28.03.2015

Erkenntnis-Grenzen als Weg zur Anthroposophie

Von den Abgründen, die von der Anthroposophie trennen, und dem, was sie überwindet.


Inhalt
Rückblick und Übergang
Erkenntnis-Grenzen und ihre Bedeutung
Bedingungen
Ehrfurcht als Tatsache
Erkenntnisse
Anthroposophie
Das Wirksamwerden des Moralischen


Rückblick und Übergang

Die letzten Tage auf dem Eggert-Blog waren nahezu ein einziges Verharren an einem Punkt: Während ich fortwährend auf Einwände hinwies, die man gegenüber Clements Ansatz haben kann, und Eggerts Äußerungen (Pol Pot, Kühlewind) entgegentrat, wurde umgekehrt nur fortwährend meine Person gedeutet und psychologisiert.

Ich hätte nie gedacht, dass sich dies über mehrere Tage so extrem und in einer solchen Reinform hinziehen könnte. Wirklich keinerlei Eingehen auf irgendeinen der wesentlichen Punkte, die in den letzten Tagen aufgeworfen worden waren – wirklich keinerlei Abweichen von einem immer weiter sich fortsetzenden Interpretieren, Psychologisieren, Deuten und „Beraten“ meiner Person.

Es ist natürlich deutlich, was die Herren dieser kleinen Blog-Gemeinde zum Ausdruck bringen wollten. Sie wollten sagen – und ich kann hier wiederum Christian Clement selbst zitieren –, ich sei „aufgeblasen, überheblich, unreflektiert, einseitig, dogmatisch, unoriginell, verurteilend und arrogant.“ Diese Reihe von bewertenden Adjektiven muss man erst einmal einem Menschen, und sei es virtuell, ins Gesicht sagen!

Immerhin bezog Clement dies nur auf die Wirkung meiner Texte auf ihn, insofern war er darin sehr korrekt. Und er blieb auf der Ebene der Subjektivität, indem er dann sagte: „Daher habe ich nicht die geringste Lust, mich darauf einzulassen.“ Danach jedoch folgte eine Unterstellung: „Denn alles, was ich sagen könnte, würde ja an Ihnen abprallen und abgleiten wie das Fett von der Teflonpfanne.“

Es ist interessant, bis wohin die korrekte Ausdrucksweise reicht – und ab wo die ungeprüften und unüberprüfbaren Urteile beginnen. Hier zeigt sich, bis wohin die Selbst- und die Welterkenntnis reicht, und an diesen Punkten gälte es, intensiv zu verweilen, wenn es einem wirklich um Anthroposophie ginge. Clement unterlässt eine Entgegnung, weil er im Voraus weiß, dass ich mich gegen seine Argumente blind stellen würde? Was er zuvor noch als subjektive Wirkung auf ihn bezeichnete („dogmatisch“ etc.), wird nun doch eine Aussage über meine Person mit Wahrheitsanspruch („Teflonpfanne“), denn hier auf einmal weiß Clement ja angeblich doch, dass ich so bin! Obwohl er doch gerade vorher noch gesagt hatte: „Ich behaupte nicht, dass Ihre Texte oder Sie WIRKLICH SO SIND; ich sage nur, dass sie AUF MICH SO WIRKEN.“

Erkenntnis-Grenzen und ihre Bedeutung

Dies sind wirklich entscheidende Punkte für das Verständnis der Anthroposophie überhaupt. Indem man an solchen „Erkenntnis-Grenzen“ verweilt, kann man viel, viel tiefere Erfahrungen machen, als wenn man lehrreiche SKA-Einleitungen liest, Steiner-Bände überfliegt, belanglose Deutungsschlachten führt oder einfach nur weiter in den Alltag hineinlebt. Hier, an diesen Punkten, kann man wirkliche Erfahrungen machen. Man kann erfahren, wo das Verbleiben in der Wirklichkeit übergeht in ein bloßes Deuten, in ein Schein-Wissen, in den bloßen Schein des Wissens.

