31.03.2015

Die Widerlegung von Clements Thesen

Zum Nachweis der Unvereinbarkeit von Clements Thesen und Rudolf Steiners Anthroposophie.


Inhalt
Clements Erläuterungen zu "Engel" und "Ich"
Die Widerlegung


Clements Erläuterungen zu "Engel" und "Ich"

Christian Clement - Dienstag, 31. März 2015 um 04:14:00 MESZ
Engel und Ich (I/II)
Guten Morgen, lieber Herr Niederhausen, anbei einige Gedanken über das "Ich" und den "Engel" und wie Steiner sich desen Verhältnis meiner Meinung nach gedacht hat. Damit wir ganz orthodox bleiben, zunächst ein Zitat aus SKA 5 (Die Mystik):
"Ich lebe also ein Doppelleben: das Leben eines Dinges unter anderen Dingen, das innerhalb seiner Körperlichkeit lebt und durch seine Organe das wahrnimmt, was ausser dieser Körperlichkeit liegt; und über diesem Leben ein höheres, das kein solches Innen und Aussen kennt, das überspannend über die Aussen|welt und über sich selbst sich dehnt. Ich werde also sagen müssen: einmal bin ich Individuum, beschränktes Ich; das andere Mal bin ich allgemeines, universelles Ich."
Nach Steiner muss also das "Ich", ganz wie er es bei Fichte kennengelernt hat, einerseits als individuelles Wesen unter anderen Wesen (als individuelles Selbstbewusstsein, welches sich selbst erschafft, indem es sich wahrnimmt bzw. umgekehrt) und zugleich als universelles Wesen gedacht werden. Ganz dialektisch also.
"Wesen" ist eigentlich schon ungenau ausgedrückt. Ebenso Steiners Formulierung "Ding" unter andern Dingen. Denn das Ich ist für Steiner reine Tätigkeit. Sich ein "Ich-Wesen", gar einen "Wesenskern" zu denken, an dem Tätigkeit bloß vorkommt (der somit auch nicht tätig sein könnte), ist schon ein Bild, welches den reinen Begriff des "Ich" verwässert. Das Ich IST (bei Steiner wie bei Fichte) reine Tätigkeit und nichts als Tätigkeit; nicht etwa ein "Ding", ein "Etwas" welches tätig wäre. Der Begriff des "Ich" bei Steiner verwehrt sich gegen jegliche Verdinglichung, darum ist er ein so schöner Ausgangspunkt für das lebendige Philosophieren. Das individuelle "Ich" ist somit nicht zu verwechseln mit "Seele", "Persönlichkeit" etc. etc.. Es ist nichts anderes als das, was es tut.
So verstehe ich Steiners Begriff vom "individuellen Ich"; Zitate werden Sie mir ersparen, schlagen Sie einfach "Wahrheit und Wissenschaft" auf jeder beliebigen Seite auf.
(Fortsetzung folgt.)

