01.04.2015

Der neue Kampf zwischen Realismus und Nominalismus

Vom Ringen um konkrete Begriffsbildungen und der Widerlegung spöttischer Konstruktivisten.


Heute stehen sich mitten im Umfeld der Anthroposophie zwei Geistesströmungen gegenüber, die sich schon einmal im Mittelalter gegenüberstanden: Der Nominalismus, der eine real existierende, differenzierte, wesenhafte geistige Welt leugnet, und der Realismus, wie ihn Rudolf Steiner vertrat. Im Mittelalter standen sich der arabische Philosoph Averroes und der christliche Philosoph Thomas von Aquin gegenüber.

Die Frage, welche Realität das Geistige hat, ist von unmittelbarer Konsequenz für das ganze Menschenwesen. Die nominalistische Auffassung kennt, wie ich gezeigt habe, im Grunde nichts zwischen dem individuellen Menschen-Ich und einem vorgestellten oder postulierten Universal-Ich. Christian Clement glaubt, mit seinen Thesen an den deutschen Idealismus anzuknüpfen – oder Steiner daran anknüpfen zu können –, aber seine Version offenbart einen höchst abstrakten Charakter. Mehr noch, er geht sorglos mit Aussagen Steiners um. Und hinter allem steht das Spöttische, Profane, das alle Vertreter des neuen Nominalismus gemeinsam zu haben scheinen: Clement, Eggert, Hau...

Einblicke in den Kampf um konkrete Begriffsbildungen und Einsichten:


 

Rudolf - Mittwoch, 1. April 2015 um 10:17:00 MESZ
Die ewigen Missverständnisse und das "sich nicht annähern können" aufgrund der im anthroposophischen Sinne abgeänderten bzw. erweiterten Wortbedeutungen!!!
Wenn man sich sinnvoll und auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtet unterhalten möchte, sollte eben auch eine gemeinsame Sprache verwendet werden.
Es ist klar, das Begriffe wie "Denken", "Bewusstsein", "Empfindung", "Erleben" usw. im anthroposophischen Sinne eine andere Bedeutung aben als im rein akademischen, lexikalischen oder umgangssprachlichen Kontext.
Die Fehler der Anthroposophie war es von Anfang an, Verwirrung durch Abänderung von Wortbedeutungen zu schaffen, mit dem Ergebnis einen Dialog zwischen Anthroposophen und Nicht-Anthroposophen zumindest gewaltig zu erschweren.
Wer Neuland betritt, sollte auch den Mut haben neue Begriffe zu definieren, neue Wörter zu schöpfen und nicht alles Tradierte und Gefestigte in Frage stellen.
Es sei denn, das wäre das (verborgene) Ziel.


Holger Niederhausen - Mittwoch, 1. April 2015 um 11:33:00 MESZ

Nein, Rudolf, das Problem sind nicht die Missverständnisse – das Problem ist der mangelnde Wille, Sie auszuräumen und ihnen auf den Grund zu gehen.

Die Anthroposophie gibt den Begriffen ihren vollen Inhalt zurück, während sie vorher in vagen, tradierten Vorstellungs-Schemen benutzt wurden und noch immer werden. Zunächst ist anzuerkennen, dass man gewöhnlich überhaupt niemals (bewusst und voll durchdrungen) Begriffe hat, sondern immer nur Worte und damit verbundene Vorstellungen. Dadurch entsteht der „naive Realismus“, auf den Herr Clement mit gewissem Recht hinweist, und zwar schon auf der Begriffsebene: Man hantiert Worte und stellt sich dabei irgendetwas vor, hat auch irgendein Bewusstsein und ein Wahrheitsgefühl dabei – aber alles bleibt ganz im Vagen und im automatischen, nahezu passiven Von-Selbst-Denken.

„Denken“, „Bewusstsein“, „Empfindung“, „Erleben“ sind Worte, die im eigenen Denken zu Begriffen werden können, wenn man rein erfasst, was mit diesen Worten wirklich ausgesagt wurde – seit ihrer Entstehung in der deutschen Sprache. Worte entsprechen immer einer Wirklichkeit, und sobald man erlebend (und sei es ± unbewusst) zu dieser Wirklichkeit vordringt, hat man auch (und sei es ± unbewusst) den Begriff. Dass sich die Verwendung mancher Worte und dadurch ihr Begriffsinhalt über die Zeiten auch sehr wandelt, ist die Ausnahme, die es zu jeder Regel gibt und auf die ich jetzt weniger eingehe.

Also nochmals: Das Neuland der Anthroposophie war zunächst, den überkommenen Begriffen wieder ihren lebendigen Gehalt zu geben und Wege zu weisen, wie auch der individuelle Mensch in seinem Denken wieder zu diesem lebendigen realen Gehalt kommen kann, indem nämlich das Denken selbst wiederum etwas Lebendiges und Reales, wirkliche Aktivität wird. Die Selbst-Ergreifung des Denkens in voller Wirklichkeit (nicht wieder als bloße Vorstellung) ist der Schlüssel zur Anthroposophie – aber auch zu jeder Verständigung. Denn im Denken „sind wir das all-eine Wesen, das alles durchdringt“. Da, wo Menschen sich bemühen, sich von Worten und Vorstellungen zu Begriffen zu erheben, da werden Sie immer die Erfahrung machen, einander verstehen zu können – wenn der gute Wille dazu da ist. Dieser lebt aber bereits in dem Bemühen, zu einem wirklichen Denken zu kommen.

Wenn es nicht Ihr verborgenes Ziel ist, die Anthroposophie bloß herabzusetzen, und wenn auch Sie wirklich das Neuland betreten wollen, um das es der Anthroposophie geht, dann lade ich Sie dazu ein, sich gemeinsam mit allen anderen Menschen darum zu bemühen, diejenige gemeinsame Sprache zu verwenden, die wirklich die allen Menschen gemeinsame ist: die Sprache, die im Erleben der Begriffe urständet. Wenn die erstarrten Vorstellungen wieder das Leben der realen, geistig erfassbaren Begriffe gewinnen, dann weichen alle Verständnisunterschiede einer wachsenden Übereinstimmung des Verstehens. Verabsolutieren Sie daher bitte nicht „akademische“, „lexikalische“ oder „umgangssprachliche“ Kontexte, die alle auf ihre Art feste und abstrakte Traditionen etablieren, sondern suchen Sie die Quelle, aus der alle diese Kontexte herab-geronnen sind.

Ingrid H. - Mittwoch, 1. April 2015 um 11:37:00 MESZ
Ich freue mich sehr darüber, daß Christian und Holger zum Begriff des „Ich“ so gründlich im Gespräch miteinander sind – und ich freue mich auch über Josteins Gedanken dazu.
Für mich macht es einen großen Unterschied in der Herangehensweise (nicht notwendig auch im Ergebnis; aber von einem end-gültigen Ergebnis bin ich für meinen Teil noch weit entfernt…), ob ich, indem ich diesem Begriff nachspüre, meinen Ausgangspunkt in den Texten Rudolf Steiners nehme, oder ob ich von Selbsterlebtem ausgehe.
Zum Ich-Begriff Rudolf Steiners möchte ich auf seinen Aufsatz Psychologische Aphorismen aufmerksam machen.
Darin heißt es unter anderem:
»Man kann das «Ich» auch die «Nacht des gewöhnlichen Bewußtseins» nennen. Je mehr sich der Mensch mit Gedanken von der Welt erfüllt, desto mehr tritt das Ich-Erlebnis zurück. Wenn aber das «Ich» stark erlebt werden soll, dann müssen die Gedanken von der Welt aus der Seele heraus. In diesen Gedanken aber erlebt sich der Mensch wie in seinem «inneren Tage»; im «Ich» erlebt er sich zunächst wie in der «inneren Nacht». Aber der innere Tag löst ihm nicht das Rätsel der Nacht. Ein anderes Licht muß in die innere Nacht hineinscheinen. Das «Ich» kann sein Lichtverlangen an dem Sonnenschein der Außenwelt nicht befriedigen. Aber nach Sonnenschein verlangt es. Ahnend lebt es in dem Verlangen nach Sonnenschein. Als Selbst verlangt das Ich Erfüllung aus der Selbstlosigkeit. – Es ist immer auf dem Wege, aus dem Quell der Selbstsucht den Strom der Selbstlosigkeit erstehen zu lassen.
[…]
So lange das Ich-Gefühl im gewöhnlichen Bewußtsein erlebt wird, bleibt es Verlangen nach Geist-Erfüllung. Es hört erst auf, dies zu sein, wenn das Licht der Sinne-Erkenntnis durchdrungen wird von dem Licht der Geist-Erkenntnis. Seelen-Erlebnis aus Sinne-Welt macht das Ich zum Begehren; Seelen-Erlebnis aus Geistes-Welt macht das Ich zum Seins-Inhalt.«
Herzlichen Gruß in die Runde,
Ingrid

Felix Hau - Mittwoch, 1. April 2015 um 11:43:00 MESZ
"Was versucht Niederhausen? Er versucht die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners im Lichte von Steiners Identitätsphilosophie anschauen."
Das ist eben leider nicht der Fall. Herr Niederhausen schaut - wie so viele andere - Steiners Identitätsphilosophie im Lichte einer später von Steiner entwickelten religiösen Überformung ihrer selbst an. Und dieses Licht ist stark gedimmt; es ist eher Stimmungsbeleuchtung als Leselampe.


Holger Niederhausen - Mittwoch, 1. April 2015 um 12:13:00 MESZ

Irrtum, Herr Hau. Sie unterstellen vor dem Hintergrund Ihres Verständnisses eine „religiöse Überformung“, und das, obwohl Steiner sich, und das wissen Sie, zeitlebens gegen alles In-Verbindung-Bringen von Religion und Anthroposophie verwahrt hat. Alles Reden von „religiöser Überformung“, aus welcher Richtung es auch kommen mag, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es Ihre eigenen Thesen sind, die Sie da vertreten und in die Welt setzen. Steiner hat nicht „religiös überformt“.

Sie sind es, die die Anthroposophie herunterdimmen wollen auf alles, was bleibt, wenn die angebliche „religiöse Überformung“ wegfällt. Lesen Sie in meiner Widerlegung Clements einmal, was da bleibt. Und fragen Sie sich einmal, warum Rudolf Steiner sich die Mühe gemacht haben sollte, zwanzig Lebensjahre demjenigen zu opfern, was er überhaupt erst „Anthroposophie“ nannte und was Sie bloß „religiöse Überformung“ nennen.

Laut Clement ist Rudolf Steiner „noch nicht lange genug tot“ – laut Ihnen hat er offenbar viel zu lange gelebt! Das ist, auf den Punkt gebracht, die Aussage, die Menschen wie Sie zu verbreiten suchen.

Jostein Sæther - Mittwoch, 1. April 2015 um 12:14:00 MESZ
„...im Lichte einer später von Steiner entwickelten religiösen Überformung...“ Darüber lässt sich sicher noch weitere 100 Jahren diskutieren; wird aber eine uninteressante Diskussion sein, weil sie wahrscheinlich nichts Neues liefern wird. Ein Gespräch darüber, ob es zur „Überformung“ ins Religiöse noch auch Überhöhungen, Überschreitungen, Übersteigerungen usw. des Selbst gibt, die das Religiöse überwindet zugunsten eines wissenschaftlichen Erweis des Geistigen, finde ich interessanter, zu führen.


Holger Niederhausen - Mittwoch, 1. April 2015 um 12:33:00 MESZ

Lieber Herr Saether, das Problem ist, dass Menschen wie Herr Hau auch jedes Erleben des Geistigen als „religiöse Überformung“ bezeichnen werden, sobald es vor dem Hintergrund ihrer eigenen Thesen und ihres eigenen Verständnisses in diesen Bereich kommt. Oder denken Sie, dass das, was Steiner widerfährt, Ihnen nicht widerfahren würde? Hat Steiner nicht, von Anfang an und bis 1925, das Religiöse überwunden und einen „wissenschaftlichen Erweis des Geistigen“ gebracht? Oder wollen Sie, wie Clement, alles auf das „Ich“ reduzieren? Dann wäre der „Erweis des Geistigen“ allerdings nichts anderes als eine „Übersteigerung des Selbst“. Bei Rudolf Steiner ist es gerade dazu nicht gekommen. Es gibt nicht nur das menschliche Selbst (sei es individuell, sei es „universell“). Sobald Sie dies aber versuchen, zu beschreiben, werden Sie von Menschen wie Hau und Clement entweder in die dogmatische oder die religiöse Ecke gestellt. Machen Sie weiter die Probe aufs Exempel!

Felix Hau - Mittwoch, 1. April 2015 um 13:15:00 MESZ
Herr Niederhausen, allein schon Ihre Behauptung, Steiner habe der Anthroposophie 20 Lebensjahre "geopfert" – die damit ausgedrückte Leidensglorifizierung, die gruselig-ernste Empfängnisgeste, mit der Sie sich der schillernden Persönlichkeit Steiners nähern, die Phantasielosigkeit, die Sie, voll im Rausch christlicher Offenbarung, in der Anthroposophie offenbar eine Art „Gottesgeschenk“ erblicken lässt, das ein Eingeweihter unter Verzicht auf sein persönliches Glück den Himmeln abgetrotzt hat – lässt so tief in Ihr religiöses Anthroposophenherz blicken, dass die Sinnlosigkeit jeder weiteren Debatte quasi mit Händen zu greifen ist. Das schreckt mich aber nicht; ich bin’s gewohnt.
Steiner war einer derjenigen "Begriffskünstler", als die er Philosophen einst beschrieb. Er schöpfte Energie aus unermüdlicher Tätigkeit, die auf ein massives Sendungsbewusstsein traf. "Nichts zu thun zu wissen", schrieb er in dem berühmten Fragebogen, sei für ihn das größte Unglück. „Welcher Beruf scheint dir der beste?“, fragt der Bogen – „Jeder bei dem man vor Energie zu Grunde gehen kann“ antwortet Steiner, der noch nach seiner Berufung sucht.
Und er war Priester. Ein Priester, der den Menschen kündete und deren kleinem Leben durch die phantasievolle Einbettung in evolutionswichtige Kontexte Bedeutung gab.
Freilich hat er auch das – seine Triebfedern – später religiös überformt. Aber so sehr Schaf kann man doch gar nicht sein, dass man das nicht erkennt; dass man in der Folge aus der Anthroposophie eine Offenbarungsreligion macht; dass man das „Denken im Dienste der Weltauffassung“ als Befehlsempfang der „Hierarchien“ missinterpretiert; und dass man diesen umtriebigen, illustren, humorvollen, originellen und schaffenden Geist, diesen einzelnen und einzigartigen Menschen Rudolf Steiner als einen asketischen Verkünder letzter Wahrheiten, als ein Werkzeug höherer Mächte interpretiert. Das ist eine Vergewaltigung!
Die Anthroposophie ist beides: eine gigantische Sinngebungsveranstaltung für Menschen, die sich und ihrem Leben nicht selbst Sinn geben können und das detailverliebte Lebenswerk eines schöpferischen Geistes, der um des Schaffens Willen schuf – und dabei seine Art von Glück gefunden haben mag.
Soweit zur Frage, „Warum Anthroposophie – und nicht weiterhin Philosophie? Soweit zu Steiner als Mensch und zur anthroposophischen Form als Ausdruck.
Und dann gibt es noch Motive. Über die zu sprechen hat aber im Grunde erst dann Sinn, wenn man den Ballast, den er mit seinem riesigen Welt- und Menschenentwickelungspanorama in die Welt, aber eben auch vor diese Frage geklatscht hat, mal beiseite räumt.
P.S.: Das Schlimmste und Ernüchterndste an Anthroposophen ist übrigens ihre Weigerung, individuellen geistigen Schöpfungen irgendeine Bedeutung beizumessen. Alles muss im – scheinbaren – Einklang mit der weisen Weltenlenkung geschehen, muss „Wahrheit“ (also das, was man für geoffenbarte Weltenobjektivität hält) in sich tragen, erst dann ist es beachtenswert. Genau aus dem Grund werden in Waldorfschulen bis heute diese absurden Kochlöffel geschnitzt, weil man individuelle und pragmatische Anregungen Steiners als ultimative Offenbarungen begreift.
Würde man Anthroposophen mit zwingender Beweiskraft darlegen können, dass es sich bei Steiner um denjenigen handelt, den u.a. ich in ihm sehe, würden sie ihn – unter Tränen, aber sie würden – in die Hölle fahren lassen, weil er sie „betrogen“ hat. Sie verstehen überhaupt nicht, dass sein Werk dadurch nicht geringer, sondern höher zu schätzen ist und er selbst um einiges sympathischer, glücklicher und freier dasteht, als in ihrem religiösen Zwangssystem.

Felix Hau - Mittwoch, 1. April 2015 um 13:20:00 MESZ
"das Problem ist, dass Menschen wie Herr Hau auch jedes Erleben des Geistigen als 'religiöse Überformung' bezeichnen werden, sobald es vor dem Hintergrund ihrer eigenen Thesen und ihres eigenen Verständnisses in diesen Bereich kommt."
Dummes Zeug, Herr Niederhausen. Menschen wie Herr Hau sind einfach nur in der Lage, Kleider von Leuten und Verpackung von Inhalt zu unterscheiden.