Warum ist dieser Punkt so wichtig? Empfinden wir zunächst noch einmal, was hier geschieht: In dem einen Satz – und es ist egal, wer ihn über wen ausspricht – wird gesagt, es werde nicht behauptet, dass eine Person oder ihre Texte „wirklich so sind“, sondern nur dass sie auf einen selbst (subjektiv) so wirken. Im zweiten Satz wird dann gesagt, dass man daher jedoch keine Lust habe, sich darauf einzulassen. Und schon im nächsten Satz wird gesagt, dass dies ohnehin keinen Sinn hätte – weil die Person ja doch wirklich so sei, wie ihre Texte wirken!

Diese Stellen muss man bemerken – wie hier etwas, was vorher gesagt wurde, selbst ad absurdum geführt und für unwahr erklärt wird, um eine andere Wahrheit an dessen Stelle zu setzen ... und das Ganze, ohne dass es der so sprechende bzw. schreibende Mensch selbst bemerkt!

Warum ist das Erleben genau solcher Punkte so wichtig? Weil man hier ein Bewusstsein davon bekommen kann, was es heißt, mit dem Denken verbunden zu bleiben. Und weil man hier ein Bewusstsein davon bekommen kann, welche Instanz dies eigentlich sein müsste, die mit dem Denken wirklich verbunden bleiben kann, die sich überhaupt erst einmal ganz mit dem Denken verbinden können soll... Es geht hier um die Frage des (wirklichen) Ich. Jeder Mensch glaubt sich seines Ich und seines Denkens sicher – aber an diesen Punkten kann man in ein Erleben hineinkommen und lernen, den Punkt zu erfassen, wo das wirkliche Ich und das wirkliche Denken überhaupt erst beginnen.

Durch Rudolf Steiner kann man zu der Erkenntnis kommen, dass das gewöhnliche Denken und das wirkliche Denken durch einen Abgrund voneinander getrennt sind – und an Punkten wie dem oben beschriebenen kann man diese Erkenntnis immer wieder von Neuem aktuell nachvollziehen. Das gewöhnliche Denken geschieht passiv und von selbst, es „rollt so fort“, aber es ist nicht das wirkliche Ich, das denkt. Das wirkliche Denken ist volle Aktivität. Jeder einzelne Wort-Inhalt wird in seiner begrifflichen Bedeutung erlebt, bei jedem Wort wird geprüft, ob das, was es ausdrückt, der Wirklichkeit entspricht. In voller Aktivität steht das Ich in der Wirklichkeit darinnen und legt sich über sein eigenes Erkennen fortwährend Rechenschaft ab. Es geht nur so weit, wie es das Denken in voller Übereinstimmung mit der Wirklichkeit halten kann. Das bedeutet wirkliches Denken, das bedeutet mit dem Denken wirklich verbunden sein. Nur so kann wiederum das Denken mit der Wirklichkeit verbunden bleiben – nämlich durch das Ich, das erlebend in der Wirklichkeit darinnensteht.

Bedingungen

Man kann dieses Erleben nur haben, wenn man wirklich allen Stolz auf sein gewöhnliches Denken ablegt und tatsächlich versucht, in ein Erleben hineinzukommen – in ein Erleben, das nicht schnell über die Dinge hinweghuscht, sondern das bis hin zu einer starken Erschütterung kommen kann, wenn in einem Satz etwas völlig anderes behauptet wird als noch in dem Satz zuvor. Die Tatsache erkennen – und dann erleben. Wenn man dies allmählich immer mehr und immer stärker kann, kommt man in jene Aktivität hinein, in der überhaupt erst das wirkliche Ich anwesend zu sein beginnt, denn es ist dieses wirkliche Ich, das diese Aktivität zu entfalten beginnt.

Rudolf Steiner hat oft betont, dass es darum gehe, wieder in ein starkes Erleben von „wahr“ und „falsch“ hineinzukommen, davon, dass eine Unwahrheit im Geistigen nicht einfach nur eine Unkorrektheit ist, sondern ein „Mord“. Solche und andere Äußerungen sollen hinweisen auf die Art und die Stärke des Erlebens, die notwendig ist, um das wirkliche Ich zu erwecken – bzw. die das wirkliche Ich hat. Alles Andere ist zunächst Schein, ist scheinhaftes Denken, ist nicht das wirkliche Ich.