Christian Clement - Dienstag, 31. März 2015 um 04:18:00 MESZ
Engel und Ich (II/II)
Nun zur universellen Seinsweise des "Ich". "Universell" müssen wir schon, wie ich meine, ganz ernst nehmen; universell heißt: nicht bloß nur ein "höheres" "geistigeres" Individual-Ich über dem individuellen Ich-Bewusstsein, etwa ein "höheres Selbst" unter anderen "höheren Selbsten". Wenn es ein "universelles" Ich gibt, kann es nur ein einziges geben. (Müssen wir auch nicht nachweisen, oder? Ergibt sich logisch aus dem Begriff "universell", und aus der Formulierung "es kennt kein Innen und Aussen". Andere "universelle Iche" müssten ja außerhalb gedacht werden.).
Wenn somit diese zweite Seinsweise des "Ich" universell ist und zugleich, wie ebenfalls im Begriff des "Ich" liegt", reine Tätigkeit ist, so folgt: Das universelle Ich ist die universelle Tätigkeit, d. h. der "Gott" der Religionen, der "unbewegte Beweger", das "Absolute" der Philosophen, der "logos" des NT, der "am Anfang war" und "aus dem alle Dinge hervorgehen". Alle Welten, alle Individual-Iche, alle Engel usw. usw.
Soweit Steiner. Das "Ich" ist Individual-Ich (also, per definitionem, Ergebnis der natürlichen Weltentwicklung ) und zugleich Universal-Ich (also, per definitionem, Ursprung, Grund und Medium der natürlichen Weltentwicklung). Man halte fest: nicht zwei "Iche", ein individuelles und ein universelles (also hinweg mit dem alten Bild von der "Seele" und von "Gott")! Sondern ein "Ich", welches zugleich beides ist, Vater und Sohn, universell und individuell. Bzw., genauer: ein universelles "Ich" welches, insofern es Individual-Ich ist, sich als in Individual-Ich und universelles Ich getrennt erscheint.
Im mythischen Bild: Gott der "Vater" (Universal-Ich) und der "Menschensohn" (Individual-Ich) sind eins.
Da kommt das Entweder-Oder-Denken natürlich nicht mehr hinter her; den Gedanken muss man, um ihn wirklich zu denken, dialektisch erfassen.
Vor diesem Hintergrund kann ich jetzt meine These noch einmal formulieren: DAS ICH (insofern es Individual-Ich ist) WIRD VOM ENGEL HERVORGEBRACHT. (Genauer: vom Universal-Ich, wobei das Bild des "Engels" Verbildlichung für einen gewissen Aspekt der universellen Schöpfungstätigkeit ist.) Und zugleich: DER ENGEL WIRD VON ICH (insofern es universelles "Ich" ist) HERVORBEGRACHT.
Ausserdem wird, gewissermaßen als mikrokosmisches Bild dieses makrokosmischen Vorgangs, auch der Begriff des "Engels" von der Denktätigkeit des individuellen "Ich" hervorgebracht.)
Soweit erstmal. Können Sie soweit mit mir mitgehen?

Die Widerlegung

Lieber Herr Clement, vielen Dank für Ihre Gedanken. In guter scholastischer Tradition gebe ich diese zunächst in Kurzform noch einmal wieder.

1. Sie zitieren Steiner: „Ich werde also sagen müssen: einmal bin ich Individuum, beschränktes Ich; das andere Mal bin ich allgemeines, universelles Ich.“ Und sagen dann, nach Steiner müsse also das „Ich“ dialektisch einerseits als individuelles Wesen und sich selbst erschaffendes Selbstbewusstsein, andererseits als universelles Wesen gedacht werden.

2. Die Bezeichnung „Wesen“ und „Wesenskern“ sei schon ungenau und bildhaft, denn das individuelle Ich sei für Steiner (wie für Fichte) reine Tätigkeit und nicht etwa ein „Etwas“, das tätig wäre.

3. Das universelle Ich sei nur ein einziges (nicht nur ein „höheres Ich/Selbst“ unter anderen), es kenne kein Innen und Außen, andere „universelle Iche“ müssten aber außerhalb dieses ersteren gedacht werden.

4. Das universelle Ich sei der „Gott“ der Religionen, der „unbewegte Beweger“, das „Absolute“, der „Logos“, aus dem alle Welten, alle Indivdual-Iche, alle Engel usw. hervorgehen.

5. Soweit Steiner.

6. Das „Ich“ sei nun zugleich Individual-Ich und Universal-Ich, also Ergebnis und Ursprung/Grund/Medium der natürlichen Weltentwicklung.

7. Es gebe nicht zwei „Iche“, nicht „Seele“ und „Gott“ (bloßes Bild), sondern nur ein „Ich“, das zugleich Vater(gott) und (Menschen)Sohn, universell und individuell sei (wobei sich das letztere in Individual-Ich und universelles Ich getrennt erscheint).

8. Das Individual-Ich werde vom „Engel“ = Universal-Ich hervorgebracht (der „Engel“ ist nur Bild für einen gewissen Aspekt von dessen Schöpfungstätigkeit), der Engel werde vom Universal-Ich hervorgebracht.

