of consciousness, two modes in which the “I” experiences itself. Hence, both modes (and their particular contents) do not exist separated from or independent of the “I” which constructs, perceives and interprets them.
In other words: the "angle" - as angle - exists only as long as a human being is there to imagine it, just as a tree falling in the forest only makes a sound as long as there is a human being to hear it. And just as there are only "tables and chairs" in the "physical world", as long as a human being conceives of them. - This does not mean that the reality that manifests itself as the imagination of the angle or the perception of the sound or the mental image of the chair does not exist.
Based on this interpretation of Steiner's epistemological framework, I have argued: when Steiner says: "there are angels in the spiritual world”, what he actually means is: "one can have certain inner experiences and describe those experiences as perceptions of spiritual beings and their deeds." The "angle" in the "spiritual world" is an objectification of an inner experience, just as the "chair" in the "physical world". It is a subjective representation of an objective act, just like the sound of the falling tree.
In my introduction I made the case, that Steiner's text are to be read with this kind of awareness. If this is not done, these texts can be misunderstood as revelations about a transcendent reality or as naive metaphysical speculations. Many uncritical anthroposophists read them in the first way, many critics in the second - und both are, in my opinion, missing the point. The first misreading turns Steiner into a prophet, the other turns him into a fool or a con-man. Both readings, however, can not be substantiated if our understanding of anthroposophy is solely based on Steiner's published writings.
Now, one can question whether this is a correct interpretation of Steiner's epistemological framework, and I do welcome any argument trying to refute it. But it is misleading and distorting to suggest this to mean that, according to Clement, Steiner "did not believe in supersensible perception or spiritual beings". On the contrary: Clement tries to understand Steiner's notions of supersensible perception and spiritual beings as integrated into his philosophical framework of human cognition.

Was ich in meiner Einleitung tatsächlich gesagt habe, ist: Was Steiner als „geistige Wesen“ beschreibt, kann nicht adäquat verstanden werden, wenn wir hier an „Dinge“ oder „Objekte“ in irgendeinem transzendenten Reich namens „geistige Welt“ denken, das getrennt von und unabhängig vom „Ich“, welches es wahrnimmt und kennt, existieren würde. Basierend auf Steiners Erkenntnistheorie, die er in seinen philosophischen Schriften darstellte, müssen sowohl die „geistige Welt“ als auch die „sinnliche (materielle) Welt“ als metaphorische Ausdrücke für zwei Bewusstseinszustände, zwei Arten, in denen das „Ich“ sich selbst erlebt, verstanden werden. Daher existieren beide Arten (und ihre jeweiligen Inhalte) nicht getrennt oder unabhängig vom „Ich“, das sie konstruiert, wahrnimmt und interpretiert.
Mit anderen Worten: Der „Engel“ – als Engel – existiert nur, solange ein Mensch da ist, der ihn sich vorstellt/imaginiert, genauso wie ein Baum, der im Wald umstürzt, nur ein Geräusch macht, solange ein Mensch da ist, der es hört. Und genauso wie es nur solange „Tische und Stühle“ in der „physischen Welt“ gibt, wie ein Mensch sie sich denkt. – Dies bedeutet nicht, dass die Realität, die sich als die Imagination des Engels oder Wahrnehmung des Geräusches oder mentales Bild des Stuhls manifestiert, nicht existiert.
Basierend auf dieser Interpretation von Steiners erkenntnistheoretischem Werk, habe ich behauptet: Wenn Steiner sagt: „in der geistigen Welt gibt es Engel“, meint er eigentlich: „Man kann bestimmte innere Erfahrungen haben und solche Erfahrungen als Wahrnehmungen geistiger Wesen und ihrer Taten beschreiben.“ Der „Engel“ in der „geistigen Welt“ ist eine Vergegenständlichung einer inneren Erfahrung, so wie der „Stuhl“ in der „physischen Welt“. Es ist eine subjektive Repräsentation eines objektiven Aktes, wie das Geräusch des fallenden Baumes.
In meiner Einleitung habe ich dafür plädiert, dass Steiners Text mit dieser Art von Bewusstsein zu lesen ist. Wenn dies nicht getan wird, können diese Texte als Offenbarungen einer transzendenten Realität oder als naive metaphysische Spekulationen verstanden werden. Viele unkritische Anthroposophen lesen sie auf die erste Weise, viele Kritiker in der zweiten – und beide verfehlen meiner Meinung nach den eigentlichen Punkt. Die erste Missdeutung verwandelt Steiner in einen Propheten, die andere in einen Narren oder Schwindler. Beide Lesarten jedoch lassen sich nicht erhärten, wenn unser Verständnis von Anthroposophie sich nur auf Steiners veröffentliche Schriften stützt.
Nun, man kann sich fragen, ob dies eine korrekte Interpretation von Steiners erkenntnistheoretischem Werk ist, und ich begrüße jedes Argument, das versucht, sie zu widerlegen. Doch es ist irreführend und sinnentstellend, zu meinen, Steiner habe laut Clement „nicht an übersinnliche Wahrnehmung oder geistige Wesen geglaubt“. Im Gegenteil: Clement versucht, Steiners Bemerkungen über übersinnliche Wahrnehmung und geistige Wesen im Zusammenhang mit seinem philosophischen Werk über das menschliche Erkennen zu verstehen.