Hier, an diesen Punkten, wo in innerster, erlebender Aktivität das wirkliche Ich geboren wird, wird die Anthroposophie geboren. Immer mehr wird erlebt, wie sehr der Mensch durch ein wirkliches Denken in der Wirklichkeit darinnensteht – wie sehr dieses Denken selbst eine Wirklichkeit werden und innig mit der Welt verbunden sein kann. Immer mehr wird aber auch erlebt, wie sehr das gewöhnliche Denken bloßer Schein ist – wie sehr dieses mit der Wirklichkeit überhaupt nicht verbunden ist.

Der im gewöhnlichen Denken waltende Stolz lässt diese Erkenntnis natürlich nicht zu – sie kann nur in jenem anderen Denken da sein und erlebt werden. Das gewöhnliche Denken hält sich fortwährend für sehr wirklich und auch das Subjekt für anwesend. Man kann hier nichts anderes tun, als immer wieder zu versuchen, in jenes andere Denken hineinzukommen, in eine viel stärkere Aktivität, in ein von dem gewöhnlichen vollkommen verschiedenes Erleben der Wirklichkeit.

Wer es mit diesem Streben ernst meint, wird solche Punkte auch erreichen. Er wird einen Punkt erreichen, an dem er sich fragt: Wie kann es sein, dass man in zwei aufeinanderfolgenden Sätzen zwei völlig verschiedene Dinge behauptet? Er wird es erreichen, den Wechsel der Betrachtungsart, der zwischen diesen beiden Sätzen liegt, immer stärker zu erleben. Exakt den Punkt zu erleben, wo das Noch-in-einer-Wirklichkeit-Stehen verlassen wird und das Denken übergeht zu einem von der Wirklichkeit losgelösten Eigensein. Er wird es erreichen, über diese immer tiefer erlebte Tatsache eine Erschütterung zu empfinden. Und er wird es erreichen, in der eigenen Seele eine Sehnsucht danach zu erwecken, dieses In-der-Wirklichkeit-Stehen des Denkens immer tiefer zu lernen, zu verwirklichen.

Man kann vielleicht sagen, Anthroposophie beginnt mit der Sehnsucht danach, das Denken zu einer Wirklichkeit zu machen – und der Sehnsucht danach, dieses wirklich werdende Denken in Übereinstimmung mit der gesamten Wirklichkeit zu halten...

Ehrfurcht als Tatsache

Dieses hier angedeutete Erleben enthält bereits eine innere Seelenstimmung, die in diesem Sinne nicht notwendigerweise vorausgesetzt wird, die aber im Laufe der Entwicklung selbst erwacht. Es ist die Empfindung der Ehrfurcht, die sich zunächst auf die Wahrheit richtet. Es handelt sich hier um nichts Dogmatisches oder bloß Gefordertes, es ist etwas, was in der Seele selbst erwacht, wenn sie sich auf den inneren Weg begibt. In der Tatsache der Sehnsucht selbst liegt bereits diese Stimmung der Ehrfurcht – Sehnsucht kann die Seele nur empfinden, wenn sie Ehrfurcht hat. In gewisser Weise ist es gerade die erwachende Ehrfurcht, die die Sehnsucht weckt...

Wenn aber diese tiefe Verantwortlichkeit gegenüber der Wahrheit erwacht, weil die Seele beginnt, die Wirklichkeit des Denkens zu erleben und sich mit dem („geboren“ werdenden) wirklichen, tätigen Ich zu verbinden, weitet sich die damit untrennbar verbundene Ehrfurcht auch auf Anderes aus. Die Verantwortlichkeit gegenüber der Wahrheit kennt keine Grenzen, weil die Wirklichkeit selbst letztlich keine Grenzen kennt. Die Ehrfurcht wird so immer mehr eine Grundstimmung der Seele überhaupt – und diese empfindet, dass sie nur auf diesem Wege zu einer Entwicklung finden kann, weil sie nur auf diesem Wege mit der Wirklichkeit verbunden bleibt und sich immer tiefer mit dieser verbindet.