9. Mikrokosmisch bringe das Individual-Ich den Begriff des „Engels“ hervor.

Bevor ich mich diesen neun Punkten zuwende, gestatten Sie mir zunächst einige Rückfragen, zu dem, was ich vorher ausgeführt hatte und von dem ich nicht das Gefühl hatte, dass Sie mit mir mitgehen konnten:

A. Ich schrieb: Der naive Realismus vergisst das Denken – das ist seine Naivität. Wenn das Denken nicht vergessen wird, ist der Realismus auch nicht mehr naiv – und dann kann der Tisch ganz real der Tisch bleiben, denn der erkennende Mensch ist ja nun ganz dabei. Der naive Realismus ist zum spirituellen Realismus geworden. Das Wahrnehmen und Erkennen des Tisches ist zur „Spiritual Activity“ geworden.

Sie hatten daraufhin nichts anderes getan, als zu behaupten, ich würde dem naiven Realismus nur ein neues Etikett aufkleben. Können Sie diesem Prozess folgen, der in den Worten liegt „der erkennende Mensch ist ja nun ganz dabei“? Können Sie nachvollziehen, was geschieht, wenn das Denken nicht mehr vergessen wird und der Tisch DANN wahrgenommen wird? Das ist kein neues Etikett, sondern das gerade ist die radikale existentielle Umwandlung der naiven Erkenntnishaltung, die in gewisser Weise einer Neugeburt im Geistigen gleichkommt. Können Sie diese verfolgen und nachvollziehen, was Steiner meint, wenn er den Erkenntnisprozess beschreibt – der sich vollzieht, wenn er sich NICHT naiv, sondern mit vollem Bewusstsein ereignet?

(An diesem Punkt habe ich das Gefühl, ich bin es, der für eine „Diesseits-Anthroposophie“ und gegen eine neue „Kult-Anthroposophie“ kämpfen muss).

Jetzt zu Ihren neun Punkten.

Ad 1.

In diesem Steiner-Zitat aus GA 7 geht es um das Denken.

Zuvor zitiert er Paul Asmus: „Begreife ich etwas, so ist es in seiner ganzen Fülle meinem Begriffe präsent; im innersten Heiligtum seines Wesens bin ich zu Hause, [...] weil es mich durch die über uns beiden schwebende Notwendigkeit des Begriffes, der in mir subjektiv, in ihm objektiv erscheint, zwingt, seinen Begriff nachzudenken. Durch dies Nachdenken offenbart sich uns, wie Hegel sagt, – ebenso wie dies unsere subjektive Tätigkeit ist, – zugleich die wahre Natur des Gegenstandes.“

Und er leitet dieses Zitat wie folgt ein: „Ein Denken, das sich nicht durch logische Vorurteile den Weg zur inneren Erfahrung vermauert, kommt letzten Endes stets zur Anerkennung der in uns waltenden Wesenheit, die uns mit der ganzen Welt verknüpft, weil wir durch sie den Gegensatz von innen und außen in bezug auf den Menschen überwinden.“

In der „Philosophie der Freiheit“ finden wir die zentralen Sätze:

„In dem Denken haben wir das Element gegeben, das unsere besondere Individualität mit dem Kosmos zu einem Ganzen zusammenschließt. Indem wir empfinden und fühlen (auch wahrnehmen), sind wir einzelne, indem wir denken, sind wir das all-eine Wesen, das alles durchdringt. Dies ist der tiefere Grund unserer Doppelnatur: Wir sehen in uns eine schlechthin absolute Kraft zum Dasein kommen, eine Kraft, die universell ist, aber wir lernen sie nicht bei ihrem Ausströmen aus dem Zentrum der Welt kennen, sondern in einem Punkte der Peripherie. Wäre das erstere der Fall, dann wüßten wir in dem Augenblicke, in dem wir zum Bewußtsein kommen, das ganze Welträtsel. Da wir aber in einem Punkte der Peripherie stehen und unser eigenes Dasein in bestimmte Grenzen eingeschlossen finden, müssen wir das außerhalb unseres eigenen Wesens gelegene Gebiet mit Hilfe des aus dem allgemeinen Weltensein in uns hereinragenden Denkens kennen lernen.“ (S. 92).