Berkeley, Kant, Fichte, Hegel – oder Steiner?

Das Problem ist, dass es bei Clement nach wie vor unklar bleibt, was er eigentlich exakt meint und wie seiner Deutung nach der Zusammenhang zwischen den höheren Wesenheiten und dem „Ich“ exakt zu denken ist.

Clement drückt sich zwar relativ exakt aus – aber gerade in dieser entscheidenden Frage reicht dieser Grad an Exaktheit nicht, um nicht doch wiederum gewaltig unterschiedliche Deutungen zuzulassen.

Der fallende Baum macht nur ein Geräusch, solange ein Mensch da ist, der es hört? Schon das ist bereits nicht wahr. Selbst wenn kein Mensch da wäre, der es hört, würden die Tiere des Waldes es sehr wohl hören – nur vielleicht nicht auf menschliche Art. Dennoch macht der fallende Baum auch für Tiere ein Geräusch.

„Tische und Stühle“ sind nur so lange da, wie ein Mensch sie sich denkt? Wo ist hier der Zusammenhang mit Steiners Erkenntnistheorie, mit Steiners Beschreibung des Erkennens? Rudolf Steiner sagt etwas völlig anderes. Er sagt: Die menschliche Organisation reißt die Wirklichkeit in zwei Teile auseinander: Wahrnehmung und Denken. Würde der Mensch nur die Wahrnehmung haben, gäbe es für ihn keine Tische und Stühle – das Denken fügt jedoch der Wahrnehmung den Begriff hinzu, in dem das Wesen der Dinge lebt, es führt den Menschen in die volle Wirklichkeit.

Die Wirklichkeit ist nicht nur dann da, wenn ein Mensch sie erkennt – und auch Tische und Stühle sind nicht nur dann da, wenn ein Mensch „sie sich denkt“. Sehr wohl aber ist das menschliche Erkennen nicht nur ein wirkungsloses Abbilden einer Wirklichkeit, sondern der erkennende Mensch wird selbst wiederum eine Wirklichkeit und stellt in die gesamte Wirklichkeit eine ganz neue Wirklichkeit hinein: das menschliche Erkennen.

Gegen einen Berkeley trat Steiner auf – der den Baum nur existieren lassen wollte, wenn ein Mensch ihn sich vorstellt. Gegen einen Kant trat Steiner auf, der hinter den Dingen noch ein transzendentes, nie erkennbares Eigensein („Ding an sich“) postulierte. Dass der Mensch im Erkennen mit den Dingen, mit der Welt wirklich verbunden ist – das wollte er in philosophischen Begriffen deutlich machen und die Menschen erleben lassen.