Wenn die Seele (ich spreche hier von der Seele, weil es fortwährend um ihre Verwandlung geht, was andererseits mit dem Geheimnis der Geburt des wirklichen Ich und ihrer beider Verbindung zusammenhängt, welch letztere aber nur durch die immer weitergehende Läuterung der Seele möglich ist und diese gerade impulsiert), wenn also die Seele in diese Ehrfurcht vor der Wahrheit hineinwächst, weil sie immer mehr die Wirklichkeit des Denkens kennenlernt und erlebt, die entfaltet werden kann, eine im Grunde heilige Wirklichkeit ... dann ist dies das erste Erleben einer wahrhaft geistigen Welt, aber bereits in diesem ersten Erleben liegt zugleich die ganze Welt des Moralischen.

Ein Mensch, der diesen inneren Weg zur Wirklichkeit des Denkens sucht und geht, kann die Ehrfurcht vor der Wahrheit nicht künstlich begrenzen – zumal das wirkliche Denken alles durchdringt. So wird der Weg zur Wirklichkeit des Denkens zugleich ein Weg zur Läuterung des Denkens. Denn man erlebt, dass das Denken gerade da immer wieder gar nicht wirklich, gar nicht volle Aktivität, Realität werden kann, wo es weiter von dem bloß Subjektiven erfüllt ist. Man kann sich mit Meinungen, Urteilen usw. gar nicht zum Wirklichen erheben – man bleibt unweigerlich im Unwirklichen befangen bzw. wird wieder in dieses zurückgestoßen. Liebe zur Wahrheit bedeutet, auf eigene Urteile gerade zu verzichten, sie ganz loszulassen – und nur das in voller Aktivität zu denken, was in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit steht, das heißt, was die Wirklichkeit selbst denken lässt, zu denken erlaubt.

Der Denker muss genau wissen, wann er noch in der Wirklichkeit steht, bis zu welchem Punkt er denkend mit der Wirklichkeit verbunden ist – und wann er aufhören muss zu denken, weil er nun beginnt, eigene Urteile in das Denken hineinzutragen, von denen er nicht wissen kann, ob sie einer Wirklichkeit entsprechen. Dies alles dürfen keine abstrakten Überlegungen sein, es muss ein inneres Erleben sein. In innerster, größter Aktivität muss das Denken in der Wirklichkeit stehen – und es darf nur so weit gehen, wie es dieses Erleben behält, selbst wenn es nur ein einziger Schritt ist oder vielleicht überhaupt keiner!

Es ist deutlich, dass dieser Weg ohne eine Liebe zu seelischer Läuterung überhaupt nicht ernsthaft betreten werden kann. Die Seele ist voll von Urteilen, die sie alle für wahr und berechtigt hält – und mit dieser Selbstüberzeugung erfüllt, wird sie alles Mögliche tun und immer meinen, auf dem richtigen Weg zu sein. Doch all diese Meinungen haben für den hier beschriebenen Weg keinerlei Bedeutung. Wenn der Mensch wirklich dazu kommt, zu erleben, was aktives, reales Denken eigentlich ist, wird er erleben, dass er nicht einen einzigen Schritt tun kann, ohne ihn voll und ganz zu verantworten und seine Wahrheit vollkommen anders zu erkennen und zu erleben, als es das gewöhnliche Denken und das Alltagsempfinden tut. Er wird erkennen, dass er ohne seelische Läuterung, ohne moralische Schulung keinen einzigen Schritt weiterkommt – außer wenn er all seine gewöhnlichen, allzu schnellen und falschen Urteile doch wieder in das Denken hineinträgt und sich einbildet, dies sei nun das „neue“, „wirkliche“ Denken.

An dem Grundsatz, dass eine innere Entwicklung nur über ernsteste moralische Entwicklung und Schulung zu erreichen ist, führt keine wahre Selbsterkenntnis vorbei.