Ton Majoor - Mittwoch, 1. April 2015 um 13:52:00 MESZ
Bei Steiner gibt es in GA 17 (1913) ein weiteres Kapitel über das ‘wahre Ich‘ in Verhältnis zu Reinkarnation, und über das inspirierende ‘andere Selbst‘ in Zusammenhang mit Karma (vgl. die drei Formen des Ichs in Leitsätze 11-16).
Ein öffentlicher Vortrag verbindet die 'drei Iche' mit drei Erkenntnisarten:
…in Wahrheit wirken drei Iche im Menschen zusammen: Das inspirierende, das im Denken lebt, das herübergetragen ist aus der geistigen Welt und aus dem vorhergehenden Erdenleben; das intuitive, das in der gegenwärtigen Leiblichkeit lebt; und das imaginative, das hinübergetragen wird, wie ein Wagen den Insassen trägt, in die geistige Welt, in die eingetreten wird mit dem Durchgehen durch die Pforte des Todes. GA 67 (1918), 351-2

Ingrid H. - Mittwoch, 1. April 2015 um 13:33:00 MESZ
Lieber Holger,
»Die Anthroposophie gibt den Begriffen ihren vollen Inhalt zurück, während sie vorher in vagen, tradierten Vorstellungs-Schemen benutzt wurden und noch immer werden. […] Dass sich die Verwendung mancher Worte und dadurch ihr Begriffsinhalt über die Zeiten auch sehr wandelt, ist die Ausnahme,«
Nein.
Die Wandlung des Begriffsinhaltes der Worte über die Zeiten ist die Regel und nicht die Ausnahme.
Man braucht nur ein Wörterbuch aufzuschlagen und sich anzuschauen, wieviele deutsche Wörter als Übersetzung für ein einziges lateinisches oder altgriechisches genannt werden… oder, wenn man nicht andere, ältere Sprachen heranziehen will, einen Blick ins Grimm’sche Wörterbuch zu tun und den dort dargestellten Stand der Sprachentwicklung mit dem heutigen (oder dem anthroposophischen) Sprachgebrauch zu vergleichen.
Rudolf Steiner war das sehr deutlich bewußt.
Ich zitiere aus GA 349 (kursiv von mir):
»Daß der Mensch sprechen lernt, verwundert die Menschen auch nicht besonders. Es hat einmal eine Zeit auf der Erde gegeben, da konnten alle Menschen noch nicht sprechen. Da gab es eine Art von Gebärdensprache. Dann haben die Menschen das Sprechen gelernt. Aber das ist ja längst vergessen von der Menschheit. […] Darum ist der Streit zwischen den Völkern. Würden die Völker nur einmal darauf kommen, daß sie die Sprache gelernt haben, und die Sprache etwas ist, was die Menschen gelernt haben, dann würden sie nicht so hochmütig in bezug auf die Sprache sein und sich nach Völkergruppen unterscheiden wollen. Die Menschen haben eben ganz vergessen, daß die Sprache aus dem Innern heraus gelernt werden muß.
Wenn man nun zu der Anthroposophie kommen will, dann muß man, ich möchte sagen, die Sprache wiederum ganz neu lernen. Denn Sie werden sehen, wenn Ihnen irgendeiner der heutigen Gelehrten etwas vorträgt, ja, Donnerwetter, das geht ja wie aus einer Maschine heraus. Beobachten Sie es nur einmal: es geht wie aus der Maschine heraus. Es ist anders, als wenn man Ihnen aus der Geisteswissenschaft, aus der Anthroposophie, etwas vorträgt. Da muß man immerfort nach den Worten suchen, da muß man die Worte innerlich immer neu aufgreifen. Und nachher, wenn man die Worte gebildet hat, dann kriegt man erst recht Angst, daß sie eigentlich nicht das Richtige bezeichnet haben. Es ist bei der Anthroposophie ein ganz anderes Verhältnis zu denjenigen, die einem zuhören, als es sonst bei den heutigen Gelehrten ist. Die heutigen Gelehrten, die kümmern sich nicht mehr um die Sprache. In der Anthroposophie muß man sich immer um die Sprache kümmern.
Sehen Sie, das ist dasjenige, was in einer besonderen Weise zutage tritt, wenn ich meine Bücher schreibe; dann bin ich in einer fortwährenden, ich möchte sagen, inneren Unruhe, die Sprache richtig zu gestalten, daß die Menschen auch das verstehen können, was geschrieben wird.«
Rudolf Steiner selbst war also keineswegs davon überzeugt, daß die von ihm verwendeten Begriffe (seien es vorgefundene oder auch neu geprägte) einen unveränderlichen, für alle Zeiten gültigen, verbindlichen und unmißverständlichen Inhalt haben, ganz im Gegenteil.
Daß er auch noch nach der Veröffentlichung eines Buches bemüht war, die richtigen Worte zu finden, damit »die Menschen auch das verstehen können, was geschrieben wird«, zeigt sich an den (dankenswerterweise in der SKA dokumentierten) Eingriffen, die er in den verschiedenen Neuauflagen vorgenommen hat.
Ich empfinde das als Auftrag, sich auch weiterhin um die Sprache zu kümmern. Sowohl um Genauigkeit (;-) man könnte auch sagen: Gründlichkeit) beim Lesen als auch darum, »daß die Menschen auch das verstehen können«, was jeweils gesagt oder geschrieben wird.
Herzlich,
Ingrid


Holger Niederhausen - Mittwoch, 1. April 2015 um 14:12:00 MESZ

Liebe Ingrid, wir sind uns ja ganz einig. Worauf ich gegenüber Rudolf hinweisen wollte, ist, dass es in der Anthroposophie darum geht, sich der Wirklichkeit zuzuwenden – und dass es das Denken ist, was dies vermag, wenn es selbst zu einer Wirklichkeit wird, in innerstem Aktivsein. Es ist eine unwahre Behauptung, dass Steiner den Begriffen „Denken“, „Empfindung“ usw. einen völlig neuen Inhalt gegeben hätte. Er hat ihnen ihren wirklichen Inhalt zurückgegeben – der tradierte Inhalt verhält sich dazu eben wie die Vorstellung zum Begriff. Die Lexika, die Universität, die Umgangssprache weichen von Steiner vor allem da ab, wo sie sich mit der bloßen Vorstellungsebene begnügen. Da kann man alles Mögliche tradieren und etablieren, da beginnt eben das Trennende. Im immer wirklicher werdenden aktiven Denken werden diese Unterschiede überwunden. Man kommt nicht zu „völlig neuen Inhalten“, man kommt zu einem lebendigen Inhalt, der mit jedem geteilt werden kann, dem es nicht nur um „Sprachregelungen“ geht, sondern um ein lebendiges Erleben.

Holger Niederhausen - Mittwoch, 1. April 2015 um 13:51:00 MESZ

„Die Anthroposophie ist beides: eine gigantische Sinngebungsveranstaltung für Menschen, die sich und ihrem Leben nicht selbst Sinn geben können und das detailverliebte Lebenswerk eines schöpferischen Geistes, der um des Schaffens Willen schuf – und dabei seine Art von Glück gefunden haben mag.“

Ja, Herr Hau – genau das ist Ihr Bild davon. Das Problem Ihrer These liegt aber in ihrem Dualismus. Sie unterscheiden Kleider von Leuten und Verpackung von Inhalt. Das ist oft wichtig – bei Steiner ist es gerade falsch. Denn er hat wie kein anderer dasjenige, was Sie „Verpackung“ nennen, mit dem Inhalt vereinigt. Was er als Ergebnisse der Geistesforschung offenbarte, war keine Verpackung, sondern war der Inhalt dieser Geistesforschung – so nah man (Steiner) ihn nur an die menschliche Sprache heranbringen konnte.

Sie aber wollen diesen Inhalt der geistigen Erfahrungen zur Verpackung eines detailverliebten Geistes und einer gigantischen Sinngebungsveranstaltung herabsetzen. Ich leugne keineswegs den Unterschied zwischen Intuition und Imagination – aber ich vertrete mit aller Entschiedenheit die Überzeugung, dass in diese Imaginationen nichts bloß Persönliches hineingetragen wurde und dass sie absolut nicht als eine „Verpackung“ gestaltet wurden.

Ein Grundwiderspruch zwischen Ihren Thesen und meiner Überzeugung liegt eben auch darin, ob Steiner sich selbst zum Eingeweihten glorifiziert hat und einfach nur ein „detailverliebter schöpferischer Geist“ war – oder ob er wirklich ein Eingeweihter war. Nach wie vor also ist die Frage: „Märchenonkel“ oder nicht?

Was Sie „gruselig-ernste Empfängnisgeste“ nennen, ist einfach nur „Ernstnehmen“, nichts weiter. Wo hier die Freiheit liegt, das erkennen Sie einfach nicht. Ihre Freiheit dagegen besteht darin, Steiner radikal umzudeuten – als Verkünder einer „gigantischen Sinngebungsveranstaltung“ nach Märchenonkel-Art. Was für Verachtung Ihrerseits gegenüber allen Menschen darin liegt, die Steiner anders ernst nehmen als Sie, das entgeht Ihnen. Es ist aber ein Grundproblem Ihrer Anschauung.

Sie haben etwas gegen meinen Ernst, weil Sie sich ihm (nicht mir) nicht frei gegenüberstellen können. Dies zu tun, bedeutet nicht, ihn abzuschütteln (genausowenig wie bei der Idee), sondern sich in voller Freiheit damit zu vereinigen. Dieses Grundprinzip zu verstehen, gibt erst einen wirklichen Zugang zur Idee und auch zur Anthroposophie.

Sie können Ihren „Zugang“ zu Rudolf Steiner noch so oft glorifizieren – was bei Ihnen von der Geisteswissenschaft und den „höheren Welten“ übrig bleibt, offenbaren auch Sie sehr genau. Das Selbst...

Holger Niederhausen - Mittwoch, 1. April 2015 um 14:29:00 MESZ

Und noch etwas, Herr Hau. Gleiches kann nur von Gleichem erkannt werden. Mir ist völlig deutlich, warum für Sie Steiner in den zweiten zwanzig Jahren seines Wirkens nur zum Märchenonkel werden konnte. „Guckstdu oben, Herr Niederhausen“, „Dummes Zeug“ etc. etc. Sie offenbaren ja fortwährend, welchen Steiner Sie sich nur erschaffen können. In Ihrer herrlichen Freiheit steht der Doktor natürlich ganz auf Augenhöhe – auf IHRER Augenhöhe, und so sieht er dann auch aus. Da Sie die wirkliche Ehrfurcht nicht kennen, können Sie auch nicht das erkennen, was damit zu tun hat. Sie versetzen dann alles ins Persönliche: Da sind die Jünger, die zu Steiner aufschauen müssen. Da sind die Märchen und Verpackungen, an die nur die Religiösen glauben etc. etc. Ich betone die Ehrfurcht nicht als ein Hobby, einen persönlichen Tick oder eine Persönlichkeitsstruktur, sondern weil ohne sie so unendlich Vieles gar nicht erkannt werden kann. Das ist keine These, sondern eine geistige Tatsache. Die Ehrfurcht, richtig entwickelt, macht eben nicht blind, sondern sehend. Lesen Sie es bei Steiner nach. Oder beginnt in GA 10 schon die Märchenstunde?

Felix Hau - Mittwoch, 1. April 2015 um 14:51:00 MESZ
„Was er als Ergebnisse der Geistesforschung offenbarte, war keine Verpackung, sondern war der Inhalt dieser Geistesforschung – so nah man (Steiner) ihn nur an die menschliche Sprache heranbringen konnte.“
Die GA-Stellen, Herr Niederhausen, in denen Steiner ein ums andere Mal davor warnt, nicht wörtlich und auch nicht bildhaft zu nehmen, was er in Wort und Bild vor sein Publikum stellt, gehen in die Hunderte. Vermutlich muss man aber, um das – mit oder ohne GA – zu begreifen, tatsächlich über geistige Erfahrung und nicht nur über die Fähigkeit zum träumenden Nachbilden christlicher Mythologiegestalten verfügen.
„Ein Grundwiderspruch zwischen Ihren Thesen und meiner Überzeugung liegt eben auch darin, ob Steiner sich selbst zum Eingeweihten glorifiziert hat …“
Nö. Ich bin zwar nach wie vor nicht sicher, gehe aber arbeitshypothetisch weiterhin davon aus, dass Steiner einer Erleuchtungserfahrung teilhaftig geworden ist und damit dasjenige war, was man einen „Eingeweihten“ nennt – insoweit der Begriff „Eingeweihter“ *nicht*, was durchaus auch hier und da gebräuchlich ist, darauf zielt, dass er im Zuge einer regulären Schulung eine Einweihung (in die entsprechende Tradition und Ausdrucksgestalt) eines christlichen Ordens erfahren hat.
Worin sich unsere Auffassungen in der Tat unterscheiden, scheint mir zum einen die Frage zu sein, was ein im obigen Sinn Eingeweihter *ist* (worin also die „Einweihung“ besteht) und wie sich ein solcher Eingeweihter standesgemäß verhält.
„Was Sie ‚gruselig-ernste Empfängnisgeste’ nennen, ist einfach nur ‚Ernstnehmen’, nichts weiter.“
Ich kann Ihnen problemlos auswendig zehn Sätze Steiners zitieren, die Sie ganz bestimmt nicht in Ihrem Sinne ernst nehmen werden. *Was* Sie ihnen gegenüber, falls vorhanden, ernst nehmen, ist Steiners spätere Interpretation seiner eigenen Sätze, Herr Niederhausen – und damit für meine Begriffe den falschen, sicherlich aber nur einen Teil Steiners.
Sie interpretieren Steiner durchgehend – völlig unkritisch und fraglos – durch die eigeninteressierte Deutungsbrille Steiners, des Späten. Mich hingegen hat schon immer sehr interessiert, wie der 38-Jährige Ende der Neunzigerjahre des 19. Jahrhunderts wohl sein eigenes Spätwerk kommentiert hätte, hätte er es da schon gekannt. Sein Urteil über die Spätwerke Fichtes und Schellings, beispielsweise, ist ja überliefert:
„Gleich wie Fichte kommt auch Schelling von der klaren Selbsterkenntnis wieder ab und sucht die aus dem Selbst fließenden Dinge dann aus anderen Wesenheiten abzuleiten. Die späteren Lehren der beiden Denker sind Rückfälle in Anschauungen, die sie in einem früheren Lebensalter vollkommen überwunden hatten.“
Nota bene: Ich gehe nicht davon aus, dass sein klares Urteil über das eigene Spätwerk 1899 ähnlich ausgefallen wäre. Warum nicht? Weil es dazu eben in seinem Fall keinen Anlass gibt. Steiners wesentliche Auffassungen haben sich im Laufe seines erwachsenen Lebens kaum verändert. Verändert hat sich nur die Verpackung; heute würde man sagen: sie ist marktgängiger geworden, weil eine Zielgruppe definiert worden ist. Ich bin ziemlich sicher, dass der Steiner von 1899 das im anthroposophischen Werk erkannt hätte.

Felix Hau - Mittwoch, 1. April 2015 um 15:12:00 MESZ
Zu Ihrem Nachsatz, Herr Niederhausen:
Ja, ich glaube tatsächlich, dass ich Steiner deutlich näher stehe als Sie. Wie ich kannte auch er keinen Respekt gegenüber irgendwelchen deterministischen Anmaßungsphantasien samt ihren Inhalten (Gott und seine lächerliche Combo); wie ich hat auch er sich über die "religiösen Naturen" belustigt und sie polemisch aufs Abstellgleis der Evolution bugsiert; wie ich hat auch er sich über den blödsinnigen Wahn echauffiert, einen einzelnen historischen Menschen mit einem universellen Impuls zu identifizieren; er hat sogar, wie ich, das Christentum für die größte Verhinderungsveranstaltung des menschheitlichen Fortschrittes gehalten und sich, anders als ich, aus diesem einzigen Grund in seinen Wurzelmythos vertieft, um ihn in gedeihlicherer Version umzudeuten; wie ich hat auch er über alles Verquaste zwischen Himmel und Erde in bester Laune gelästert und das Individuum gegen Kollektiv, Gewohnheit und Ideologie verteidigt. Ja – da ist durchaus echte Seelenverwandtschaft.


Holger Niederhausen - Mittwoch, 1. April 2015 um 16:39:00 MESZ

Herr Hau, glauben Sie nicht, dass Ihnen der frühe Steiner sympathischer und näher sei als mir. Der Unterschied besteht nur darin, dass ich den frühen und den späten Steiner zusammenbringen kann, ohne den späten auf einen „Märchenonkel“ zu reduzieren und dies mit Zitaten beweisen zu wollen, in denen Steiner selbst davor warnt, nicht das Wörtliche/Bildhafte mit der wesenhaften Wirklichkeit zu verwechseln.

Ja, die entscheidende Frage ist tatsächlich, ob der späte Steiner als ein fortschreitender oder als ein rückschreitender gesehen wird, ein gnadevoll sich der verständnislosen Menschheit entgegenneigender „Märchenonkel“, der nur eine „gigantische Sinngebungsveranstaltung“ in die Welt gesetzt hat. Diese Alternative gilt es, in aller Schärfe festzuhalten.