Clements Deutung dagegen enthält einen neuen Dualismus: Der Mensch begegnet im Erkennen letztlich immer nur seinem eigenen Erkennen, niemals aber dem, was sich darin eigentlich manifestiert. Zwar manifestiert sich etwas, aber im Erkennen metamorphosiert es sich immer schon zu dem, was das Ich erkennt, wobei in das Erkennen des Ich immer das Ich selbst einfließt, so dass das Erkennen immer vor allem Selbst-Begegnung ist, vom Selbst gefärbtes Erkennen von etwas, was aber nie „an und für sich“ erkannt wird. Das ist wieder ganz Kant, Fichte oder Hegel (je nachdem), aber nicht Steiner.

Mentale Bilder und abhängige Wesenheiten

Steiner hat nicht vom mentalen Bild des Stuhls gesprochen, sondern vom Stuhl – und zwar, genauer, sogar vom Wesen des Stuhls. Der erkennende Mensch ist nicht getrennt von der Wirklichkeit, er vereinigt sich mit ihr erkennend in tiefstem Sinne. „Mentale Bilder“ sind keine Vereinigung, sondern ein neuer Dualismus, denn sie implizieren eine transzendente Wirklichkeit, die eben gerade nicht erreicht wird. „Es hat mit der Natur der Dinge nichts zu tun, wie ich organisiert bin, sie zu erfassen.“ (Steiner). Das mit der Wahrnehmung sich vereinigende Denken erfasst die Natur der Dinge, nicht nur mentale Bilder. Der Mensch lebt erkennend innig vereint mit der Wirklichkeit.

Der Engel existiert nur, wenn der Mensch ihn imaginiert? Was will Clement hier exakt sagen? Meint er, die Imagination des Engels existiert nur, wenn sie existiert? Oder meint er, der Engel selbst existiert nur, wenn der Mensch ihn imaginiert? Und wenn der Mensch (der Geistesforscher, Steiner) erkennt, dass der Engel der Hüter des Schicksals ist, existiert das Schicksal vorher gar nicht? Was exakt will Clement sagen?

Clement deutet Steiner: „Man kann bestimmte innere Erfahrungen haben und solche Erfahrungen als Wahrnehmungen geistiger Wesen und ihrer Taten beschreiben.“ – Was ist damit nun eigentlich in Bezug auf die geistigen Wesen und ihre Taten gesagt? Dass sie existieren? Dass sie nicht existieren? Dass sie nur in der inneren Erfahrung des Menschen existieren? Oder nur als innere Erfahrung? Und wenn ein Mensch diese Erfahrung nicht macht? Und wenn kein Mensch sie gemacht hätte, nicht einmal Rudolf Steiner?

Oder will er sagen, dass die Erfahrungen, die Rudolf Steiner gemacht hat und die er als geistige Wesen und ihre Taten beschrieb, bereits Deutungen waren? Dass Rudolf Steiner seine Erfahrungen als geistige Wesen und ihre Taten gedeutet hat und man sie mit demselben Recht auch ganz anders deuten könnte? Was genau ist eigentlich der Gehalt von Clements Aussagen – worauf genau will er hinaus, was exakt will er deutlich machen?

Der Mensch hat innere Erlebnisse – und er sagt: „Dies ist ein Tisch.“ Der Mensch hat innere Erlebnisse und sagt: „Dies war ein Engel.“ Auf die Worte kommt es nicht an, sondern auf das, was der Mensch in dem einen und dem anderen Moment erkannt hat. Im Erkennen ist der Mensch mit der Wirklichkeit verbunden.

Die höheren Wesenheiten sind zunächst gewiss nicht abhängig vom menschlichen „Ich“, denn ihrem Wirken verdankt der Mensch überhaupt erst, dass er ein „Ich“ werden konnte und lernen konnte, mit diesem „Ich“ immer mehr ein bewusst Erkennender zu werden. So gesehen ist also der Mensch zunächst ganz und gar abhängig von diesen höheren Wesenheiten gewesen – und ist es in vielerlei Hinsicht, etwa in Bezug auf die Leibesvorgänge zwischen Leben und Tod, um nur ein Beispiel zu nennen, immer noch.