Erkenntnisse

Das Kennenlernen des höheren, erstmals wirklichen Denkens führt zu einer wachsenden Ehrfurcht vor der Wahrheit, einem wachsenden Ernst im Erleben der Verantwortlichkeit gegenüber jedem einzelnen Gedanken – und einem wachsenden Ernst in der ganzen Art, zu sprechen, zu schreiben, zu urteilen bzw. nicht zu urteilen.

Gerade auf diesem Wege, der wirklich zu einem Weg der Läuterung des Denkens, aber damit untrennbar verbunden auch des Fühlens und des Wollens wird – und auch das wirkliche Denken seinerseits ist ja bereits zugleich ganz und gar wollend und fühlend –, wird auch dasjenige, was Rudolf Steiner über die höheren Wesenheiten gesagt hat, zu etwas, was in seiner Wirksamkeit zu einem unmittelbaren, immer differenzierteren Erleben wird.

Derjenige, der den wirklich abgrundtiefen Unterschied zwischen dem gewöhnlichen Schein-Denken und dem realen, ganz und gar aktiven, ehrfürchtig (und zugleich demutvoll-mutvoll) in der Wirklichkeit lebenden und webenden Denken zu erleben beginnt, versteht und erlebt unmittelbar, an welchen Punkten und wie das Denken von den Widersachermächten ergriffen und in ihr Reich abgelenkt und herabgezogen werden kann. Es sind genau die Punkte, wo das Denken nicht voll und ganz vom Ich geführt und verwirklicht wird – von jenem Ich, das nur in voller Ehrfurcht vor der Wahrheit denken kann, weil es weiß, dass es sonst aus der Wahrheit herausfällt und damit im Grunde sein eigenes Wesen ver-nichtet.

Dort aber, wo das Menschenwesen nicht ganz und gar aktiv in der Wahrheit lebt und webt (und der Bereich, in dem ihm dies möglich ist, kann wie gesagt zunächst erschütternd winzig sein), unterliegt das Denken, was sich dann vollzieht, ganz und gar dem Einfluss der Widersachermächte – und sofort können Trug und Schein, Unwahrheit, Täuschung, Illusion, falsches Urteil, Hochmut, können unendlich viele verschiedene Wirkungen in dieses Denken hineinfließen und sich untrennbar, unauflöslich und ununterscheidbar mit ihm vereinigen. Es gibt keinerlei Gegenmittel dagegen, keinerlei Unterscheidungsvermögen, keinerlei Möglichkeit, zur Wahrheit zurückzukehren als eine einzige: Wieder ganz an den Punkt zurückzukehren, wo das Denken ganz und gar mit der Wirklichkeit vereinigt ist, und das ist zunächst nur die Entfaltung der Willens-Aktivität, das reine Denken, ohne irgendein weitergehendes Urteil – und von da aus mit der Wahrheit verbunden zu bleiben und zu erleben, ob man noch irgendeinen Schritt tun kann oder nicht...

Eindrücklich erlebbar wird, wie zwei Mächte das Menschenwesen aus dem reinen und mit der Wirklichkeit verbundenen Denken fortziehen und herauswerfen wollen: die eine Macht will das Menschenwesen wieder in jene Sphäre hineinziehen, in der der Hochmut und alles Selbstbezogene leben; die andere Macht will das Menschenwesen in jene Sphäre hineinziehen, in der Kälte, starres Urteil, Spott und Unwahrheit herrschen. Beide Sphären durchdringen sich innig und sind doch durch und durch zu unterscheiden – und so auch beide Mächte.