Der frühe Steiner, der mit aller Schärfe gegen jegliches tradiertes Christentum oder andere Vorstellungen antritt, hat meine volle Sympathie. Der frühe Steiner, der auf den späten Fichte und Schelling schaut, hat sie ebenfalls. Fichte und Schelling hatten kein Erleben höherer Welten, also konnten Sie nur Zuflucht zu etwas nehmen, was in gewisser Weise wiederum traditionelle Vorstellungen aufnahm. Auf diesen Punkt scharf hinzuweisen, kam es dem jungen Steiner an.

Dem späteren Steiner kam es zusätzlich auf etwas ganz anderes an. Der spätere Steiner stand vor der Tatsache eines immer mehr sich erweiternden und differenzierenden Geist-Erlebens, und er machte durch all seine Schilderungen deutlich, dass es zwischen Himmel und Erde mehr gibt als das Selbst.

Dies sind also die entscheidenden Grundfragen und Widersprüche, die es klar festzuhalten gilt:

1. Fortschritt oder Rückschritt? Zunehmende Geist-Erkenntnis oder Märchenonkel?
2. Ist das Ideelle nur die erste Stufe einer zutiefst differenzierten, vielfältig wesenhaften geistigen Welt oder gibt es letztlich nur das eine Selbst?

Ich kann den frühen und den späten Steiner in aller Tiefe zusammendenken. Sie blicken voller subtiler Verachtung auf den Umkreis des späteren Steiner und entwerten ihn selbst ebenfalls. Glauben Sie nicht, dass Sie dem frühen Steiner gleichen. Quod licet Jovi, non licet bovi. Rudolf Steiner hat sein Leben lang gerungen – auch schon der frühe Steiner. Bei Ihnen erlebt man dagegen nur den Spott, dadurch aber bekommt alles einen völlig anderen Charakter. Auch das muss man wieder erleben...

Christian Clement - Mittwoch, 1. April 2015 um 15:13:00 MESZ
Lieber Herr Niederhausen, kurze Replik auf Ihre letzte Mitteilung:
„Mein Eindruck ist, dass Ihr Erkenntnis-Ideal darin besteht, dass möglichst viele Menschen Ihre Steiner-Deutung teilen und dass Sie schon eifrig eine Kult-Gemeinde um sich sammeln„
Dem kann ich nur widersprechen und es ganz deutlich machen: für meine Steiner-Deutung beanspruche ich keine allgemeine Gültigkeit. Es ist nur meine, und jeder möge damit tun, was er mag. Was an ihr „wahr“ ist oder wertvoll wird sich allein darin zeigen, inwiefern sie in der Lage ist, andere anzuregen und das Gespräch über Steiner weiterzubringen und differenzierter zu machen.
„Deutlich ist jedenfalls, dass Sie bestimmte Anschauungen von Anthroposophie als bewusstseinsgeschichtlich zurückgeblieben betrachten.“
Auch hier charakterisieren Sie mich nicht richtig. Bewusstseinsgeschichtlich zurückgeblieben ist für mich nicht die Anthroposophie, sondern eine bestimmte Weise, mit ihr umzugehen. Jene Weise, die Herr Hau treffend als eine religiöse charakterisiert hat. Ich sehe es ähnlich wie er: Sie, Herr Niederhausen, bekennen zwar mit den Lippen, dass Sie das religiöse überwunden haben wollen, aber aus Ihren Äußerungen über Steiner und die Anthroposophie trieft, für meine Wahrnehmung, das Religiöse aus allen Poren nur so heraus. Sie machen das, was Rudolf Steiner für bestimmte Übungen als Ausnahmezustand empfohlen hat – Kritiklosigkeit und Ehrfurcht – zur allgemeinen Voraussetzung eines Umgangs mit der Anthroposophie, und das empfinde ich als rückständig, es schlägt der Freiheit und Individualität des Menschen ins Gesicht.
„Solange Ihre Steiner-Deutung nur Ihre Individual-Auffassung wäre, bräuchte man gar nicht darüber diskutieren – es sei denn, man ist an der Wahrheit interessiert. Aber da auch Sie die Wahrheit ja bereits zu kennen glauben (oder ihr mit Ihrer Deutung am nächsten zu kommen glauben), ist das schwierig.“
Wieder falsch. Jeder Deutung ist Individual-Auffassung. Oder besser: Das Wertvolle an jeder Deutung ist das Individuelle in ihr, dasjenige, was nicht bloß von andern unverdaut aufgenommen worden ist. Dem widerspricht nicht, was ich vorher sagte: dass meine Persönlichkeit keine Rolle spielt. Das stimmt, aber zugleich ist die einzigartige Form, welche die Wirklichkeit nur in meiner Persönlichkeit annehmen kann, gerade das Wertvolle. – Dabei sei noch einmal ins Gedächtnis gerufen: in der SKA geht es nur zu einem verschwindend kleinen Teil um meine eigene Interpretation. Der Anteil ist, wenn man denn messen will, sicherlich unter 0.1 % dessen, was dort über Steiner gesagt wird. Der Rest ist einfach Darstellung von Fakten (die sicher auch mal fehlerhaft sein kann, aber das kann ja korrigiert werden.) Wozu also die Aufregung? Und "auflagenstark" ist die SKA ja nun wirklich nicht. Ich wünschte, Sie wäre es ...
„Doch nun ist Ihre Steiner-Deutung nicht nur Ihre Individual-Auffassung, sondern Sie verbreiten Sie in einer auflagenstarken kritischen Steiner-Ausgabe und auf dem Egoisten-Blog. Und wie gesagt: Ihre Texte und insbesondere auch diverse Ihrer Blogkommentare vermitteln mir bisweilen den Eindruck, als hätten Sie Anschauungen der Anthroposophie, wie ich sie zu vertreten versuche, am liebsten aus der Welt geschafft„
Wieder sachlich falsch. Ich versuche nicht, Ihre Anschauung der Anthroposophie aus der Welt zu schaffen. Ich setze nur Ihrer Anschauung die meine entgegen. Nicht weil ich glauben würde, dass einer von uns mehr „Recht“ hätte, sondern weil meine individuelle Deutung nun mal das einzige ist, was ich einzubringen habe und weil ich glaube, dass in dieser Differenzierung und Entfaltung der Wirklichkeit in möglichst viele individuelle Spiegelungen der Erkenntnisprozess weitergetrieben wird. Das Wahre ist, da gehe ich mit Hegel, immer das Ganze. Und in diesem Ganzen sind ein Niederhausen und ein Clement nur einzelne Aspekte, die aber das Ganze umso besser weiterbringen, je besser sie ihren individuellen Standpunkt vorbringen.
So sieht mein Standpunkt aus, wenn er Sie denn interessiert.


Holger Niederhausen - Mittwoch, 1. April 2015 um 16:07:00 MESZ

Lieber Herr Clement, Ihr Standpunkt interessiert mich sehr wohl. Und es ist auch richtig, dass die volle Wahrheit nur gefunden werden kann, wenn die Einseitigkeiten immer mehr überwunden werden. Man muss nur aufpassen, dass man so etwas nicht als wiederum nur halb verstandenes, aber wohlklingendes Schlagwort verabsolutiert. Die Dialektik der Wahrheit besteht darin, dass es auch Unwahrheit gibt. Auch die Unwahrheit gehört zur vollen Wirklichkeit – und insofern ist sie Teil der Wahrheit, aber eben als Abweichung und Entgegensetzung (nicht nur Einseitigkeit). Kurz gesagt: Eine unwahre Steiner-Deutung ist im Gegensatz zu einer einseitigen Steiner-Deutung nicht Teil der Wahrheit – und nur deswegen ist die Frage so brisant.

Eine unwahre Steiner-Deutung kann aber sehr wohl Teil der Wirklichkeit sein und insofern auch der Wahrheit – nämlich der Wahrheit, dass sich Menschen eben auch im Irrtum befinden können, nicht bloß in einseitigen Auffassungen, sondern wirklich auch im Irrtum.

Alles Reden von „Ganzheit“ kann nicht die Frage aufheben, wo man vor einer Einseitigkeit steht und wo vor einer wirklichen Unwahrheit. Dass Ihre Deutung von der Anthroposophie gerade wegführt, habe ich in meiner Widerlegung bewiesen. Dieser Beweis ist aber ein innerer, er muss erlebt werden. Einen äußeren Beweis kann man nicht weiter führen, denn auch Wahrheit und Unwahrheit können letztlich nur erlebt werden.

Auch mit Ihrer Darstellung, dass Ihre individuelle Deutung nun mal das einzige sei, was Sie einzubringen haben, verlassen Sie wieder die Dialektik der Wahrheit. Der Mensch als erkennendes Wesen kann seine Deutungen verändern und sie zum Beispiel der Wahrheit annähern. Das Bild „Ein Mensch eine Deutung“ ist ganz wirklichkeitsfremd – und es verdeckt erneut die entscheidende Frage nach Wahrheit und Unwahrheit. Die Dialektik ist also viel umfassender. Die Wahrheit kann theoretisch zwei Standpunkte umfassen, die beide auf ihre Weise einseitig sind, oder auch nur einen von beiden (der immer noch einseitig sein kann), während der andere außerhalb der Wahrheit steht. Sonst hätten schon damals Gegner der Anthroposophie sagen können: „Sehen Sie, Herr Doktor, das ist Ihr Standpunkt von Anthroposophie. Wir haben den unsrigen, und dieser ist nicht weniger Teil der Wahrheit – und zwar der Wahrheit der Anthroposophie.“

Ihre These von der Ehrfurcht als Ausnahmezustand ist interessant. Wenn Sie in GA 10 noch einmal genau nachlesen, werden Sie sehen, dass hier nicht von Ausnahmezustand die Rede ist, sondern von dem energischen Bemühen und von „jede Gelegenheit suchen“, damit die Ehrfurcht wirklich ein Teil der Seele wird, Leben gewinnt – fortwährendes Leben. Dass Sie die Ehrfurcht immer und immer wieder mit Kritiklosigkeit in Verbindung bringen, kann ich nur so deuten, dass Sie auch hier die innere Dialektik wirklich nicht nachvollziehen können. Ehrfurcht und Freiheit sind keinerlei Gegensatz. Das wird immer wieder missverstanden. Und nochmals sei es gesagt: Ich mache es nicht „zur allgemeinen Voraussetzung eines Umgangs mit der Anthroposophie“, ich sage nur, ihr tieferes Wesen bleibt einem verborgen, solange man nicht auch damit Ernst macht. Es ist für Vieles – auch für Vieles, was die Anthroposophie angeht –, die „erste Bedingung“...

Ingrid H. - Mittwoch, 1. April 2015 um 16:22:00 MESZ
»Die Wahrheit kann theoretisch zwei Standpunkte umfassen, die beide auf ihre Weise einseitig sind, oder auch nur einen von beiden (der immer noch einseitig sein kann), während der andere außerhalb der Wahrheit steht.«
Lieber Holger,
nein.
Die Wahrheit „umfaßt“ nicht Standpunkte, sondern sie wird von Standpunkten aus gesehen.
Und es gibt keinen einzigen Standpunkt, von dem aus eine „wahre Ansicht“ (die einen Teil der „Gesamtansicht“ bildet) unmöglich ist.
Dennoch kann eine Ansicht auch falsch sein.
Ob sie „wahr“ oder „falsch“ ist, kann man aber erst sagen, wenn man sich voll und ganz auf den Standpunkt gestellt hat, von dem aus sie gegeben wird.
Herzlich,
Ingrid

Felix Hau - Mittwoch, 1. April 2015 um 16:47:00 MESZ
"glauben Sie nicht, dass Ihnen der frühe Steiner sympathischer und näher sei als mir."
Doch, das glaube ich. Und: nicht nur der frühe, Herr Niederhausen. Auch und gerade der späte! :-)


Holger Niederhausen - Mittwoch, 1. April 2015 um 17:50:00 MESZ

Ja, sehen Sie, Herr Hau, über mehr als das Austauschen von solchen Glaubens-Standpunkten geht es dann nicht mehr hinaus. Ich habe Ihren Bemerkungen über Steiners Aussagen zum späten Fichte und Schelling entgegengehalten, warum diese Aussagen sehr nachvollziehbar sind, und habe gezeigt, wie man dies mit dem späten Steiner zusammendenken kann, ohne ihn als einen „gnädig Zurückschreitenden“ zu betrachten. Ich habe deutlich gemacht, dass ich den frühen Steiner, den Sie so schön geschildert haben, voll und ganz verstehen kann, und worin dennoch der Unterschied zwischen Steiner und Ihnen besteht. All dies habe ich erwidert, indem ich auf Sie eingegangen bin. Und nun verstummen Sie. Das ist dann so die saloppe Art, mit der man an entscheidenden Stellen augenzwinkernd abbricht – die herablassende Art der „Neo-Anthroposophen“, die ja wie gesagt schon den ganzen Umkreis von Rudolf Steiner selbst spöttisch-herablassend betrachten.

Wer hier nicht merkt, wie wenig eine solche Anschauungsart mit Steiners Anthroposophie zu tun hat, dessen geistiges Auge ist wirklich noch nicht einmal leise erwacht.

Jostein Sæther - Mittwoch, 1. April 2015 um 17:00:00 MESZ
Ich konstatiere, dass Niederhausen in seiner Bemühung, eine „klassische“ Deutung der Anthroposophie Steiners bei einigen Kontrahenten gar nichts erreicht, denn es scheint, als ob sie gegen seine Annahme, dass es göttlich-geistige Wesen, göttlich-geistige Wesenheiten, göttlich-geistige Individualitäten in Mehrzahl geben zusätzlich zu Menschenindividualitäten, nicht einverstanden sind. Auch mir kommt es merkwürdig, dass da, wo ich versuche, auf geistige Wahrnehmung, geistiges Erleben bis auf geistige Erkenntnis hinzuweisen, die nach meinem Dafürhalten in einem erweiterten Bewusstsein vorgebracht sind, für jene Kritiker (Hau, Clement, Rudolf) dies nicht interessant, geschweige denn, in der Diskussion um die Lesart von Steiner von Relevanz wäre. [...]


Holger Niederhausen - Mittwoch, 1. April 2015 um 17:37:00 MESZ

Liebe Ingrid, es kommt immer darauf an, von wo etwas gemeint ist – auch das ist Dialektik. Auch die Wahrheit ist nicht ein „Ding“, das gleichsam von außen „gesehen“ wird. So aber, wie sich verschiedene Anschauungen der Wahrheit zu nähern versuchen können, so kann auch die Wahrheit selbst, als Subjekt, Standpunkte umfassen oder abweisen. Die Worte sind hier wieder Bild für das reale Wirklichkeitsgeschehen. Oder verstehst Du die Wahrheit rein nominalistisch?

In Bezug auf Clements Aussagen zu „Ich“ und „Engel“ habe ich so intensiv wie möglich versucht, seine Gedanken mitzudenken – und habe ausführlich beschrieben, was sich daraus ergibt. An solchen Punkten wäre anzusetzen bzw. dies wäre nun zu prüfen, indem man es seinerseits nochmals durchdenkt, mitdenkt, nachvollzieht. Bleiben wir nicht im Allgemeinen, sondern nehmen wir Christian Clements Deutungen einmal beim Wort und prüfen Sie denkend in dieser konkreten Weise.

Das Ringen um die Wahrheit und auch das Ernstnehmen eines Menschen beginnt erst da, wo man dies so intensiv tut, dass man sich nicht nur ins mehr Allgemeine verliert, wo man sich ja endlos Standpunkte gegenüberstellen kann. Gehen wir doch einmal in den Standpunkt des Anderen wirklich hinein!

Ich habe gezeigt, dass Clement da, wo Steiner vom Denken spricht, einfach vom „universellen Ich“ spricht; dass es bei ihm zwischen individuellem und universellem Ich im Grunde nichts anderes gibt; dass er auch Imagination und Inspiration völlig unzulässig/entstellend als Halluzinationen bezeichnet (Steiner in den Mund gelegt) und anderes mehr. Über all diese Dinge wäre konkret zu diskutieren, um nicht immer wieder im Allgemeinen zu bleiben und allgemeine Wahrheiten auszutauschen.

Wenn das Gespräch überhaupt ein Wahrheitsringen sein soll, dann gilt es, an den Punkten anzusetzen, die (a) Fragen aufwerfen, (b) unvereinbar sind, (c) einmal konkret versuchen, den Standpunkt des Anderen einzunehmen.

Also noch einmal die doch sehr entscheidenden Fragen zusammengefasst:

1. Fortschritt oder Rückschritt? Zunehmende Geist-Erkenntnis oder Märchenonkel?

2. Ist das Ideelle nur die erste Stufe einer zutiefst differenzierten, vielfältig wesenhaften geistigen Welt oder gibt es letztlich nur das eine Selbst?