Erkannt werden können diese höheren Wesenheiten nur durch die Aktivität des Ich – was fast eine Tautologie ist, denn das Ich ist nun einmal die Instanz, die das Erkennen zu einer Wirklichkeit machen soll. Aber das Erkennen zu einer Wirklichkeit zu machen, bedeutet nicht, das Erkannte zu einer Wirklichkeit zu machen – es sei denn als Erkanntes für den Erkennenden. Der Erkennende erkennt, dass der Tisch ist – aber er hat ihn nicht erschaffen, er hat nur das Erkennen des Tisches im Ich realisiert und so gesehen erschaffen. Nun ist sein Erkennen des Tisches ein Teil der gesamten Wirklichkeit (geworden).

„Innenerfahrung“ zwischen Selbstverständlichkeit und Verengung Steiners

Wenn man hier nicht exakt differenziert, kommt man durch alle weniger exakten Deutungen Steiners sofort wieder in einen neuen Konstruktivismus, in einen neuen Dualismus, in neue transzendente Welten etc. hinein – aber Rudolf Steiners Erkenntnistheorie hat damit nichts zu tun.

Wenn Clement anders verstanden will, als es hier auseinandergesetzt worden ist, muss er sich exakter ausdrücken. Nach wie vor weist jedoch alles darauf hin, dass er ganz andere Erkenntnistheorien mit derjenigen Rudolf Steiners amalgamieren will, was aber letzterem niemals gerecht werden kann – auch und gerade nicht dem frühen Steiner und seinen erkenntnistheoretischen Schriften.

Wenig zielführend ist auch Clements Hinweis auf die angeblich sonst nur offenstehende Dualität zwischen „Offenbarungen einer transzendenten Realität“ oder „naive metaphysische Spekulationen“. Es ist jedem Anthroposophen klar, dass Steiners geistige Forschung und Geistesschau „innere“ Erlebnisse sind – aber ebenso klar ist es, dass bereits jeder Erkenntnis eines „Tisches“ innere Erlebnisse entsprechen: Wahrnehmung und Denken. Zugleich fallen aber bereits hier „innen“ und „außen“ in sich zusammen, ohne dass sie sinnlos werden – aber so, wie der Tisch außerhalb erlebt wird, kann ebenso gut das Ich als außerhalb erlebt werden, „bei den Dingen“.

In gleicher Weise bekommen „innen“ und „außen“ auch im geistigen Erleben eine völlig andere Bedeutung. Wenn Clement jedoch schreibt „Man kann bestimmte innere Erfahrungen haben...“, so ist er es, der den Begriff des „Innen“ verabsolutiert und nicht erkennt, wie er gerade an diesem Punkt beginnt, Steiner zu begrenzen und zu verengen – auf seine persönliche Deutung. Clement verabsolutiert hier die „inneren Erfahrungen“, wodurch alles, was dann folgt, subjektiver wird, als es von Steiner und in seiner Erkenntnistheorie dargestellt worden ist.

Wenn man Steiner hier ernster nimmt als Clement, bedeutet dies in keiner Weise, dass man in einen naiven metaphysischen Realismus zurückfällt oder aber Steiner zu einem Propheten macht. Es bedeutet nur, Steiner zu verstehen. Weder bedeutet Steiners Erkenntnistheorie, sich höhere Wesenheiten wie „Dinge“ vorzustellen, noch bedeutet ein Verstehen Steiners, seine späteren Schilderungen als „Offenbarungen einer transzendenten Realität“ hinzunehmen. Transzendent-unzugänglich ist diese Realität jedoch zunächst für denjenigen, der die Wahrnehmungsorgane noch nicht hat, die notwendig sind, damit sich die höheren Wesenheiten dem „inneren“ Erleben des Ich offenbaren können. Ebenso transzendent ist jedoch einem, der die Augen geschlossen hat, das Reich der Farben. Polemik ist hier sinnlos.