Nicht also um ein universelles Ich geht es, sondern um die universelle Natur des Denkens. Steiner spricht nirgendwo von einem sich ergänzenden Gegensatz zwischen individuellem und universellem Ich, sondern vielmehr von einem in die Individualität hineinragenden universellen Element: dem Denken. Dieses schließt den individuellen Menschen mit dem ganzen Kosmos zusammen, weil in ihm, dem Denken und dem denkenden Menschen, das Wesen der Dinge aufleuchtet. Mit anderen Worten: Der erkennende Mensch vereinigt sich mit dem Weltganzen.

Der Unterschied liegt nicht zwischen individuellem Selbstbewusstsein und universellem Ich, davon spricht Steiner überhaupt nicht, sondern zwischen individuellem Fühlen und universellem Denken/Erkennen. Der individuelle Mensch ist bereits universell, indem er denkt und erkennt.

Ad 2.

In bezug auf die Begriffe „Wesen“ und „Tätigkeit“ kommt es nicht darauf an, den ersteren als eine Form des „naiven Realismus“ zu behaupten (eine bloße Behauptung), sondern auch ihn wirklich zu erfassen. Kann etwas reine Tätigkeit sein, was nicht zugleich Wesen ist? Kann das Ich wirklich wesen-los als reine Tätigkeit gedacht werden?

Fichte meinte ganz sicher nicht ein neues Entweder-Oder. Worauf wies Fichte denn eigentlich hin? Er wies darauf hin, dass das Ich noch gar nicht wirklich existent ist, wenn es nicht reine Tätigkeit ist. Ein Ich, das nicht reinste Tätigkeit entfaltet, ist noch überhaupt nicht – das ist der Grundgedanke von Fichtes „Tathandlung“. Das Rätsel, woher diese Tathandlung nun eigentlich kommt, bleibt bei Fichte, soweit ich sehe, voll und ganz bestehen.

Rudolf Steiner erweitert diesen Gedanken nun entscheidend, indem er darauf hinweist, dass es zwischen dem Ich-Bewusstsein, das bereits jede Nacht im Schlaf völlig verschwindet, und dem wirklichen Ich einen Unterschied gibt. Er machte deutlich, dass das gewöhnliche Ich-Bewusstsein, das zunächst nie verlassen wird, eine bloße Abspiegelung (mit Hilfe des physischen Leibes/Gehirns) des wirklichen Ich ist – und dass dieses wirkliche Ich nicht an den Leib gebunden ist, sondern ewig ist, und dass es sogar am Aufbau des Leibes mitwirkt.

Auch wenn dieses wirkliche Ich fortwährend tätig ist, ist es zugleich ein Wesen, denn es ist eine Individualität. Was eine Individualität ist, kann ohne den Begriff „Wesen“ nicht gedacht werden. Das wirkliche Ich ist also ein Wesen – und es ist gerade darum ein Wesen, weil es fortwährend in Tätigkeit ist, weil sein Sein wesenhaft, substantiell ist, im Gegensatz zum „Sein“ des leib-vermittelten Ich-Bewusstseins. Die Begriffe „Sein“ und „Wesen“ hängen mit dem Begriff der „Realität“ zusammen. Sie bezeichnen nicht ein totes Substrat, zu dem die Tätigkeit ein bloßes Akzidens wäre – das gerade wäre „naiver metaphysischer Realismus“. Das Andere aber ist wirklicher Realismus im Gegensatz zu Nominalismus oder Konstruktivismus oder ähnlichem. Das wirkliche Ich ist wesenhaftes Sein und fortwährendes „Wirken“ und „Tätigsein“ zugleich.

Ad 3.

Wie schon unter Ad 1. gesagt, spricht Rudolf Steiner nirgendwo in Ihrem Sinne vom universellen Ich – dagegen immer wieder vom höheren oder eigentlichen Ich.