Und so kann man auch immer mehr das Wesen derjenigen Sphäre erleben, in die man sich erhebt, wenn man das reine Denken verwirklicht – etwas, was zunächst und vielleicht für lange Zeit, vielleicht ein ganzes Leben lang, nur für Momente möglich scheint, aber selbst diese Momente sind mehr wert als alles andere, denn von ihnen strahlt allmählich und immer mehr auch etwas auf das übrige Denken und Leben aus. In dieser Sphäre, die man zunächst nur erahnt, dann für Momente und schließlich vielleicht immer länger und immer öfter erlebt, lebt erst das wahrhaft Menschliche. In dieser Sphäre lebt erst das wahre Menschenwesen – vorher oder anderswo ist es nicht, noch nicht, nicht mehr lebendig. Hier aber, wo man die Sphäre des wahrhaft Menschlichen zu erleben beginnt, kann man auch immer mehr zu einem Erleben des Wesens derjenigen Wesenheiten kommen, die mit dieser Sphäre zusammenhängen, die sie schützen, unter deren Hut diese Sphäre und überhaupt das wahre Menschenwesen steht.

Anthroposophie

Dies ist Anthroposophie – das immer tiefere Erleben derjenigen Wirklichkeiten, die dem gewöhnlichen Erleben ganz verborgen bleiben, weil es daran vorbeigeht, nicht darin verweilt, es gar nicht empfindet. Anthroposophie ist nicht bequem zu haben, sie beginnt erst da, wo man auch vor dem Erleben selbst eine große Ehrfurcht zu haben beginnt – wo man dahin kommt, das Menschenwesen und alle mit dem Werden dieses Wesens innig verbundenen höheren Wesen und Gegenmächte so tief und so hoch zu denken, dass alle gewöhnlichen, alle bisherigen Gedanken damit überhaupt nicht vergleichbar sind.

Das gewöhnliche Denken, Leben und Erleben kennt keine Heiligkeit, keine wirkliche Größe. Und es will alles zu seiner Kleinheit herabziehen und herabstutzen, in der es selbst lebt. Mit dieser Kleinheit und mit diesem eitlen Stolz auf das eigene Sein, mit dieser völligen Verweigerung, es als ein Schein-Sein und einen erbärmlichen, herabgesunkenen Zustand zu erkennen, ist Anthroposophie unmöglich zu verwirklichen. Bleibt die Seele in diesem Zustand, wird sie die Anthroposophie niemals in sich lebendig machen können – immer nur als Illusion. Anthroposophie gewinnt nur da Leben, wo ein radikaler Schnitt gemacht wird, wo eine radikale Gewissenserforschung einsetzt, wo ein radikal anderes Erleben gefunden wird. Das gewöhnliche Leben und Denken verhält sich zu der Wirklichkeit des Denkens und dem wirklichen Leben im Geistigen wie der Tod zum Leben, wie der Schatten zum Licht.

Nur da, wo dies vollkommen ernst genommen und verstanden wird, kann man erwarten, dass ein Verständnis für das Wesen der Anthroposophie möglich werden kann.

Wenn das Erleben aber so weit kommt, dass zumindest eine reale Ahnung von dieser wahrhaft unvorstellbaren Heiligkeit und kosmischen Größe des wahren Menschenwesens da ist, wird sich alles Denken und Sprechen, auch das mehr gewöhnliche, noch nicht von der geistigen Kraft des wahren Ich erfüllte, durchgreifend verändern. Auch wenn man im gewöhnlichen Leben noch schwach ist, auch wenn man nach wie vor das gewöhnliche Denken handhabt, das kraftlos ist, dafür aber gerade wie von selbst da zu sein scheint – wird man dennoch immer mehr so viel Liebe zur Wahrheit und zum Wesen des Moralischen empfinden, dass man auch im gewöhnlichen Leben und Denken, Schreiben und Tun aufhört zu spotten, aufhört, allzu gewöhnlich zu urteilen, aufhört, auf das innerste Wesen irgendeines Menschen zuzugreifen und dieses mit irgendeinem Urteil zu berühren.

Dieses Empfinden kann auch im gewöhnlichen Leben und Denken da sein: Das Empfinden von der Heiligkeit des innersten Wesenskernes jedes einzelnen Menschen. Es muss nicht voll bewusst da sein und kann doch alles Denken begleiten und durchziehen. Hier, bei der Ehrfurcht vor dem anderen Menschen, kann das Höhere bereits in das gewöhnliche Denken hineinstrahlen und hineinwirken – und so verhindern, dass man weite Schritte in die Sphäre der Widersachermächte hinein macht. Mag manches sachliche Urteil vielleicht nicht voll mit der Wirklichkeit übereinstimmen, weil man noch nicht in einem rein geistigen, kraftvollen, realen Denken ganz mit der Wirklichkeit vereint leben kann – man wird niemals den Schritt machen, sich in gewöhnlichen Urteilen, die unmittelbar auf die Person eines anderen Menschen gerichtet sind, an diesem anderen Menschen und auch an seinem eigenen wahren Wesen zu versündigen.