3. Was ist mit Clements Aussagen über „Ich“ und „Engel“ – und was enthält meine Erwiderung?

Zu den Punkten 1. und 2. wird man ohne Geist-Erkenntnis wahrscheinlich immer wieder und wieder nur nach Sympathie und Antipathie debattieren. An Punkt 3 könnte man einmal konkret bei meiner Erwiderung ansetzen und diese prüfen, und zwar inhaltlich.

Da Clements Thesen hier auf dem Blog ausdrücklich Thema sind, ist es doch auch die Frage, inwiefern sie sich im Umkreis der Wahrheit bewegen oder nicht. Wenn darüber nicht konkret diskutiert werden kann/soll, würde es sich wirklich nur um einen netten Austausch von Standpunkten und Standpunkten zu Standpunkten handeln – zum allgemeinen Gebrauch und zur gefälligen Entnahme nach Belieben und nach persönlicher Sympathie. Wenn es aber um die Wahrheitsfrage geht, muss auch darum gerungen werden, und das geht nur konkret.

Clements Thesen zu „Engel“ und „Ich“, die ja extra nochmal als eigener Thread gepostet wurden, sind dafür ein sehr geeigneter konkreter Ansatzpunkt. Ist die Prüfung seiner Aussagen gewollt? Um zu sehen, was daran ist? Oder will man seinen Thesen mehr träumend folgen, sie mehr nach Sympathie und Antipathie annehmen, abweisen, halb mitgehen, seine eigenen Assoziationen dazugeben etc. etc.?

Der frühe Steiner hat mit aller Macht für das klare Denken gekämpft – er war gegen jedes allgemeine Wischi-Waschi. Ich habe Christian Clement nur deshalb so viele Nachfragen gestellt, weil ich genau verstehen wollte, was er meint und was er nicht meint. Jetzt, wo er es einmal an einem Beispiel sehr klar ausgeführt hat, kann man sich damit überhaupt erst detailliert auseinandersetzen. Und das sollte man tun, wenn es einem um die Frage geht, ob Clements Thesen das Verständnis Rudolf Steiners bereichern können oder nicht. Nicht um das subjektive Empfinden, ob sie das können (weil sie den eigenen Vorstellungen entgegenkommen), geht es, sondern um eine wirkliche Prüfung.

Christian Clement - Mittwoch, 1. April 2015 um 17:42:00 MESZ
Lieber Herr Niederhausen, Sie haben wohl recht, wenn Sie nur auf bestimmte Stellen in GA 10 hinweisen. In der Zusammenschau aller Texte zur Erkenntnisschulung und besonders beim Anschauen der Textentwicklung ergibt sich jedoch ganz klar das Bild, das Steiner zunächst den Erkenntnisweg so schilderte, dass der Mensch als solcher völlig umgeformt werden solle und er sich so oft wie möglich in die Haltung der Kritiklosigkeit und Ehrfurcht begeben soll - dass er aber später zunehmend und immer deutlicher darauf hingewiesen hat, dass die Veränderung nur mit dem "inneren Menschen" vor sich geht und der äußere ganz derselbe bleibt; und dass die Ehrfurcht und die Kritiklosigkeit (bzw. Urteilsenthaltung, wenn Sie lieber wollen) nur für die Dauer des Übens angemessen ist. Schauen Sie nur mal SKA 7 an, da ist das mit Händen zu greifen.
Ich habe zudem den Eindruck, sie vermischen ständig diese beiden Ebenen: Anthroposophie als Instrument persönlicher spiritueller Schulung und Anthroposophie als wissenschaftlicher Zugang zur Wirklichkeit. Steiner hat beide ganz klar auseinandergehalten und immer wieder deutlich gemacht: Erkenntnisschulung ist nicht für jeden, sondern für wenige. Mir kommt es so vor, als dürfe sich Ihrer Meinung nach nur derjenige mit Anthroposophie beschäftigen, der sie zugleich als Instrument spiritueller Schulung benutzt. Das ist hochproblematisch und definitiv gegen Steiners Aussagen.
Sie können sich ja gern der Anthroposophie mit Ehrfurcht nähern, aber dann nehmen SIe sie eben nicht als Geisteswissenschaft, sondern als Mittel ihrer persönlichen spirituellen Transformation. Völlig legitim. Wer sich aber der Anthroposophie als etwas mit Anspruch auf Wissenschaftlichkeit nähert, muss ihr gegenüber grundsätzlich kritisch und argwöhnisch sein. Denn eine Wissenschaft ohne Kritik und Argwohn und Distanz ist im 21. Jahrhundert einfach eine Unmöglichkeit.
Also, das alte Thema. Seien sie doch einfach ein bischen offener für andere Sichtweisen und Methoden. Die Welt ist so schön bunt, machen Sie sie doch nicht schwarzweiß.

Ingrid H. - Mittwoch, 1. April 2015 um 17:59:00 MESZ
Holger:
»So aber, wie sich verschiedene Anschauungen der Wahrheit zu nähern versuchen können, so kann auch die Wahrheit selbst, als Subjekt, Standpunkte umfassen oder abweisen. Die Worte sind hier wieder Bild für das reale Wirklichkeitsgeschehen. Oder verstehst Du die Wahrheit rein nominalistisch?«
Lieber Holger, ich sehe es so an, wie Rudolf Steiner es in GA 45 formuliert:
»Jede Ansicht kann eine wahre sein, wenn sie treu das Beobachtete wiedergibt. Und sie ist erst dann widerlegt, wenn nachgewiesen ist, daß ihr eine andere berechtigterweise widersprechen darf, welche von demselben Gesichtspunkte aus gegeben ist. Ein Unterschied hingegen von einer Ansicht, die von einem anderen Gesichtspunkt aus gegeben ist, besagt in der Regel nichts.«
Um beurteilen zu können, ob Christian Clements Ansicht „wahr“ oder „falsch“ ist, muß man sich also zunächst einmal auf Christian Clements Standpunkt stellen.
Du sagst, Du hast »so intensiv wie möglich versucht, seine Gedanken mitzudenken«, und Du hast dann »ausführlich beschrieben, was sich (Dir) daraus ergeben hat.«
Nun widerspricht aber Christian Clement in seiner Replik Deiner Beschreibung seines Standpunktes.
Und man kann erst sagen, daß Du Dich wirklich auf seinen Standpunkt gestellt hast, wenn Du diesen seinen Standpunkt so beschreibst, daß er dem nicht widerspricht. Bis dahin ist es ein von Dir angenommener Standpunkt, der gar nicht wirklich der seine ist.
Das Gleiche gilt natürlich für Felix Hau — und umgekehrt für alles, was er oder Christian über Deinen Standpunkt sagen.
Meinst Du nicht auch?
Herzlich,
Ingrid


Holger Niederhausen - Mittwoch, 1. April 2015 um 18:28:00 MESZ

Liebe Ingrid, Christian Clement geht auf meine Widerlegung überhaupt nicht ein – er hat nur meinen Kurzkommentar hier auf dem Blog aufgegriffen, der aber mit meinen inhaltlichen Auseinandersetzungen zu seinen Thesen über „Ich“ und „Engel“ im Grunde nicht das Geringste zu tun hat. Ich warte also auf seine ausführliche Antwort auf meine Einwände – und auch auf Aussagen anderer Menschen dazu, wenn die Wahrheitsfrage zu Clements Aussagen über „Ich/Engel/Universal-Selbst“ überhaupt interessiert, und ich meine hier zunächst nur die Widersprüche bzw. Konsequenzen von Clements eigenen Aussagen.

Holger Niederhausen - Mittwoch, 1. April 2015 um 18:50:00 MESZ

Lieber Herr Clement, ich mache die Welt nicht schwarzweiß, sondern ich versuche die Wahrheit (das Bunte) von dem zu unterscheiden, was nicht mehr Teil der Wahrheit ist – jetzt konkret: in Bezug auf Rudolf Steiner und die Anthroposophie.

Ich verwechsle ebensowenig die Anthroposophie als Instrument persönlicher spiritueller Schulung und als wissenschaftlichen Zugang zur Wirklichkeit. Hier sind wir aber wiederum an einem wichtigen Punkt, dem man konsequent nachgehen müsste, wenn nicht wieder alles im unbestimmten „Bunten“ (gemeint hier: Beliebigen) versickern soll.

Anthroposophie als Schulungsweg und als Geisteswissenschaft (wissenschaftlicher Zugang zur Wirklichkeit) sind dialektisch gesehen dasselbe. Anthroposophie wird nur da zur Geisteswissenschaft, wo sie verwirklichter und sich verwirklichender Schulungsweg wird – und umgekehrt: Der Schulungsweg wird nur da richtig beschritten, wo er von Anfang an wissenschaftlich ist / gegangen wird. Sie vergessen offenbar, dass Geisteswissenschaft im eigentlichen Sinne nur mit Geistesorganen möglich wird. Diese vollkommen wissenschaftlich-kritisch zu entwickeln, ist Anthroposophie als Schulungsweg.

Erkenntnisschulung ist nicht für jeden – also ist Geisteswissenschaft als eigene Praxis nicht für jeden. Ihre Ergebnisse einsehen kann jedoch jeder. Diese Formulierungen erinnern Sie doch hoffentlich?

Natürlich kann sich jeder „mit Anthroposophie beschäftigen“ – nur darf er sich kein eigenes Urteil erlauben, solange er sich eben nicht ganz auf den Boden der Geisteswissenschaft gestellt hat, zu dem dann eben auch der Schulungsweg gehört. Haben Sie auch diese Aussage vergessen?

Es gibt genügend Zitate, in denen Steiner den gesunden Menschenverstand deutlich vom akademisch verbildeten Intellekt unterscheidet. Steiner rechnete mit dem gesunden Menschenverstand. Er fürchtete nicht das Urteil wahrer Wissenschaft – aber diese gab und gibt es kaum. Und da wo andere Urteile zur Geltung kamen, entzog Steiner ihnen eben ihre Berechtigung.

Rudolf Steiners Anthroposophie tritt nach außen mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit auf, innerlich hat sie ihn verwirklicht. Wer von außen prüfen will, kann aus seiner Sicht auf alle möglichen Urteile kommen – für die Anthroposophie sind diese zunächst gar nicht relevant, nur für den Urteilenden selbst. „Wissenschaft mit Kritik, Argwohn und Distanz“ darf sein, nur sagt sie stets mehr über sich selbst aus als über die Anthroposophie, da sie sich ja gar nicht auf ihren Boden zu stellen bereit ist.

Womit wir wieder ganz genau bei dem Standpunkt-Problem sind! Geisteswissenschaft und auch innerlich berechtigte Kritik an der Anthroposophie ist unmöglich, wenn man nicht selbst den Schulungsweg geht. Es ist nicht nur im 21. Jahrhundert, sondern generell eine Unmöglichkeit. 

Ingrid H. - Mittwoch, 1. April 2015 um 18:54:00 MESZ
Holger:
»Christian Clement geht auf meine Widerlegung überhaupt nicht ein – er hat nur meinen Kurzkommentar hier auf dem Blog aufgegriffen,«
Lieber Holger,
nun – aber ist es denn nicht so, daß Dein Kurzkommentar, dem er widerspricht, wiedergibt (ebenso wie Deine Aprilglosse), was in Deinen Augen Christians Standpunkt charakterisiert?
Es ist nicht meine Aufgabe, hier an Christians Stelle ausführlich auf Deine „Widerlegung“ seiner „Thesen“ einzugehen. Dazu müßte ich erst interpretieren, was er sagt, und dann das, was Du sagst - - - das überlasse ich also lieber Euch beiden.
Aber eine Frage habe ich, zu Deinem (»Ad 2.« in Deiner „Widerlegung“):
»Kann etwas reine Tätigkeit sein, was nicht zugleich Wesen ist?«
Was genau verstehst Du unter „Wesen“?
Könnte man nicht ebensogut fragen: Ist es nicht das Charakteristikum eines Wesens, Tätigkeit zu sein, oder, wie Steiner sagt: zu wesen?
Könnte es nicht sein, daß es nicht die Wirklichkeit, sondern nur unsere Sprache ist, die so fein säuberlich zwischen Haupt- und Zeitwörtern unterscheidet?
Ich denke in diesem Zusammenhang auch daran, daß Rudolf Steiner sagte, die Verstorbenen könnten eine Sprache, in der die Verben vorherrschen, wesentlich ( ;-)) leichter verstehen als eine, in der vor allem Substantive vorkommen...
Herzlich,
Ingrid


Holger Niederhausen - Mittwoch, 1. April 2015 um 19:06:00 MESZ

Liebe Ingrid, was meiner Ansicht nach Clements Standpunkt charakterisiert, ist das Eine, das Andere ist das ganz konkrete Eingehen auf seine Thesen.

Zum Wesen: Ich habe den Begriff des „Wesens“, den Clement als bloßes Bild bezeichnet, nur wieder mit hineingeführt. Eine Tätigkeit ohne Wesen ist überhaupt nicht denkbar, also kann man den Begriff des Wesens nicht einfach weglassen. Das ist alles. Wir bewegen uns an dem Punkt nicht auf der Ebene der gesprochenen Worte oder der bloßen Sprache, sondern auf der der Begriffe. Ein Gedankengebäude, das ohne den Begriff des „Wesens“ auszukommen meint, führt von vornherein völlig in die Irre.

Irre ich mich, oder sind auch „Tätigkeit“, „Tätigsein“ und „Verstorbene“ Substantive? Lass uns also bitte nicht an Worten oder grammatischen Wortarten haften.

Ingrid H. - Mittwoch, 1. April 2015 um 18:11:00 MESZ
»... sein Ansinnen war unter anderem, seinem Publikum Inspiration zu vermitteln – und Sinn.« [F. Hau]
Das jedenfalls deckt sich mit meinem eigenen Eindruck. Schön, daß ich damit nicht allein bin.
(Übrigens finde ich dieses Ansinnen auch in den Dialogen des Sokrates, zB in Platons „Phaidon“...)

Michael Eggert - Mittwoch, 1. April 2015 um 18:35:00 MESZ
Das theosophische Begriffskleid hat sich am Ende als zäher erweisen als von Steiner gedacht; er hat es bearbeitet, aber nicht abschütteln können. Im Gegenteil, es wuchert 100 Jahre später immer noch- teilweise schlimmer denn je, weil die Vorstellungen nicht nur fortgeführt werden, sondern "als geistige Wahrnehmung" vorgestellt werden- als Durch Argumente nicht erreichbarer Pseudo- Okkultismus.


Holger Niederhausen - Mittwoch, 1. April 2015 um 18:57:00 MESZ

Liebe Ingrid, die Frage ist nur, ob der „Sinn“ auf Schwindeleien und Märchen beruht.

Lieber Herr Eggert, geistige Wahrnehmungen, so sie wirklich behauptet werden, als Vorstellungen zu diffamieren, ist ausgeprägter Hochmut. Ihre These vom „Pseudo-Okkultismus“ ist doch bekannt. Wollen Sie nicht auch endlich auf die Ebene der Argumente kommen?

Lieber Jostein, vielen Dank für Deinen Hinweis, dass viele Kommentare hier letztlich nur zu Standpunkt-Pingpong führen bzw. schlicht durchs Raster fallen.

Bei Deinen Beschreibungen Deiner geistigen Wahrnehmungen ist auch mir nicht immer klar, für welche „Lesart“ Steiners sie sprechen, wenn man sie mit Clements Thesen zu „Ich“ und „Engel“ zusammenhält. Tendenziell natürlich auch dafür, dass es „zwischen Himmel und Erde“ mehr gibt als das Selbst. Aber all das können die Vertreter des Konstruktivismus (so bezeichnet sich Hau ja selbst) natürlich jederzeit heruntermachen – als illusionär, als vorläufige Stufe, als was auch immer.

Die von Dir zitierten Aussagen Rudolf Steiners sind wiederum derart eindrücklich, dass man sich wirklich hinstellen und behaupten muss, Steiner wäre zum „Schwindler“ geworden, wenn man hier noch beim Konstruktivismus bleiben will.

Ich glaube, man kann dieses ganze Pingpong nur vermeiden, wenn man ganz deutlich macht,

(a) was die Konsequenzen der Konstruktivismus-These sind (der späte Steiner war ein Schwindler und Märchenonkel, im umfassendsten Sinne),
(b) dass Steiner selbst das ideelle Erleben nur als erste Stufe bezeichnet hat,
(c) wo die Vertreter solcher Thesen sich selbst in Widersprüche verwickeln bzw. wo ihre Anschauung hinführt bzw. was sie eigentlich noch enthält und was nicht (siehe meine Widerlegung Clements),
(d) dass bestimmte Aspekte pauschal ausgeblendet, abgewertet oder entstellend beurteilt werden (z.B. die Ehrfurcht),
(e) dass bei bestimmten Fragen nur noch ausgewichen wird bzw. das bloße Ping-Pong und die Polemik weitergeht,
(f) dass dies alles, zusammen erlebt, ein ganz bestimmtes Gesamterleben gibt.