Auch in Bezug auf das Innen und Außen ist im obigen Zitat, wie insgesamt, das Denken gemeint. Das Doppelleben, das Steiner beschreibt, ist einmal „das Leben eines Dinges unter anderen Dingen, das innerhalb seiner Körperlichkeit lebt und durch seine Organe das wahrnimmt, was außer dieser Körperlichkeit liegt“ (also leibgebundenes Ich-Bewusstsein und Wahrnehmung), und einmal „ein höheres, das kein solches Innen und Außen kennt, das überspannend über die Außenwelt und über sich selbst sich dehnt.“ – dies ist das Leben des Denkens, weil das Denken alles umspannt. Für das Denken gibt es kein „Außen“, denn alles, was „außen“ da ist, wird ebenso in seiner Wesenhaftigkeit erfasst, wie das Innere und natürlich das Denken selbst. 

Wenn Steiner abschließend sagt: „Ich werde also sagen müssen: einmal bin ich Individuum, beschränktes Ich; das andere Mal bin ich allgemeines, universelles Ich.“, dann meint er genau dies, was er zuvor ausführte: Individuum, beschränktes Ich bin ich als Leibeswesen, das individuell fühlt und wahrnimmt, universelles Ich bin ich als denkendes Ich (denn im Denken begreife ich das Wesen derselben Welt wie jedes andere denkende Ich. Es gibt auch im Geistigen nur ein Dreieck, nicht unzählige Dreiecks-Begriffe in unzähligen Köpfen).

Sie postulieren nun ein ganz anderes „universelles Ich“, das „ein einziges“ sei, weil andere universelle Iche ja außerhalb des ersten gedacht werden müssten und Steiner ja geschrieben habe, hier gebe es kein Innen und Außen mehr – doch mit alledem haben Sie Steiners Worte und Sinnzusammenhang bereits völlig verlassen. Steiner spricht vom individuellen Menschen und dem universellen Denken. In keinster Weise geht es hier um eine „Jenseits-Philosophie“ eines „universellen Ich“, die Sie konstruieren.

Ad 4.

Dieser Punkt entfällt – da hier weiter das „universelle Ich“ mit Gott, dem Absoluten, dem Logos usw. gleichgesetzt wird. Noch immer behaupten Sie, dies sei „soweit Steiner“, doch schon unter 3. haben Sie Steiner ganz verlassen – und bereits seit 1. die Begriffe „Ich“ und „Denken“ sehr anders verwendet als Steiner in dem Zitat, das Sie gerade herangezogen haben.

Ad 5.

„Soweit Steiner“ ist für alle bisherigen Punkte eine nicht wahre Behauptung.

Ad 6.

Jetzt beginnen vollends Ihre eigenen Thesen: Das „Ich“ sei zugleich Individual-Ich und Universal-Ich. Sie können diese vertreten, aber es sind ganz Ihre.

Ad 7.

Nachdem Sie das individuelle und universelle Ich wirklich gleichgesetzt haben, werfen Sie die Begriffe „Seele“ und „Gott“ fort, die Sie nicht mehr brauchen, da die Seele ja bereits Gott ist, ohne es zunächst zu wissen. Gott sei also bloßes Bild und Erfindung, weil das individuelle Ich nicht sein gleichzeitiges „Sein“ als universelles Ich erkennt. Sie setzten Vatergott und Menschensohn, die Sie als „mythische Bilder“ bezeichnen gleich. Alles wird hier gleich – es ist eine große Gleich-Macherei. Man darf nur nicht vergessen, dass all dies Ihre Thesen sind. Bei Ihnen ist also letztlich alles eins: Seele (die nicht existiert), Ich und Gott (der auch nicht existiert). Alles nur ein großes ICH.