Das Wirksamwerden des Moralischen

Dies ist vielleicht die erste Frucht einer leisen, keimhaft wachsenden wirklichen Verbindung mit der Realität der geistigen Welt, dass so real das Moralische in einem zu leben beginnt, dass man keine persönlichen, das Persönliche des anderen Menschen meinende Urteil mehr fällt und fällen will.

Auf der Erkenntnisebene will man kämpfen, da, wo man Unwahrheit erlebt, gerade in Bezug darauf, was einem heilig ist – etwa die Anthroposophie oder ein anderer Mensch –, aber mit Gedanken will man die Unwahrheit und auch die Wahrheit, die man erlebt, erlebbar machen. Nicht Urteile über eine Person will man fällen, sondern auf Allgemeines hinweisen, auf Wahrheiten, die nicht mit einer Person zu tun haben.

Wenn man diesen Unterschied noch nicht machen kann, ist man noch nicht bereit für ein Erleben des Wesens der Anthroposophie. Dieses Wesen verbirgt sich jedem, der noch nicht diese genannte Trennung machen kann, der noch nicht die Ehrfurcht vor dem Persönlichen des anderen Menschen empfindet, der noch die Lust und den Drang fühlt, zu spotten, zu urteilen oder zu interpretieren – und zwar in Bezug auf das ganz Persönliche des anderen Menschen.

Anthroposophie und das, wovon sie spricht, ist viel, unendlich viel heiliger als all unser gewöhnliches Denken, Erleben, Empfinden und Sein. Wem solche Gedanken noch unangenehm sind, der ist noch nicht bereit für ihr wirkliches Erleben und Verstehen. Wer lieber noch sein gewöhnliches Denken und Sein verehren und pflegen will, dem ist die Wahrheit noch nicht so heilig wie sein gewöhnliches Ich.

Dies ist ein entscheidender Scheidepunkt. Ich habe diese Wahrheit ebensowenig „gepachtet“ wie irgendjemand anders. Ich spreche sie nur deshalb aus, weil sie so oft mit Füßen getreten wird. Wer diesen Ernst lächerlich macht oder verspottet, offenbart nur seinen eigenen Standpunkt. Dies ist auch kein „Nachbeten Steiners“, denn alles in Gedankenform in diesem Aufsatz Geäußerte entspricht einer Wirklichkeit, zu der jeder Einzelne selbst kommen kann. Es ist auch keine Kult-Anthroposophie, denn sowohl die Ehrfurcht als auch die höheren Wesenheiten, die erwähnt wurden, entsprechen einer Wirklichkeit auf dem inneren Entwicklungsweg. Alle angedeuteten Urteile in dieser Richtung offenbaren wiederum nur den eigenen Standpunkt.

Wer Diesseits- und Jenseits-Anthroposophie oder Intellekt und Intellekt-Feindlichkeit und so weiter gegeneinander ausspielt, hat den entscheidenden Unterschied, den entscheidenden Abgrund noch nicht begriffen: den zwischen dem gewöhnlichen Denken und dem höheren, ganz und gar wirklichen Denken. In diesem nämlich zerfallen alle Schwarz-Weiß-Polaritäten, und ihm offenbart sich die Wirklichkeit als ein Drittes, in Bezug worauf all diese Polaritäten aus der Wirklichkeit herausgefallene Irrtümer, Fehlurteile usw. sind.

Das wirkliche Denken führt den Menschen zu dem Erleben des wirklichen Logos-Wesens und dieses ist es, das alle Irrtümer, aber auch überhaupt alle „Sündenkrankheit“ des Menschenwesens heilen kann...