Ingrid H. - Mittwoch, 1. April 2015 um 18:57:00 MESZ
Lieber Jostein,
»Denn ein Gespräch kann auch ein Sich-Hineinleben in etwas Fremdes, etwas Neues und Andersartiges sein, und nicht nur ein Wiederkauen von Vorstellungen, die bisher bekannt waren.«
Ja. Das ist mir überhaupt das Wichtigste an Gesprächen – deshalb freue ich mich über die unterschiedlichen Standpunkte, von denen aus hier diskutiert wird.
Dazu eine Frage:
Wenn ich mich „hineinlebe“ in etwas bis dahin „Fremdes“, etwas „Neues und Andersartiges“ - - - bedeutet das nicht, daß dieses „Fremde, Neue, Andersartige“ ab dem Augenblick, in dem ich es „umschließe“, eben nicht mehr „fremd, neu und andersartig“ ist, sondern in gewissem Sinne zu mir gehört? Zu dem, was ich als „Ich“ bezeichne?
Würde das nicht bedeuten: in je mehr Wesenhaftes, das bis dahin für mich „fremd, neu andersartig“ und „nicht zu meinem Ich gehörig“ war – in je mehr derartiges Wesenhaftes ich mich hinein-gelebt habe - - - desto weniger Wesenhaftes kann ich fortan als „nicht zu meinem Ich gehörig“ bezeichnen . . . ?
So gesehen, könnte man dann nicht sagen: die „Grenzen“ dessen, was wir jeweils als „Ich“ bezeichnen, sind abhängig davon, wie sehr wir uns bis dahin in „Fremdes, Neues und Andersartiges“ hinein-gelebt haben . . . ?
Herzlich,
Ingrid


Holger Niederhausen - Mittwoch, 1. April 2015 um 19:12:00 MESZ

Liebe Ingrid,

„die Grenzen dessen, was wir jeweils als ‚Ich’ bezeichnen...“

In der Tat, alles, was wir erkennend umfassen, umfassen wir auch mit unserem Ich. Die entscheidende Frage ist nur: Hört dieses Andere dadurch auf zu sein? Nein, es bleibt ein Ureigenes – nur dass sein Erkennen und Verstehen und vielleicht sogar die Liebe zu ihm jetzt auch in mir lebt.

Hier haben wir wieder den entscheidenden Punkt.

Ingrid H. - Mittwoch, 1. April 2015 um 19:12:00 MESZ
Lieber Holger,
»Lass uns also bitte nicht an Worten oder grammatischen Wortarten haften.«
Ja, einverstanden. :-)
Genau diesen Eindruck habe ich aber, wenn man sich darüber streitet, ob das „Ich“ nun ein „Wesen“ ist oder eine „Tätigkeit“. Deshalb mein Nachfragen, was Du unter einem „Wesen“ verstehst, und worin sich, Deiner Ansicht nach, ein „Wesen“ von einer „Tätigkeit“ unterscheidet.
Lieber Christian --- diese Frage habe ich natürlich auch an Dich.
Herzlich,
Ingrid

Ingrid H. - Mittwoch, 1. April 2015 um 19:06:00 MESZ
Holger:
»Liebe Ingrid, die Frage ist nur, ob der „Sinn“ auf Schwindeleien und Märchen beruht.«
Statt zu versuchen, diese Frage zu beantworten, möchte ich ihr eine Frage entgegenstellen:
Kann es nicht sein, daß etwas, das, wenn man auf das in der Vergangenheit Gewordene blickt, als „Schwindeleien und Märchen“ bezeichnet werden kann, sich zu „Möglichkeiten“ wandelt, wenn man den Blick in die Zukunft richtet?
Dazu Robert Musil (aus „Der Mann ohne Eigenschaften“):
»Das Mögliche umfaßt jedoch nicht nur die Träume nervenschwacher Personen, sondern auch die noch nicht erwachten Absichten Gottes. Ein mögliches Erlebnis oder eine mögliche Wahrheit sind nicht gleich wirklichem Erlebnis und wirklicher Wahrheit weniger dem Werte des Wirklichseins, sondern sie haben, wenigstens nach Ansicht ihrer Anhänger, etwas sehr Göttliches in sich, ein Feuer, einen Flug, einen Bauwillen und bewußten Utopismus, der die Wirklichkeit nicht scheut, wohl aber als Aufgabe und Erfindung behandelt.«


Holger Niederhausen - Mittwoch, 1. April 2015 um 19:22:00 MESZ

Liebe Ingrid, zu Deinen beiden Fragen:

Wesen und Tätigkeit: In der wesenhaften Welt der Begriffe und erst recht der geistigen Wesenheiten durchdringen sich die Dinge. Tätigkeit ist etwas, was ein Wesen entfaltet. Das, was ein Wesen ausmacht, sein Wesen (als Verb verstanden), ist sein Tätigsein. Die Tätigkeit ist das, was von ihm ausgeht – und was auch noch in seiner Offenbarung und Wirksamkeit erlebbar sein kann, ohne dass das ganze Wesen darin erlebt wird. Es sind einfach zwei Begriffe, die innig zusammengehören, einer ohne den anderen ist nicht denkbar, insbesondere aber nicht Tätigkeit ohne Wesen.

Deine andere Rückfrage zu „Märchen“ oder nicht, verstehe ich nicht bzw. sie bleibt mir in Bezug auf Steiner zu allgemein. Entscheidend bleibt die Frage nach dem Wirklichkeitscharakter von dem, was Steiner beschreibt. Die Wesens-Frage hat damit aber zu tun: Wenn man den Begriff des Wesens nicht denken kann oder will, wird man ihn bequem aus seinen Thesen herauslassen können – und anderen einen Wesens-Zoo vorwerfen. Die Frage ist aber: Wie ernst kann man den Begriff des Wesens denken und nehmen?

Es ist wirklich der erneuerte Kampf zwischen Nominalismus (jetzt Konstruktivismus genannt) und Realismus.

Ingrid H. - Mittwoch, 1. April 2015 um 19:27:00 MESZ
»Entscheidend bleibt die Frage nach dem Wirklichkeitscharakter von dem, was Steiner beschreibt.«
Ja, Wirklichkeitscharakter. Wenn ich das wörtlich nehme, Wirk-lichkeit --- dann geht es dabei immer um den Blick in die Zukunft; deshalb mein Hinweis auf Musil und seinen „Möglichkeitssinn“.
So, und nun wirklich ;-): Ade für heut!
Ingrid

Felix Hau - Mittwoch, 1. April 2015 um 19:12:00 MESZ
"Ja, sehen Sie, Herr Hau, über mehr als das Austauschen von solchen Glaubens-Standpunkten geht es dann nicht mehr hinaus."
So ist es, Herr Niederhausen. Jetzt müssten Sie nur noch herausfinden, wann "dann" genau ist.


Holger Niederhausen - Mittwoch, 1. April 2015 um 19:46:00 MESZ

„Dann“ ist, wenn Herr Hau sein spottendes Ich, das sich einen minderbemittelten Gesprächspartner imaginiert, so weit ausgedehnt hat, dass in seiner Vorstellung jede Diskussion sinnlos wird.

Felix Hau - Mittwoch, 1. April 2015 um 22:20:00 MESZ
Gar nicht schlecht, Herr Niederhausen; so ähnlich ist es tatsächlich. Allerdings hat Herr Hau Kriterien, wenn er eine Diskussion als sinnlos wertet. Zu denen gehören beispielsweise Ignoranz, eine manipulative Argumentation und das theatralische Ausweichen des Gegenübers auf Nebengleise samt Errichtung von Strohmännern. [...]


Holger Niederhausen - Mittwoch, 1. April 2015 um 22:41:00 MESZ

Eine netter kleiner Schwank, Ihre Sicht der Dinge.

1. Bezeichnen Sie nun die imaginativen Schilderungen Rudolf Steiners als „Verpackung“ oder sein energisches Ringen um die richtigen Worte oder was genau?

2. Des Weiteren möchte ich Sie einmal auffordern, einen einzigen Hinweis Steiners zu geben, in dem er davor warnt, wörtlich/bildhaft zu nehmen, was er sagt – und was sich auf die Frage höherer Wesenheiten bezieht. Bitte ein genaues Zitat!

3. Und dann wenn möglich noch eines Ihrer auswendigen, die ich ganz sicher nicht in meinem Sinne ernst nehmen würde, Ihrer Aussage nach.

Damit wir auch hier einmal vom Blauen ins Konkrete kommen.

Jostein Sæther - Mittwoch, 1. April 2015 um 20:30:00 MESZ
Zurück zur Ursprungsfrage:
«Was war zuerst da - das ‹Ich› oder der ‹Engel›?»
In Steiners Kosmologie/Kosmosophie gemäß „Geheimwissenschaft im Umriss“ kriegten die Menschen ein Ich zuerst während der Erdenentwicklung – nun einmal sehr schematisiert ausgedrückt. Die anderen Hüllen – Astralleib, Ätherleib und physischer Leib kriegten sie während der drei kosmischen Stadien davor. Die Engel kriegten ihr Ich in der vorigen Stufe und die Erzengel noch davor. Insofern gab es das Ich als Prinzip, Wesen und Tätigkeit schon bereits, ehe die Engel eine eigene Erfahrung hatten. Dieweil das Physische zuerst als Prinzip schon lange davor existierte, als es physisch wurde, wird es leicht diese Stufen und Entitäten durcheinander zu bringen, wenn man die konstruktivistische Sichtweise dekonstruktiv benutzt. Aber bevor das ‹Ich› war, war ein Wesen, das das künftige Ich-Wesen aller Wesen denken, fühlen, wollen und betätigen konnte in seinem allweise Allwesen.


Holger Niederhausen - Mittwoch, 1. April 2015 um 21:21:00 MESZ

Ja, Jostein, aber für Clement, Hau und andere, gibt es diese Wesen, von denen Steiner spricht, ja nicht. Sie postulieren ein Universal-Ich und ein damit identisches Individual-Ich des Menschen – und das ist alles. Das Andere sind – wahlweise – „Aspekte“ oder „Märchen“, aber keine Wesen.

Wenn man das, was Steiner als „Denken“ bezeichnet, schnell und sorglos zum „Universal-Ich“ erklären und „soweit Steiner“ hinzufügen kann, lässt sich alles behaupten. Dann schnell noch die Etiketten „Wissenschaft“, „kritisch“ und „Distanz“ drauf – und fertig ist der Konstruktivismus.

Christian Clement - Mittwoch, 1. April 2015 um 21:58:00 MESZ
Lieber Herr Niederhausen, nur weil der Engel aus dem ich kommt (und natürlich zugleich das Ich aus dem Engel), heisst das doch nicht, dass es den Engel "nicht gibt". Ich habe doch ganz deutlich gemacht, dass meiner Meinung nach Steiner dem Engel sehr wohl Realität zuspricht, insofern er das imaginative Bild eines realen Aspekts der Wirklichkeit ist. Nur, weil so ein Engel - als Engel - eine Imagination ist, heisst dass doch nicht, dass er nicht ist. Im Gegenteil, er ist auf viele Weise: für den Hellseher als Imagination, für das abstrakte Denken, je nachdem wie man ihn fasst, eine Kraft oder Tätigkeit oder Wesen oder Manifestation oder Aspekt des Absoluten.
Halten Sie sich nicht so an Worten fest. Wenn ich den Gegenpol des Individual-Ich als universelles Ich bezeichnet habe, könnte ich ihn genauso als Gott oder Absolutes oder Universum oder Sein oder Holger Niederhausen bezeichnen. Wichtig ist ja nicht das Wort, sondern was dabei gedacht wird.
Und, da Sie neuerdings Experte in der Dialektik sind: Identität bedeutet ja nicht dasselbe-Sein. Wenn ich sage universelles Ich und individuelles Ich sind identisch, dann sind sie ja noch lange nicht ein und dasselbe. Sonst könnte ich ja nicht zwei Begriffe davon haben. Als individuelles Ich ist das universelle Ich eben ein anderes geworden, auch wenn es zugleich dasselbe bleibt.


Holger Niederhausen - Donnerstag, 2. April 2015 um 01:26:00 MESZ

Lieber Herr Clement, ich halte mich nicht an Worten fest – sondern ich nehme gerade ganz und gar die Frage ernst, was dabei gedacht wird.

Aber Sie haben gesagt, „Wesen“ ist nur Bild, also haben Sie keinen Begriff vom Wesen – denn ein Begriff ist kein Bild, sondern eine Wirklichkeit. Entweder das, was Steiner nun einmal mit dem Wort „Engel“ bezeichnet, ist etwas Wesenhaftes, eine Wesenheit, oder nicht, darum geht es. Ich spreche nicht von dem Engel als traditionell-christliche überlieferter Bildvorstellung, auch nicht von der Imagination, auch nicht von dem abstrakten Denken, sondern von der Frage, was dem intuitiven Erleben entspricht, wenn Steiner am Ende von einem „Engel“ spricht.

Wenn Steiner betont, dass im Geistigen letztlich alles wesenhaft ist, dann sind alle Begriffe wie „Kraft“, „Manifestation“ oder ähnliches zu abstrakt. Nicht „Wesen“ ist zu bildhaft, sondern „Kraft“ oder „Aspekt“ usw. ist zu schwach. Es drückt zwar alles gewisse Aspekte der Wirklichkeit aus, aber erst im Begriff des Wesens, des differenziert wesenhaften Erlebens, gewinnt dieses Erleben seine höchste Stufe. Wenn etwas „wesenhaft“ erlebt wird, kann man hinter diesen Begriff nicht mehr zurück, dann ist dies mehr als nur „Kraft“, „Aspekt“ oder „Tätigkeit“. Es ist ein Qualitätsunterschied, nicht einfach bloß eine beliebige Bezeichnung.

An Ihrer Identitäts-These kritisiere ich bloß, dass zwischen Ich und Ich bei Ihnen nichts weiter vorkommt, was Sie mit Ernst und Gründlichkeit als „Wesen“ bezeichnen und auch so denken könnten.

Stephan Birkholz - Mittwoch, 1. April 2015 um 23:02:00 MESZ
Kennen Sie denn andersrum einen Hinweis der fordert, dass seine Aussagen unbedingt bildhaft genommen werden muss?
//
Zwischen bildhaft im visuellen Sinne und rein abstrakt-intellektuell liegt ja noch ein ganz großes Spektrum...
//

Stephan Birkholz - Mittwoch, 1. April 2015 um 23:08:00 MESZ
Und was erwarten Sie denn vor dem Kontext einer Zeit, in der Steiner Weltentstehungs-Anschauungsmodelle aus Öltröpfchen in umgerührtem Wasser als Ausgangsvorstellungen hatte?


Holger Niederhausen - Mittwoch, 1. April 2015 um 23:20:00 MESZ

Herr Birkholz, wer will denn etwas bildhaft nehmen!?

Clement und Hau unterstellen fortwährend einen naiven Realismus, wenn man Steiners Schilderungen in irgendeiner Weise ernst nimmt. Alles, was Steiner an Wesen schildert, existiert nicht als Wesen. Es sind bloße „Aspekte“ des „Universal-Ich“ oder was weiß ich.

Mit der Aufforderung, ein Zitat zu bringen, möchte ich ins Konkrete kommen. Ich weiß, dass es diese vielen Zitate gibt. Ich möchte an einem beliebigen Zitat gezeigt haben und zeigen, worum es genau geht. Selbstverständlich wollte Steiner seine Aussagen nicht bildhaft 1:1 aufgenommen haben. Es gibt nun einmal den Unterschied zwischen Intuition und Imagination und dann noch einmal die Sprache selbst! Das Spektrum, das Sie erwähnen, gilt es ja gerade auszuloten.

Zu Ihrer zweiten Bemerkung: Steiner hat sich gegen diese Modelle im Besonderen und gegen Anschauungsunterricht im Allgemeinen immer strikt verwahrt. Das wissen Sie doch?

Stephan Birkholz - Mittwoch, 1. April 2015 um 23:33:00 MESZ
Herr Niederhausen,
worauf ich etwas hinaus möchte ist Folgendes:
Wir sind momentan -was unser kulturelles Umfeld betrifft- alle in extremer Weise zerrissen zwischen Visualisierung einerseits und Abstraktion in unerträglicher Reinform andererseits...
Ich habe schon den Eindruck dass Herr Clement versucht, zwischen diesen Extremformen Anknüpfungspunkte (insbesondere für die akademische Welt) an Steiners Arbeiten aus dem Dampflokzeitalter zu finden und herzustellen...
//
Und die andere Seite ist die:
Wer glaubt, dass es Sankt Michael gibt, einfach nur so - unabhängig von allem anderen, dann ist man einfach in naivem Realismus gefangen.
Denn letztendlich erleben wir Sankt Michael auch im immaginativen Bereich zwar als Gestalt - aber diese schaubare Gestallt ist dennoch die Wirkung, Ergebnis und Ausdruck seiner Taten im Kontext mit seiner Mitwelt...

Stephan Birkholz - Mittwoch, 1. April 2015 um 23:43:00 MESZ
Wenn ich mit einem Menschen in einem Raum bin, dann ist es schon rein physisch eine Illusion, dass jeder von uns beiden seinen ganz ihm eigenen physischen Leib hat:
Schon nach Minuten hat er Luft in seinem Leib, die zuvor die meines Leibes war und nach etwas Längerer Zeit sicher auch Wasser...
Und von dieser anschaulichen Betrachtung aus kann man dann weiterdenken....