Sie vergessen in Ihrer Gleichsetzung von Vatergott und Menschensohn den Gottessohn. Die Trinität als höchsten Begriff, um den das menschliche Denken jahrhundertelang gerungen hat, brauchen Sie nicht mehr, auch dies ist für Sie alles nur „Bild“. Wenn der Christus von sich sagt: „Ich und der Vater sind eins“ – was ist dies dann für Sie? Bild? Mythos? Erfindung? Eins, aber auch nicht eins, denn: „Niemand kommt zum Vater denn durch mich.“

So, wie Sie den Begriff des „Wesens“ abweisen, weisen Sie auch alle differenzierenden Begriffe ab, die dasjenige beschreiben, was zwischen Seele und dem tiefsten Gottesgrund zu finden ist, lebt und wirkt. Selbst da, wo die Wesen selbst sprechen (und sei es durch inspirierte Evangelisten), weisen Sie dies ab. Demnach wäre das Christus-Wesen eine bloße Erfindung des selbstentfremdeten (vom Universal-Ich entfremdeten Individual-)Ich, das sein eigenes Wesen nicht erkennt. Demnach aber wäre der Christus Jesus, wenn er überhaupt historisch wäre, mit all seinen Aussprüchen ... was? Ein bloßer Mensch, der zugleich aber sein göttliches Wesen mehr erfasst hätte als andere? Also der erste, seines Universal-Ichs bewusste Mensch? Der Mensch Jesus hat also einfach nur erfasst, dass er zugleich Gott/Christus ist?

Und umgekehrt würde das Universal-Ich sich an die Individual-Iche annähern – was dann vielleicht dem entspräche, was Steiner als die Taten des Christus-Wesens vor der Zeitenwende beschrieb? Das Universal-Ich, das Gott/Christus ist, hätte sich dann mit Jesus vereint, so dass aus einem individuellen Menschen nun das universelle Ich sprechen konnte?

Abstrakt ist dies alles denkbar. Nur führt es erneut hinein in den Streit zwischen Thomas von Aquin und Averroes: in den Streit um die Frage nach dem Wesen des individuellen Menschen. Averroes vertrat die Auffassung, das nach dem Tod die Individualität aufgeht in das Allgemein-Göttliche. Thomas von Aquin verteidigte die christliche Anschauung, dass dies nicht der Fall sei, sondern dass das Ich gerade wirklich individuelle geistige Substanz habe. Nichts anderes beschreibt auch Rudolf Steiner. Das Ich wird im Laufe der wiederholten Erdenleben immer und immer individueller. Insofern es Erfahrungen macht, die nach dem Tod als etwas Wesentliches bestehen bleiben, gewinnt seine geistige „Substanz“ immer mehr „Inhalt“, der Begriff „Individualität“ wird immer realer. Die Annäherung an die Gotteswelt wird nicht ein immer weitergehendes Verschmelzen von „Individual-Ich“ und „Universal-Ich“, die ohnehin schon eins wären, sondern die individuellen Ich-Wesen verbinden sich von neuem mit der Gotteswelt, ohne etwas von ihrem Eigensein zu verlieren. Dieses Eigensein ist gerade dasjenige, was im Laufe der Entwicklung immer mehr zunimmt. Es ist gerade der Sinn der Entwicklung.

Wenn es nur ein Universal-Ich gäbe, mit dem die Individual-Iche ganz eins sind, dann ist alles Individuelle nur Täuschung und würde die volle Bewusstwerdung des Einsseins eben zum Universellen führen. Dann könnte man dem Christus nur so nachfolgen, dass man selbst Christus wird – nicht ein weiterer Christus, sondern dieser Eine, denn es gibt nur Einen.

Ihre These, die alles in Eins setzt, lässt jegliche Individualität letztlich völlig verschwinden – oder sie kann eben nicht konsequent gedacht werden.

Ad 8.

Sie schreiben, das Individual-Ich werde vom Universal-Ich hervorgebracht. Auch der Engel sei nur ein Bild für einen gewissen Aspekt der Schöpfungstätigkeit des Universal-Ich. Hier zeigt sich, wie alles in ein Nichts, in ein einziges Eins verschwindet: Selbst der Engel und alle höheren Wesenheiten sind nur „Aspekte“ – auch sie sind keine wirklichen Wesen, nicht so eigenständig, wie Rudolf Steiner und auch andere esoterische Strömungen es beschreiben – sondern so uneigenständig und unwesenhaft, wie Sie es verstanden wissen wollen.