Holger Niederhausen - Donnerstag, 2. April 2015 um 00:12:00 MESZ

Lieber Herr Birkholz, worauf wollen Sie mit Ihrem zweiten Beispiel von den zwei Menschen in einem Raum hinaus? Doch sicher nicht darauf, dass die beiden letztlich derselbe sind? Darauf aber will Herr Clement hinaus.

Ja, die Zerrissenheit zwischen Visualisierung und Abstraktion ist enorm, vielen Dank für Ihren wichtigen Hinweis. Hier gälte es aber, Steiner sehr konkret ernst zu nehmen. Denn das Geistige ist nicht das Sinnliche. Der erste Stufe einer Spiritualisierung des Denkens besteht in einem aktiven, willensdurchdrungenen Denken, wodurch das Denken real wird. Dann können auch Begriffe wirklich gedacht werden, während man sich vorher in Vorstellungsgedanken bewegt. Dieses aktive Denken überwindet die Abstraktion, denn es gewinnt und wird selbst Leben. Als höhere Erkenntnisstufe schildert Steiner dann die Imagination. Er sagt wirklich: Das Denken muss wieder bildhaft werden. In die höheren Bereiche der geistigen Welt kann nicht aufgestiegen werden, wenn das Denken die Bildlosigkeit behält, auch nicht, wenn es das bloße Begriffsdenken bleibt.

Es ist deutlich – oder sollte sehr deutlich werden –, dass diese Bildhaftigkeit nichts zu tun hat mit dem Visuellen der Sinneswelt, sondern dass die tiefgreifende Verwandlung, die hier mit dem Denken geschehen soll, etwas völlig anderes ist. Die imaginative Erkenntnisstufe hat ja bereits keinerlei Anklänge an die Sinneswelt mehr. Die menschliche Sprache muss dann doch wieder zu Worten greifen, die damit zu tun haben – es ist also alles nur sehr annähernd möglich. Aber all diese Unterschiede muss man deutlich festhalten. Es geht also nicht um die Spanne zwischen „Visuellem“ und „Abstraktem“, sondern der Weg der Spiritualisierung des Denkens und zum wirklichen Geist-Erleben lässt diese Spanne gerade hinter sich, um gleichsam „auf der anderen Seite“ weiterzugehen: Das Abstrakte kehrt sich völlig um und wird zu neuem Leben. Das Visuelle kehrt sich völlig um und wird zu einem bildhaften Denken, das mit allem Irdisch-Bildhaften nicht mehr das Geringste zu tun hat. Und zugleich ist sich der Geistesforscher voll bewusst, dass alles Imaginative nur Geistesbild für Etwas ist, also den Bildcharakter hat. All das berücksichtigt Clement in keinster Weise – er geht darüber hinweg, es spielt für ihn einfach keine Rolle, und es hat in seinen Thesen, in denen es keinerlei Wesen außer Ich/Ich gibt, ja auch keinerlei Relevanz.

Niemand glaubt, dass es „Sankt Michael“ „einfach nur so gibt“. Was heißt denn überhaupt „unabhängig von allem anderen“? Das „Sankt“ ist ja überhaupt schon Bestandteil der bloßen Tradition. Wie meinen Sie das: „Die Gestalt ist Wirkung und Ausdruck seiner Taten im Kontext mit seiner Mitwelt“? Das verstehe ich noch überhaupt nicht.

Stephan Birkholz - Donnerstag, 2. April 2015 um 00:25:00 MESZ
Mit dem Beispiel von den zwei Menschen möchte ich nur sagen, dass die Grenzen nicht so leicht fassbar sind...

Felix Hau - Donnerstag, 2. April 2015 um 00:11:00 MESZ
„1. Bezeichnen Sie nun die imaginativen Schilderungen Rudolf Steiners als „Verpackung“ oder sein energisches Ringen um die richtigen Worte oder was genau?“
Alles, was Versuch ist, geistiges Erleben auszudrücken. Aus meiner Erfahrung gibt es schlicht drei von einander zu unterscheidende Sachverhalte:
1. Das Erleben selbst
2. Die Vergegenwärtigung des Erlebten in etwas Anschaubares (für mich als Subjekt)
3. Die intersubjektive Vermittlung/den Ausdruck dieses Anschaubaren gegenüber anderen.
Dabei ist festzuhalten:
Ausdruck und Anschauung sind beides Verpackungen gegenüber dem Inhalt des Erlebten; sie machen das Erlebte auf unterschiedliche Weise greifbar und ermöglichen Einordnung; sie verdinglichen es.

„2. Des Weiteren möchte ich Sie einmal auffordern, einen einzigen Hinweis Steiners zu geben, in dem er davor warnt, wörtlich/bildhaft zu nehmen, was er sagt – und was sich auf die Frage höherer Wesenheiten bezieht. Bitte ein genaues Zitat!“
Kann ich leider nicht; ich habe weder eine GA hier, noch wüsste ich, wo ich auf die Schnelle nach einem dieser Hinweise suchen sollte. Sie finden eine Darstellung des „Darstellungsproblems“ aber relativ ausführlich in mindestens einer der Vorreden zur „Geheimwissenschaft“; des Weiteren im letzten Kapitel der „Theosophie“ (dort als Hinweis, was dem Geistesschüler im Falle der Einweihung als Gewissheit darüber zuteil wird, wie die Wahrheiten über den Geist *gemeint* sind und dass alle falsche Vorstellung, die er sich bis dato vom Geist gemacht hat, dann schwindet) und im „Lebensgang“ insofern, als Steiner dort zum einen von seiner Aufgabe einer Ideengestaltung für die geistige Welt und zum anderen von deren freiem Erbilden spricht.

„3. Und dann wenn möglich noch eines Ihrer auswendigen, die ich ganz sicher nicht in meinem Sinne ernst nehmen würde, Ihrer Aussage nach. „
Dürfen’s auch drei sein? ;-)
(Alle aus „Der Egoismus in der Philosophie, 1899)
1. Eine göttliche Weltordnung ist ein Geschöpf des menschlichen Geistes. Nur ist sich der Mensch nicht klar darüber, dass der Inhalt dieser Weltordnung aus seinem eigenen Geiste entsprungen ist. Er verlegt ihn daher nach außen und ordnet sich seinem eigenen Erzeugnis unter.
2. Man braucht dem Menschen nur zu sagen: du hast deine Meinungen und Gedanken nicht aus dir selbst, sondern ein Gott hat sie dir geoffenbart: dann ist er versöhnt mit sich selbst. Und streift er den Glauben an Gott ab, dann setzt er an seine Stelle: die natürliche Ordnung der Dinge, die ewigen Gesetze. Dass er diesen Gott, diese ewigen Gesetze nirgends in der Welt draußen finden kann, dass er sie vielmehr erst zu der Welt hinzuerschaffen muss, wenn sie da sein sollen: das will er sich zunächst nicht eingestehen. Es wird ihm schwer, sich zu sagen: die Welt außer mir ist ungöttlich; ich aber nehme mir, kraft meines Wesens, das Recht, das Göttliche in sie hineinzuschauen.
3. Das Christentum bietet dasjenige, was die griechische Philosophie in der Sprache des Weltweisen zum Ausdruck bringt, in volkstümlichen, sozusagen, mit Händen zu greifenden Vorstellungen dar. Wenn man sich vergegenwärtigt, wie tief eingewurzelt in der Menschennatur der Drang ist, sich der eigenen Wesenheit zu entäußern, so erscheint es begreiflich, dass diese Lehre eine so unvergleichliche Macht über die Gemüter gewonnen hat. Um diesen Drang auf philosophischem Wege zu befriedigen: dazu gehört eine hohe Entwicklungsstufe des Geistes. Ihn in der Form des christlichen Glaubens zu befriedigen, reicht das naivste Gemüt aus. Nicht einen feingeistigen Inhalt wie Platos Ideenwelt, nicht ein dem erst zu entfachenden inneren Lichte entströmendes Erleben stellt das Christentum als höchste Weltwesenheit dar, sondern Vorgänge mit den Attributen sinnlich-greifbarer Wirklichkeit. Ja es geht so weit, das höchste Wesen in einem einzelnen historischen Menschen zu verehren.

Felix Hau - Donnerstag, 2. April 2015 um 00:21:00 MESZ
Nachtrag: Im letzten Satz finden Sie übrigens den ersten Grund, aus dem sich Steiner kaum ein Jahr später genötigt sah, sich tiefer mit dem Christentum auseinanderzusetzen. Ihm war inzwischen zur vollständigen Klarheit geworden, wie fatal der christliche Wurzelmythos die abendländische Bewusstseinsentwicklung beeinflusst hatte. Dem galt es, etwas entgegenzusetzen. Und der - Entschuldigung - diabolische Plan, das ganz konkret zu tun, reifte in Steiner dann, als er Annie Besant's "Esoteric Christianity" (tatsächlich und ausnahmsweise im englischen Original) gelesen hatte. Wenige Tage später begann er seine Vortragsreihe über das "Christentum als mystische Tatsache".


Holger Niederhausen - Donnerstag, 2. April 2015 um 01:28:00 MESZ

Ja, Herr Hau. Erleben – Vergegenwärtigung – Ausdruck/Vermittlung. Die Frage ist nur: Halten Sie das Erleben einer Wesensbegegnung für möglich oder nicht?

GA 13: „Wer das Wesen solcher Offenbarung erlebend kennengelernt hat, der weiß, daß die Gedanken des gewöhnlichen Bewußtseins nur geeignet sind, das sinnlich Wahrgenommene, nicht aber das geistig Geschaute, auszudrücken. Der Inhalt des geistig Geschauten läßt sich nur in Bildern (Imaginationen) wiedergeben, durch die Inspirationen sprechen, die von intuitiv erlebter geistiger Wesenheit herrühren.“

Selbstverständlich kann das Erleben nicht unmittelbar ausgedrückt werden. Die entscheidende Frage ist dennoch: Gibt es in Ihren Augen das Erleben von Wesenhaftem, von anderen Wesen? Wie solches dann zum Ausdruck gebracht und dargestellt, beschrieben, geschildert werden kann, ist eine ganz andere Frage.

GA 9, S. 192f: „Er redet fortan nicht mehr mit den Dingen, die durch den Geist gestaltet sind [z.B. Imagination, H.N.], sondern mit dem gestaltenden Geiste selbst [Intuition, H.N.]. [...] Man soll nicht verwechseln dieses Einswerden der Persönlichkeit mit dem umfassenden Geistesleben mit einem die Persönlichkeit vernichtenden Aufgehen derselben in dem ‚Allgeist’. Ein solches ‚Verschwinden’ findet bei wahrer Entwickelung der Persönlichkeit nicht statt. Diese bleibt in dem Verhältnis, das sie mit der Geistwelt eingeht, als Persönlichkeit gewahrt.“

Können Sie auch den Gedanken denken, dass Rudolf Steiner die differenzierte Wesenhaftigkeit der geistigen Welt, die er hier in Anlehnung an theosophische Vorstellungen noch nur allgemein ‚den Geist’ oder ‚Allgeist’ (in Anführungszeichen) nennt, in den folgenden Jahren immer tiefer erlebt hat (siehe Punkt 1 ihrer drei Stufen)?

Ja, der „Egoismus in der Philosophie“ von 1899 bezeichnet einen besonderen Punkt in Steiners Entwicklung. Er sagt über diesen Aufsatz in „Mein Lebensgang“ (GA 28, S. 409): „Es steht eine Innenwelt da, die zeigt, wie weit das bloße Denken im Weltbegreifen kommt. Man sieht, ich habe das voranthroposophische Seelenleben vor meiner Hingabe an die öffentliche anthroposophische Darstellung der Geistwelt von den verschiedensten Gesichtspunkten aus geschildert.“ – Und selbstverständlich lehnt Steiner auch hier alle traditionellen Vorstellungen und Glaubenssätze in Bezug auf das Geistige oder Göttliche ab.

Dann die Stelle aus „Mein Lebensgang“, die Sie andeuteten (GA 28, S. 410):

„Aber indem die Schritte getan werden, sind es zunächst im Anfange des Buches naturwissenschaftliche Ideen, in die das Schauen sich hüllt, bis es sich in dem Aufsteigen in die höheren Welten immer mehr im freien Erbilden der geistigen Welt betätigen muß.“


Was Sie hierbei noch nicht erfassen, ist die Dialektik, dass Geistesforschung im „freien Erbilden“ gerade zu einer wirklichen Erkenntnis der Geistwelt kommt – hier liegt das Grundgeheimnis des geistigen Erkennens, der Anthroposophie.
Steiner selbst schreibt eine Seite später: „Man fand nicht den Mut, die Fesseln der bloß sinnenfälligen Beobachtung zu durchbrechen; man fürchtete, in Gebiete zu kommen, wo jeder seine Phantasie geltend macht.“

Was Sie nicht berücksichtigen, ist, dass schon Goethes Urpflanze auf diesem „freien Erbilden“ beruht, denn sie ist nirgendwo in der Natur zu finden – und auch nicht eine Abstraktion, von sinnlich sichtbaren Pflanzen abgezogen. Dieses „freie Erbilden“ bleibt ein gültiges Gesetz auch bei der Erkenntnis der höheren Geistwelt. Aber diesem „freien Erbilden“, wenn es im Sinne des Schulungsweges entwickelt wurde, führt zu einem realen Erkennen. Und warum? Weil die geistige Wirklichkeit diesem „freien Erbilden“ des Menschengeistes entgegenkommt und sich in dieses freie Erbilden hinein-kleidet. Da haben Sie die „Verkleidung“ und das Objektive, das sich hinein-kleidet zugleich. Das ist lebendige Dialektik der Geistes-Wissenschaft. Die geistige Welt KANN dem Menschengeist nur auf diese Weise entgegenkommen. Er muss mit diesem „freien Erbilden“ anfangen!

Bis dahin muss das Verständnis kommen. Dann geht es auch nicht mehr um den Märchenonkel. Goethe war dies nicht – und Steiner erst recht nicht.

Zum Abschluss noch ein Zitat aus der „Theosophie“ in diesem Sinne (S. 176):

„Der unbegründete Unglaube allerdings ist schädlich. Denn er wirkt in dem Empfangenden als eine zurückstoßende Kraft. Er verhindert ihn, die befruchtenden Gedanken aufzunehmen. Kein blinder Glaube, wohl aber die Aufnahme der geisteswissenschaftlichen Gedankenwelt wird bei der Erschließung der höheren Sinne vorausgesetzt. Der Geistesforscher tritt seinem Schüler entgegen mit der Zumutung: nicht glauben sollst du, was ich dir sage, sondern es denken, es zum Inhalte deiner eigenen Gedankenwelt machen, dann werden meine Gedanken schon selbst in dir bewirken, daß du sie in ihrer Wahrheit erkennst. Dies ist die Gesinnung des Geistesforschers. Er gibt die Anregung; die Kraft des Fürwahrhaltens entspringt aus dem eigenen Innern des Aufnehmenden. Und in diesem Sinne sollten die geisteswissenschaftlichen Anschauungen gesucht werden. Wer die Überwindung hat, sein Denken in diese zu versenken, kann sicher sein, daß in einer kürzeren oder längeren Zeit sie ihn zu eigenem Anschauen führen werden.“


Hier hört wirklich jede falsche Unterstellung von „Glaube“/„Kritiklosigkeit“ auf. Wenn man in der Lage ist, zu begreifen, dass man nicht „kritiklos“ oder „blind gläubig“ sein muss, wenn man intensiv die Schilderungen des Geistesforschers zu seinem eigenen Gedankeninhalt macht, dann hat man die lebendige Dialektik der Anthroposophie begriffen. Sie führt, wenn man sie ernst nimmt, einem eigenständigen Schauen entgegen. Doch dafür muss man sie ernst nehmen. Von 1886 bis 1925.

Mit Hochmut kommen Sie an die Anthroposophie nicht heran, Herr Hau. Sie haben die entscheidende Bedeutung des „freien Erbildens“ des Menschengeistes und des gerade dadurch möglichen Zusammenklanges mit einer geistigen Welt nicht verstanden. 

Ingrid H. - Donnerstag, 2. April 2015 um 09:58:00 MESZ
Lieber Holger,
»Deine andere Rückfrage zu „Märchen“ oder nicht, verstehe ich nicht bzw. sie bleibt mir in Bezug auf Steiner zu allgemein. Entscheidend bleibt die Frage nach dem Wirklichkeitscharakter von dem, was Steiner beschreibt.«
Zur weiteren Erläuterung dessen, was ich unter Wirk-lichkeits-Charakter (mit Blick in die Zukunft) verstehe, zunächst ein weiterer Satz aus Steiners Egoismus in der Philosophie:
»Will man den Standpunkt des religiösen Menschen charakterisieren, so muss man sagen: er versucht die Welt von sich aus zu beurteilen, aber er hat nicht den Mut, auch sich selbst die Verantwortung für dieses Urteil zuzuschreiben, deshalb erfindet er sich Wesen in der Außenwelt, denen er diese Verantwortung aufbürdet.«
– und ein Zitat aus Lou Andreas-Salomés 1896 erschienenem Aufsatz Jesus der Jude:
»Ja, man kann sagen: die ursprünglich götterbildenden Regungen und die von schon vorhandenen Göttern gebildeten Regungen, die sich allmählich im Verlauf der Religionsentwicklung nothwendig ergeben, verhalten sich, logisch und historisch betrachtet, wie zwei ganz von einander verschiedene Empfindungskomplexe, und beinahe wie Ursache und Wirkung.«
(Ich habe das schon früher einmal zitiert, aber damals haben weder Du noch Felix Euch an unseren Egoistengesprächen beteiligt, daher die Wiederholung.)
Wenn ich die Sache so ansehe, dann ergibt sich für mich daraus vor allen Dingen der Auftrag, in Zukunft sehr genau darauf zu achten, bei der Bildung welcher Götter wir mitwirken...
Herzlich,
Ingrid

Felix Hau - Donnerstag, 2. April 2015 um 02:32:00 MESZ
"Die Frage ist nur: Halten Sie das Erleben einer Wesensbegegnung für möglich oder nicht?"
Das kommt darauf an, was Sie unter einer "Wesensbegegnung", unter "Wesen" verstehen, Herr Niederhausen. Das sind ja bereits Ausdrücke, die etwas zunächst Erlebtes, dann in Anschauung Verwandeltes schließlich zu vermitteln gedenken. Ich kann's auch so sagen: die "Verwesentlichung" von Erlebnisinhalten ist mindestens ein Anschauungsakt (der in seiner jeweiligen Spezifik übrigens bereits sehr kulturell bedingt ist).
"Können Sie auch den Gedanken denken, dass Rudolf Steiner die differenzierte Wesenhaftigkeit der geistigen Welt, die er hier in Anlehnung an theosophische Vorstellungen noch nur allgemein ‚den Geist’ oder ‚Allgeist’ (in Anführungszeichen) nennt, in den folgenden Jahren immer tiefer erlebt hat (siehe Punkt 1 ihrer drei Stufen)?"
Ja, kann ich - ich halte ihn aber nicht für richtig. Was Steiner in den späteren Jahren getan hat, ist das ständig und somit auch zuvor Erlebte zunehmend in Anschauungen zu verwandeln und diese dann auszudrücken.
Zu den Zitaten aus dem "Egoismus in der Philosophie": Sie bestätigen meine explizite Ahnung. "Ernst nehmen" können Sie das dort Gesagte nur durch die Brille des später autointerpretierenden Steiner, nicht als das dort ziemlich ultimativ Gesagte.
Da Sie diese Brille schon nicht absetzen wollen, bitte ich wenigstens darum, sich auch die beiden Folgesätze Ihres Spät-Zitates anzusehen, in denen Steiner u.a. feststellt, dass das Weltbild, das in diesem Aufsatz entsteht, durch die Anthroposophie nicht widerlegt, sondern erweitert und fortgesetzt wird.
Und wenn das so ist, dann müssten Sie mir insbesondere den dritten von mir zitierten Aufsatz-Ausschnitt unter diesem Gesichtspunkt mal erläutern.
"Und selbstverständlich lehnt Steiner auch hier alle traditionellen Vorstellungen und Glaubenssätze in Bezug auf das Geistige oder Göttliche ab."
Ja, aber er lässt es dabei eben nicht bewenden. Er bestimmt als Quelle des Geistes den Menschen; er erteilt allen als unabhängig vom Menschen behaupteten "höheren Welten" eine Absage; und er findet den Christusglauben schlicht unappetitlich.
Wenn Anthroposophie dem aber nicht nur nicht widerspricht, sondern es sogar erweitert und fortsetzt, wie Steiner im Lebensgang schreibt, dann wäre ich doch sehr auf Ihre Erläuterung dazu gespannt, wie das in Ihrer Anthroposophie-Interpretation wohl zusammenpassen mag.

"Was Sie hierbei noch nicht erfassen, ist die Dialektik, dass Geistesforschung im „freien Erbilden“ gerade zu einer wirklichen Erkenntnis der Geistwelt kommt."
Doch, doch. Letzteres ist ja eben, was ich Ihnen die ganze Zeit zu erklären versuche. Ich sehe da nur nicht Ihre viel zu komplizierte und mit dem der Anthroposophie angeblich nicht widersprechenden Aufsatz von 1899 nicht kompatible "Dialektik" am Werk, sondern etwas viel Schlichteres, nämlich den Umstand, dass der Mensch die Quelle des Geistes ist. Und er allein ist es auch, der die Wirklichkeit der von ihm erschaffenen geistigen Welt verbürgt.
Goethes Urpflanze ist, wie Sie ganz richtig anmerken, weder in der Natur vorhanden, noch eine Abstraktion. Sie ist, bevor Goethe sie schaute, allerdings *überhaupt nirgendwo vorhanden* gewesen, auch nicht in einer als so etwas wie eine durchsichtige Zweitnatur vorgestellten, menschenunabhängigen "geistigen Welt". Und nach Goethe ist sie nur insofern vorhanden, als Menschen sie schauen können – andernfalls nicht.


Holger Niederhausen - Donnerstag, 2. April 2015 um 13:41:00 MESZ

Liebe Ingrid, welche Wirklichkeiten durch Vorstellungen geschaffen werden, ist die eine Sache. Eine ganz Andere ist, Wirklichkeiten aus der Welt schaffen zu wollen. Der ganze Kampf zwischen Nominalismus und Realismus dreht sich um diese Frage.

Der Nominalismus aber schüttet das Kind mit dem Bade aus, indem er die „götterschaffende Kraft“ verabsolutiert, wodurch sie letztlich zu subjektiver Phantasie wird – zum bloßen Konstruktivismus.

Das ganze spätere Lebenswerk Steiners zeugt davon, dass der „götterschaffenden Kraft“ die geistige Welt wirklich-real entgegenkommt und sich dem „freien Erbilden“ des Geistesforschers „ein-leiben“ kann. Das gerade ist die Dialektik der geistigen Wirklichkeit. Der Nominalismus/Konstruktivismus sieht nur die eine Seite: den Menschen. Nur diesen erklärt er als „Geist“. Dadurch wird alles „Phantasie“, „Deutung“ etc. – Alles, zu dem dieser Geist kommt, soll sein eigenes Erzeugnis sein. Dass Geist dem Geist entgegenkommt, versteht man einfach nicht. Dass etwas „ein eigenes Erzeugnis“ sein kann und dennoch gerade in dieser Tätigkeit ein „Nicht-Eigenes“ in sich aufnehmen und sich offenbaren lassen kann, versteht man nicht. Dabei könnte man es schon in der Begegnung zweier Menschen-Iche erleben. Ich verstehe nur das, wofür ich Begriffe bilden kann. Diese sind ein freies Erzeugnis (meines) Menschengeistes. Doch gerade durch sie kann sich das andere Wesen offenbaren – immer nur so weit, wie ich selbst die Begriffe schaffen kann, die ihm dies ermöglichen. Dies auf höherer Stufe ist das Erkennen der geistigen Welt in ihrer unendlich wesenhaften Differenziertheit.

Das ist Anthroposophie, und es ist erschütternd, dass dies so wenig verstanden wird!

Holger Niederhausen - Donnerstag, 2. April 2015 um 13:42:00 MESZ

Herr Hau, das Problem des Nominalismus ist es, dass er, wenn man von „Wesensbegegnung“ spricht, antwortet, das seien bereits bloße „Ausdrücke“. Ich muss einen Erlebnisinhalt nicht „verwesentlichen“, wenn er bereits im unmittelbaren intuitiven Erleben Wesenscharakter hat! Ich kann mir zwar bewusst werden, dass er dies hat, aber das ändert nichts an der Tatsache. Was Sie mit Ihren Schritten Erlebtes > Anschauung machen, unterstellt, dass das „Erlebte“ danach „interpretiert“ werden müsse. Das ist zwar bei den unteren Erkenntnisstufen der Fall, nicht jedoch bei der Intuition selbst, denn diese ist unmittelbare Wesensbegegnung und unmittelbare Anschauung dieser Begegnung.

Ein Beispiel finden Sie im sogenannten Ausnahmezustand. Das Denken, das sich selbst erfasst, ist das Ur-Beispiel der Intuition. Es muss nicht nachträglich interpretieren oder zu einer Anschauung machen, was es da erfasst hat. Dies ist im Moment des intuitiven Erfassens so klar wie nur möglich, ohne jeden Rest. Nun müssen Sie nur noch in der Lage sein, diese Klarheit und Unmittelbarkeit auf das intuitive Erkennen anderer Geistigkeit auszudehnen.

Wenn Sie das können, brauchen Sie nicht an der These festhalten, dass Rudolf Steiner zwanzig Jahre lang nur „das zuvor schon Erlebte“ in Anschauungen verwandelte und ausdrückte. Dass er fortwährend aktuelle und immer tiefer reichende Geistesforschung betrieb, wird aus seinen eigenen Äußerungen zur Genüge klar. Und dann brauchen Sie auch nicht das, was Steiner 1899 „ziemlich ultimativ“ gesagt hat, zu verabsolutieren und zu behaupten, der späte Steiner habe den frühen Steiner völlig neu interpretiert. Steiner stand 1899 auf einer bestimmten Stufe des Geist-Erkennens, und er stand danach fortwährend auf anderen Stufen. Wie geht es Ihnen? Bleiben Sie fortwährend auf derselben Stufe stehen?

Selbstverständlich können wir 1899 noch ganz die Abneigung Steiners gegen jedes traditionell verstandene Christentum erleben:

„Nicht einen feingeistigen Inhalt wie Platos Ideenwelt, nicht ein dem erst zu entfachenden inneren Lichte entströmendes Erleben stellt das Christentum als höchste Weltwesenheit dar, sondern Vorgänge mit den Attributen sinnlich-greifbarer Wirklichkeit. Ja es geht so weit, das höchste Wesen in einem einzelnen historischen Menschen zu verehren.“ – Gegen das Grob-Sinnenfällige wendet sich Steiner. Gegen den Jesus-Kult. Gegen den simplen Glauben, der Gott sei zur Erde gestiegen und als Mensch geboren worden und nun auf Erden herumgelaufen, wo er angebetet werden könne. Wenn man sich wirklich auf die Gedanken Steiners einlässt, kann man sehr genau empfinden, was er hier meint und kritisiert. Doch auch dafür muss man sich von Vorurteilen, Einseitigkeiten und Lieblingsthesen freimachen – sonst interpretiert man fortwährend Dinge hinein, die Steiner hier nicht sagt und nicht verabsolutiert.

Wenn man dann die weitere Entwicklung von Rudolf Steiners Anthroposophie verfolgt, erlebt man, wie er gerade zeigt, dass und wie sehr sich das höchste Wesen nur erfassen lässt mit ein „dem inneren Lichte entströmenden Erleben“. Dieses lichtvolle Erleben kann dann aber schließlich auch schauen, wie es möglich ist, dass das höchste Wesen sich mit einem Menschen verbunden hat – von dem es gleichzeitig wohl zu unterscheiden ist –, um dasjenige zu vollziehen, was die Zeitenwende und das von da aus weiterwirkende Mysterium umfasst.

Das ganze weitere Schicksal des Menschen und des Menschengeistes ist mit diesem Geschehen ja innig verwoben. Auch die Anthroposophie selbst ist innig mit diesem höchsten Wesen verwoben. Und deshalb kann es sich auch dem Menschengeist so innig offenbaren. Das Ganze ist ein Logos-Geheimnis. Sie wenden sich davon gerade dadurch ab, dass Sie den Menschen-Geist verabsolutieren, ein wenig zu weit. Ein Gleichgewicht dazu könnte sein, dass Steiner mehrfach deutlich gemacht hat, dass dieses Absolute das Denken ist, das „in uns hineinragt“. Es ist uns also gegeben, das ist ein wichtiger Punkt, an dem man einmal verharren könnte. Der Kampf zwischen Nominalismus und Realismus ist auch ein Kampf zwischen Hochmut und Demut bzw. wahrem Mut, der aber nicht Hochmut wird.

Die „Quelle des Geistes“ ist der Mensch, ja, aber nur, weil eine höhere Welt ihn zu dieser Quelle werden ließ. Der Menschengeist betrachtet sich (nachdem er alle religiösen Vorstellungen überwunden hat) so lange als „Einziger“, bis er als Quelle mit der großen Quell-Realität einer geistigen Welt, deren Eigenleben er immer mehr, tiefer und differenzierter gewahr wird, zusammenströmen kann.

Was Sie als „viel zu komplizierte Dialektik“ bezeichnen, mag Ihnen zu kompliziert sein, aber es ist die Wirklichkeit – die Rudolf Steiner sehr klar und eindeutig bezeichnet hat. Wenn Ihnen dies schon zu kompliziert ist, kann ich Ihre simplen Thesen verstehen. Ihre Liebe zu Aufsätzen wie den von 1899 verstehe ich ja ohnehin. Nur sollte man die innere Sympathie nicht zum Maßstab machen – und auch weder selbst stehenbleiben noch andere Menschen (Steiner) deutend auf irgendeinem Stand festhalten.

Die „geistige Welt“ ist keine menschenunabhängige Zweitnatur, sie ist aber auch nicht identisch mit dem Menschen. Sie ragt in den Menschen hinein, und zwar durch das ihm gegebene Denken. Im Denken erhebt sich der Mensch zur geistigen Welt, er kann sich mit ihr vereinen. Könnte er dies vollkommen, überall und fortwährend, wäre er gott-gleich. Er kann es aber zumindest unvollkommen, sukzessive, ausschnitthaft und für Momente.

Goethe schaute die Urpflanze. Wie kann man etwas „schauen“, was zuvor „überhaupt nirgendwo vorhanden“ gewesen wäre? Das ist so, wie die nicht präexistente, in einem Moment entstehende Seele (wie es Aristoteles glaubte). Sind vielleicht auch überhaupt alle Begriffe, die der Menschengeist fassen kann, „überhaupt nirgendwo vorhanden“, bis der Menschengeist sie fasst? Der Begriff des Kreises?

Hier beginnt der Nominalismus bereits, Herr Hau. All dies ist eine geistige Realität, auch wenn ein Herr Hau den Kreisbegriff bis an sein Lebensende niemals denken würde. Was aber keine Realität ist, bevor es sich verwirklicht, ist das menschliche Denken und Erkennen.

Die geistige Welt wartet auf das Erwachen und Wachsen des Menschengeistes. Denn der Mensch ist etwas, was im Weltganzen noch nicht wirklich da ist. Und Ihre Thesen halten sein Erwachen und Wachsen auf einer sehr niedrigen Stufe fest.

Ingrid H. - Donnerstag, 2. April 2015 um 14:02:00 MESZ
Lieber Holger,
danke für Deine Antwort.
Weißt Du - ich bin nicht gerade ein Experte für die verschiedenen „Ismen“, und im Gespräch mit konkreten Menschen versuche ich, dem, was sie tatsächlich sagen, möglichst genau zuzuhören, ohne ihren Worten noch zusätzlich das anzuhängen, was ich früher mit irgendwelchen „Ismen“ erlebt habe.
»Dass etwas „ein eigenes Erzeugnis“ sein kann und dennoch gerade in dieser Tätigkeit ein „Nicht-Eigenes“ in sich aufnehmen und sich offenbaren lassen kann, versteht man nicht.«
Wirklich nicht?
Wie begreifst Du, was Christian Clement hier fragt:
»Können Sie den Gedanken fassen, dass eine Offenbarung, die ein "Engel" Ihnen aus der "geistigen Welt bringt", eigentlich eine Offenbarung ist, welche Sie der Welt bringen?«
?
Nach allem, was ich bisher von Christian gelesen habe, nehme ich an, er hätte nichts dagegen, das auch umgekehrt zu formulieren (@ Christian: bitte widersprechen, falls ich mich irre!):
»... daß eine Offenbarung, die Sie der Welt bringen, eine Offenbarung ist, die ein „Engel“ Ihnen aus der „geistigen Welt bringt“«
Für mich ist es (eben wegen meines diesbezüglichen Nicht-Expertentums) weniger ein Nominalismus/Realismus-Problem, sondern eines von Form und Stoff.
Herzlich,
Ingrid

Burghard Schildt - Donnerstag, 2. April 2015 um 14:07:00 MESZ
Lieber Holger,
Du sagst: " Dass Geist dem Geist entgegenkommt, versteht man einfach nicht." Doch, man versteht das. Der Anthroposoph Pablo Picasso sagt von sich selbst:
"Die Inspiration existiert, aber sie muss dich bei der Arbeit finden."
~ B.