Zugleich verwirren Ihre Thesen die Leser vollends, weil niemals klar wird, ob Sie das Individual-Ich oder das Universal-Ich meinen. Für Sie entfällt dafür auch jede Notwendigkeit, weil beides ohnehin eins ist. Aber Sie hatten vor kurzem geschrieben:

„Mit anderen Worten: Der ‚Engel’ – als Engel – existiert nur, solange ein Mensch da ist, der ihn sich vorstellt/imaginiert, genauso wie ein Baum, der im Wald umstürzt, nur ein Geräusch macht, solange ein Mensch da ist, der es hört.“

Man könnte meinen, Sie sprechen hier in beiden Fällen vom Individual-Ich. Nachdem von mir dann mehrmals nachgefragt wurde, wie Sie diese Dinge konkret denken, haben Sie nun ausführlich geantwortet, wie Sie es denken. Und es stellt sich heraus, dass Sie nun eindeutig schreiben, der „Engel“ wird vom Universal-Ich hervorgebracht bzw. ist nur ein „Aspekt“ seiner Schöpfertätigkeit.

Mit anderen Worten, laufen Ihre Thesen auf Folgendes hinaus: Der individuelle Mensch wird von höheren Geistwesen getragen (Rudolf Steiner). Diese höheren Geistwesen sind aber wiederum nur Aspekte des nicht höchsten, sondern einzigen Geistwesens: das universelle Ich. Dieses wiederum ist aber identisch mit den individuellen Ichen. Letztlich trägt also der Mensch (und es gibt nur einen) sich selbst – und er muss es nur noch bemerken.

Wenn dies wirklich den Inhalt Ihrer Thesen wiedergibt, wäre es aus Ihrer Sicht ganz und gar berechtigt, von einem „Wesenszoo“ zu sprechen – denn in Ihrer Sicht gibt es keine Wesen. Das, was Steiner „höhere Wesenheiten“ nennt, sind in Ihrer Sicht nur Aspekte des einzig existierenden Wesens, Trugbilder, wenn der erkennende (individuelle) Mensch sie als „Wesen“ erlebt und bezeichnet. So wie es aber auch ein Trugbild wäre, sich selbst als ein Wesen zu bezeichnen, denn man ist nur „reine Tätigkeit“ – und auch dies nicht individuell, beziehungsweise nur insofern man (als Individual-Ich) seine Identität mit dem universellen Wesen noch nicht erkennt.

Der „Wesenszoo“ schließt also den Menschen selbst voll mit ein. Es gibt in letzter Hinsicht nicht einmal mehrere Menschen – nur, insofern „sie“ noch in einer Täuschung befangen sind, oder aber insofern sie sich bewusst dazu entscheiden, in der Trennung von dem einen, einzigen Universal-Ich zu verbleiben. Aber wie macht man das? Wie kann man individuell bleiben, wenn die Identität mit dem einzigen Universal-Ich gegeben ist?

Haben Sie in Ihrer These auch irgendwo berücksichtigt, dass Rudolf Steiner deutlich darauf hingewiesen hat, dass das „Ich“ selbst wiederum nur eine Stufe der Entwicklung geistiger Wesenheiten bezeichnet? Dass also bereits die Engel als unterste Wesen der höheren Wesenheiten bereits höhere Wesensglieder entwickelt haben? Wie können Sie das „Ich“ in Ihren Thesen derart verabsolutieren und alles Andere ausschalten? Sie können es nur, indem Sie alles auf ein Nichts reduzieren – auf Aspekte eines Einzig-Einzigen. Da wirklich alles wegfällt, fällt gar nicht mehr auf, was alles wegfällt.

Ihre These ist ein Rundumschlag, wirklich eine Weltformel. Anthroposophie besteht aber gerade in der Differenzierung, nicht in der Vereinheitlichung. Sie können das tiefgreifend in Mieke Mosmullers Buch „Arabeske“ nachlesen, eine Erwiderung auf Ken Wilber. Da wird der Unterschied wirklich eindrücklich – und man begreift zugleich das Bestrickende, Suggestive eines solchen großartigen Universalgemäldes, wie es Ihre These entwirft. Man begreift aber auch immer tiefer, wie sehr Sie Rudolf Steiner damit verlassen haben, von Anfang an. Sie schlagen gewissermaßen die entgegengesetzte Richtung ein. Die Möglichkeit, auf Steiners Frühwerke Bezug zu nehmen und auf Steiners Anknüpfung an den deutschen Idealismus (mit seiner „Ich-Philosophie“) hinzuweisen, gibt Ihnen die Möglichkeit, Ihre Thesen in ein Licht zu stellen, als hätten sie Ähnlichkeit oder sogar weitgehende Übereinstimmung mit Rudolf Steiners Anthroposophie. Aber dies ist nicht der Fall. Man kann dies deutlich erleben, wenn man erlebt, wie Sie schon im allerersten Punkt von Steiner abweichen. Wenn man die Konsequenzen durchdenkt, wird es immer deutlicher. Man kann dies in aller Klarheit durchdenken – aber wichtig ist, denn hier beginnt die Anthroposophie ja gerade, die Gedanken auch zu erleben. Dann wird der Unterschied eklatant und erschreckend deutlich.

Ad 9.

Ja, das Individual-Ich bringt den Begriff des „Engels“ hervor – so wie auch alle anderen Begriffe, weil der individuelle Mensch mit der Fähigkeit des Denkens begabt ist, die ihn zu einem erkennenden Wesen macht. Der Mensch kann den Begriff des Engels aber nur hervorbringen, weil ihm eine Wirklichkeit entspricht. Es gibt keine realen Begriffe, denen keine Wirklichkeit entspricht. Der Begriff des „Engels“ enthält das Wesen dessen, was der Mensch an Wesensbegegnung erfährt, wenn er einem solchen Wesen begegnet, wie er es mit dem Begriff „Engel“ bezeichnet. Rudolf Steiner hat diese Begriffe verwendet – und er hat ihnen Inhalt gegeben. Er hat beschrieben, was ein „Engel“ ist und was ein „Engel“ tut. Er konnte dies, weil er Wesensbegegnungen mit diesen Wesen hatte und weil der Mensch mit Hilfe jenes universellen Elementes, das dem Menschen gegeben ist, begreifen und erkennen kann, was er erlebt und wahrnimmt.

In letzter Hinsicht ist der Mensch dieses Erkennen – sein Wesen ist das Erkennen. Das, was der Mensch an individuellem Erkennen verwirklicht – in reinster Tätigkeit –, das ist er, das ist sein Wesen. Hier entsteht die spirituelle Substanz, die das individuelle Menschenwesen ist. Hier finden sich, tief durchdrungen und miteinander vermählt, Freiheit und Liebe als dasjenige, was sich verwirklicht, wenn der Mensch im Laufe einer noch langen Entwicklung zur Zehnten Hierarchie wird. Von Liebe durchdrungenes, in Freiheit verwirklichtes Erkennen, und von Liebe durchdrungenes schöpferisches Tun – siehe, das ist der Mensch!

Liebe entwickelt sich aber in und aus der Ehrfurcht. Liebe entwickelt sich im wirklichen Erkennen. Wirkliches Erkennen besteht nur in der wirklichen Dialektik von Einswerdung und Anderssein. Diese Dialektik findet sich als Realität in Ihren Thesen nicht. Das „Anderssein“, das in Ihren Thesen gerade aufgehoben wird, statt immer mehr zuzunehmen, ist das Grundgeheimnis jeder Entwicklung – die immer weiter fortschreitende Individualisierung und Differenzierung.

Das gerade ist das Grundgeheimnis der Anthroposophie. Das universelle Element soll gerade dazu verwendet werden, mit immer tieferer Liebe das Individuelle zu erkennen – wirklich zu erkennen, weil es wirklich da ist, in Überfülle, und weil es geboren werden soll, immer mehr.

Rudolf Steiner war nicht der, als den Sie ihn deuten. Sie zeichnen geradezu ein Gegenbild von ihm und seiner Anthroposophie.