Jostein Sæther - Donnerstag, 2. April 2015 um 14:09:00 MESZ
Die Art der Annäherung und der Auseinandersetzung im Normalbewusstsein, wie es jetzt seit Tagen auf dem Egoistenblog läuft – um die Sinnbilds-, Imaginations- oder Realitätscharakter der geistigen Wesen verlor ihren bisherigen Überzeugungkraft und Glaubensschein und bekam eine neue Wesenskraft, als ich einem Wesen intuitiv-inspirativ-imaginativ begegnete, das mich all meine Wesenslosigkeit und die geringe selbsterworbene Wesenhaftigkeit nicht vor den physischen Augen und nicht vor dem dritten Auge stellte, sondern das allesmöglich-menschlich-zukünftige Geistessein aus dem eigenen Wesen herauskommen ließ. – Hier eine gesprochene Annäherung an dieses Geistphänomen von Rudolf Steiner:
«Nehmen wir an, jemand gelangt, nachdem er sich die Fähigkeit angeeignet hat, die gekennzeichnete Grenze zu überschreiten, von der Sinneswelt in die übersinnliche Welt hinein. An der Grenze früge er sich: Was muss ich jetzt zurücklassen, wenn ich mich auskennen will in der übersinnlichen Welt? Ich muss zurücklassen – so kann er sich bei guter Selbstbesinnung sagen – eigentlich alles, was ich in den verschiedenen Inkarnationen vom Erdenurbeginn an bis in die Jetztzeit auf der Erde erlebt, gelernt, mir angeeignet habe. Das muss ich hier ablegen, denn ich betrete eine Welt, in welcher das, was man innerhalb der Inkarnationen lernen kann, keinen Sinn mehr hat. Es ist leicht, möchte ich sagen, so etwas auszusprechen; es ist leicht, so etwas anzuhören; es ist leicht, das in Begriffsabstraktionen zu fassen. Aber es ist eine ganze innere Welt, so etwas zu empfinden, zu fühlen, zu erleben: alles dort abzulegen wie die Kleider, was man in all den Inkarnationen in dem Sinnensein sich angeeignet hat, um in eine Welt hineinzugehen, innerhalb welcher das alles keinen Sinn mehr hat. Hat man diese Empfindung lebendig, dann hat man auch eine lebendige Erfahrung – wirklich nichts, was mit irgendeiner Theorie zusammenhängt –, wie man sie hat, wenn man in der wirklichen Welt eben einem wirklichen Menschen gegenübertritt, den man kennenlernt, indem er zu einem spricht, sich zu einem verhält, den man nicht kennenlernt, indem man sich von ihm Begriffe konstruiert, sondern indem er mit einem lebt. So steht man an der Grenze zwischen Sinnensein und Geistessein nicht einem Begriffssystem, sondern einer Realität gegenüber, die nur als eine übersinnliche Realität wirkt, aber so konkret, so lebendig wie ein Mensch: das ist der Hüter der Schwelle. Er ist da als ein konkretes, reales Wesen. Und lernt man ihn kennen, so lernt man ihn auch kennen als ein Wesen, das in die Kategorie von Wesen gehört, die in einer gewissen Weise mitgemacht haben das Leben vom Erdenurbeginn, dann aber nicht dasjenige mitgemacht haben, was man als Seelenwesen erlebt. Das ist das Wesen, das in dem Mysteriendrama ‹Der Hüter der Schwelle› dramatisiert werden sollte mit den Worten:
Bekannt ist dir, der dieses Reiches Schwelle Behüten muss seit Erdenurbeginn, Was, um es zu betreten, Wesen brauchen, Die deiner Zeit und deiner Art gehören.» (Rudolf Steiner: Von der Initiation. GA 138. Seite 60ff)


Holger Niederhausen - Donnerstag, 2. April 2015 um 14:36:00 MESZ

Lieber Burghard, vielen Dank für diesen wunderbaren Satz von Picasso! Und Dir Jostein für Deine Worte und das Zitat, die beide zeigen, dass man der Frage nicht mit abstrakten Gedanken beikommt. Gerade um diesen Realismus, das Erleben des Realen geht es. Das „zukünftige Geistessein“ des Menschen ist etwas vollkommen anderes als ein abstraktes „Universal-Ich“, vor dem alles andere zu „Aspekten“ verblasst.

Holger Niederhausen - Donnerstag, 2. April 2015 um 14:36:00 MESZ

Liebe Ingrid, Clements Frage begreife ich so, dass er den Engel verneinen und bloß mich (ohne den Engel) an seine Stelle setzen will. Daher wären Clements Antworten auf all diese Fragen außerordentlich interessant.

Die entscheidende Frage besteht für mich darin, ob man sowohl den Engel als auch den Menschengeist denken kann, oder ob man den Engel nur zum Produkt des Menschengeistes oder zu einem Aspekt des Universal-Ich (was auch immer das ist) machen muss – kurz gesagt: ob man die Unterschiede verwischt, um im Schwammig-Abstrakten zu landen, oder ob man außer dem Menschengeist noch an etwas Wesenhaftes festhalten kann.

Noch anders gesagt: Erfasst der Menschengeist immer nur sich selbst – oder auch noch anderes außer sich selbst?

Noch anders: Muss er sich verabsolutieren, um den traditionellen Vorstellungsfallen zu entgehen – oder tappt er damit gerade in neue?

Noch anders: Erkennt der Engel nicht? Und zwar sogar in umfassenderem Sinne als das Individual-Ich?

Man könnte noch viele andere Formulierungen finden. Auf Clements Antworten hierzu bin ich gespannt.

Ingrid H. - Donnerstag, 2. April 2015 um 20:34:00 MESZ
Lieber Holger,
»Clements Frage begreife ich so, dass er den Engel verneinen und bloß mich (ohne den Engel) an seine Stelle setzen will. Daher wären Clements Antworten auf all diese Fragen außerordentlich interessant.«
Aber Christian Clement hat doch bereits ganz deutlich gesagt, daß er den Engel eben NICHT verneint, hier:
»Lieber Herr Niederhausen, nur weil der Engel aus dem ich kommt (und natürlich zugleich das Ich aus dem Engel), heisst das doch nicht, dass es den Engel "nicht gibt“.«
Du scheinst in seinen Antworten (übrigens auch denen von Felix Hau) nur das zur Kenntnis zu nehmen, was Du Dir schon vorher über die „Nominalisten“ zurechtgelegt hast.
So werden wir freilich nicht recht weiterkommen, und es würde mich nicht wundern, wenn Christian es irgendwann aufgibt, Dir zu antworten.
Oder meinst Du etwa, daß seine Antwort ein Aprilscherz war?


Holger Niederhausen - Donnerstag, 2. April 2015 um 23:19:00 MESZ

Liebe Ingrid, nein, ich nehme nicht nur das zur Kenntnis, was ich mir vorher zurechtgelegt habe. Ich gehe auf jede einzelne Äußerung ein. Es haben sich bereits eine Menge Erwiderungen und auch eigenständige Darstellungen angesammelt, auf die dagegen von Clement (und Hau) nicht mehr eingegangen wurde. Ich staune, wie sehr Du jetzt in dieser Antwort regelrecht „Partei“ für Christian Clement ergreifst und mir unterstellst, ich würde mir Dinge zurechtlegen und gewisse Dinge nicht zur Kenntnis nehmen. Mich würde einmal sehr interessieren, wie dies andere Menschen wahrnehmen! Wir werden auch nicht weiterkommen, wenn auf verschiedenste von meiner Seite gemachte Einwände gar nicht eingegangen wird!

Jetzt konkret zum Engel:

1. Ja, Clement sagt, „nur weil der Engel aus dem ich kommt (und natürlich zugleich das Ich aus dem Engel), heisst das doch nicht, dass es den Engel "nicht gibt“.“

2. Clement sagt „dass eine Offenbarung, die ein "Engel" Ihnen aus der "geistigen Welt bringt", eigentlich eine Offenbarung ist, welche Sie der Welt bringen.“

Im zweiten (zeitlich früheren) Satz vermisse ich den Engel ganz – er steht in Anführungszeichen und erscheint als illusionäre Interpretation.

Im ersten Satz hätte ich gerne Clements Verständnis des „Engels“ näher verstanden. Wie versteht er den „Engel“, der aus dem „Ich“ kommt? Wie versteht er den „Engel“, aus dem das „Ich“ kommt? Für mich sind das so lange Wortspielereien, wie es nicht zumindest denkerisch verdeutlicht wird, damit man es wirklich denken kann. Sagen kann man viel, und meinen, dass man es doch „ohne Weiteres denken kann“, auch. Wirkliches Denken ist etwas anderes. Und dafür müsste es konkreter geschildert werden.

3. Clement sagt auch, „Engel“ sei nur „Verbildlichung für einen gewissen Aspekt der universellen Schöpfungstätigkeit.“

Wir sind hier wieder bei der Frage nach dem Wesen des Engels.

Für Clement existieren nur „Aspekte“ der „universellen Schöpfungstätigkeit“. Woher kommt diese? Hier hat er nichts weiter als den Begriff „Universal-Ich“.

Du wunderst Dich, warum ich viele Äußerungen Clements so begreife, dass er den „Engel“ verneint? Und unterstellst mir, ich würde selektiv wahrnehmen? Ich liste Dir jetzt einmal meine Fragen und Hinweise auf, die umgekehrt nicht beantwortet worden sind.

Wenn es hier nur darum ginge, wer auf wieviele Äußerungen von wem nicht eingeht, würde es mich auch nicht wundern, wenn ich schon längst aufgegeben hätte, zu antworten und zu fragen – aber ich denke, auf diese Ebene der Unterstellungen sollten wir uns nicht begeben!

Die von Clement unbeantworteten Fragen

Also:

1. Clement bezeichnet eine Existenzebene des „Engels“ als die der Imagination des Hellsehers. Ich habe dagegen auf die Ebene der Intuition und den Begriff des Wesens hingewiesen. Hierauf habe ich bis jetzt keine Antwort erhalten.

2. Clement hat behauptet, es bestünde eine Dualität zwischen Anthroposophie als Instrument persönlicher spiritueller Schulung und Anthroposophie als wissenschaftlicher Zugang zur Wirklichkeit. Ich habe darauf hingewiesen, dass die Anthroposophie Ergebnis spiritueller Schulung ist und nur dadurch Geisteswissenschaft. Spirituelle Schulung und Anthroposophie/Geisteswissenschaft lassen sich überhaupt nicht trennen. Hierauf habe ich bis jetzt keine Antwort erhalten.

3. Ich wies darauf hin, dass Deutung der Anthroposophie nicht Anthroposophie ist und dass wissenschaftlicher Zugang zur Anthroposophie auch völlig in die Irre führen kann. Dass Steiner auf den gesunden Menschenverstand gerechnet hat. – Bis jetzt keine Antwort.

4. Ich wies darauf hin, dass es in der Geisteswissenschaft gerade darum geht, dass dem „freien Erbilden“ des Menschengeistes die reale, wesenhafte geistige Welt real entgegenkommt. Als Antwort bekam ich von Burghard ein bestätigendes Zitat von Picasso, von Hau die Bemerkung, diese Dialektik sei ihm „viel zu kompliziert“ und die Sache sei „viel schlichter“, von Clement nichts.

5. Ich wies darauf hin, dass Steiner betont, dass man sich mit den Schilderungen des Geisteswissenschaftlers durchdringen soll, dass man sie gründlich aufnehmen soll (Studium), weil sie selbst weiterführen. – Nichts.

6. Ebenso, dass dies nichts mit Kritiklosigkeit und Gläubigkeit zu tun hat, wie Steiner selbst betont. – Nichts.

7. Ich wies darauf hin, wie man selbst Stellen wie in dem Aufsatz von 1899 so verstehen kann, dass sie nicht einseitig nur die Thesen von Hau stützen, wie man innerlich empfinden kann, was Steiner ablehnt und was er nicht ablehnt, wo eine Offenheit bleibt, wenn man denn auch zu diesem Erleben bereit wäre. – Nichts.

8. Ich wies natürlich wiederholt auf die „Ehrfurcht“ hin – und auf die saloppen Bemerkungen, die bis hin zu diversen Angriffen gingen, bevor wir dann doch die sachliche Gesprächsebene erreicht haben. Also auf die Frage, ob Ehrfurcht, Ernst usw. möglicherweise eine essentielle Bedeutung für das tiefere Verständnis des Anthroposophie haben könnten. – Nichts als Abwehr.

9. Ich wies darauf hin, dass Clement da, wo Steiner vom Denken spricht, einfach sein Wort „Universal-Ich“ setzt, so dass es so aussieht, als spräche auch Steiner zumindest an einer Stelle vom „Universal-Ich“, das tut er aber in völlig anderer Form. Bei Steiner stehen sich nicht Individual-/Universal-Ich gegenüber, sondern individueller fühlender und denkender Mensch. Eine schwerwiegende Umdeutung. – Keinerlei Antwort.

10. Ich wies darauf hin, wie schwerwiegend Clement in der SKA Steiners Äußerungen zu Imagination und Inspiration entstellt – Stichwort „Halluzination“. – Bis heute keine Antwort.

11. Ich stellte konkrete Fragen zu Christus und Jesus und ihrem Verhältnis. – Nichts.

12. Weitere Fragen zum konkreten Verhältnis zwischen „Universal-Ich“ und individuellem Ich. – Nichts.

13. Ich wies darauf hin, dass es in Clements Äußerungen sogar oft unklar ist, von welchem der Iche er spricht. – Nichts.

14. Ich (und nicht nur ich) wies darauf hin, dass der fallende Baum auch ein Geräusch macht, wenn kein Mensch es hört. – Nichts.

15. Ich wies darauf hin, dass Clements These, die die ganze geistige Welt letztlich auf das Universal-Ich und seine „Aspekte“ reduziert, das Gegenteil der differenzierten Geist-Erkenntnis Rudolf Steiners ist. – Keine wirkliche Antwort.

Nehmen wir noch eine Antwort an Hau und zwei Fragen, die ich zuletzt stellte, hinzu:

16. Goethe schaute die Urpflanze. Wie kann man etwas „schauen“, was zuvor „überhaupt nirgendwo vorhanden“ gewesen wäre? – Nichts.

17. Erfasst der Menschengeist (Clement/Hau: Universal-Ich = Individual-Ich) immer nur sich selbst – oder auch noch anderes außer sich selbst?

18. Erkennt der Engel nicht? Und zwar sogar in umfassenderem Sinne als das Individual-Ich? 

Sicher habe ich noch einige andere Fragen, auf die ich bisher keine Antwort erhielt, vergessen.

Ich könnte jetzt versucht sein, zu glauben, dass dies vielleicht auch Taktik ist. Ich tue das nicht. Aber unterstelle mir bitte nicht, ich würde selektiv wahrnehmen – und suggeriere bitte auch nicht, dass es kaum wunderlich sei, wenn mir Clement irgendwann nicht mehr antworten würde! Wenn er es nicht täte, würde es mich aus ganz anderen Gründen wundern. Für mich sind noch an die zwanzig Fragen offen. Meines Wissens habe ich wiederum jeder Frage und jedem Hinweis mir gegenüber mit meiner Überzeugung und meinem Verständnis Rede und Antwort gestanden! Dir, Clement, Hau und allen anderen.

Selektive Wahrnehmung kann man jedem unterstellen – könnte ich zum Beispiel Hau spielend leicht unterstellen, zumal er auf meine letzte lange Antwort überhaupt nicht mehr erwidert hat. Wenn Du meine Wahrnehmung als „selektiv“ bezeichnest, dann nur, weil Du sehr entschieden dem anhängst, was Clement und Hau vorgebracht haben. Du hast wirklich keinerlei Grund dazu, meine Wahrnehmung als selektiv zu bezeichnen! Oder unterstellst Du aus Deiner Position heraus etwa, dass die Thesen und Argumente von Clement/Hau wesentlich mehr Überzeugungskraft haben? Dass ich mich blind für deren Überzeugungskraft mache? Bist Du jetzt die Richterin in Bezug auf die Wahrheit der Dinge?

Wenn wir hier überhaupt einen Begriff der selektiven Wahrnehmung einführen, dann bitte den der gänzlich unbeantworteten Fragen. Dort, wo auf Fragen eingegangen wird, setzen wir bitte zunächst immer den guten Willen des Antwortenden voraus! 

Michael Eggert - Donnerstag, 2. April 2015 um 23:28:00 MESZ
Wie Ingrid schon schrieb, nehmen Sie nur zur Kenntnis, was Ihnen ins Konzept passt. Im übrigen ist Ihr Tonfall unangemessen. Das hier ist weder eine kriminaltechnische noch eine inquisitorische Untersuchung- auch wenn Sie exakt so auftreten. Sie verwenden durch die Auflistungen und wiederholten Fragen Techniken des Verhörs. Offenbar sind Sie in der falschen Veranstaltung.


Holger Niederhausen - Donnerstag, 2. April 2015 um 23:48:00 MESZ

Herr Eggert, man kann es immer drehen, wie man will.

Solange die richtigen Personen mit den richtigen Auffassungen diskutieren, nennt man es „Diskussion“, sind es die falschen Personen mit den falschen Auffassungen, nennt man es „Inquisition“.

Stellen die richtigen Personen Fragen, auf die die falschen falsch eingehen, nennt man es „selektive Wahrnehmung“, wiederholen die falschen Personen Fragen, auf die die richtigen nicht eingehen, nennt man „Verhör“.

Unterstellen die richtigen Personen den falschen „selektive Wahrnehmung“, ist es in Ordnung, sich nicht zu wundern, wenn andere richtige Personen den falschen nicht mehr antworten. Wollen die falschen Personen einfach nur Antworten und im übrigen keine Unterstellungen, sind sie in der „falschen Veranstaltung“.

Tut mir leid, Herr Eggert, aber ich kann es dann nur eine „Clement-Promoting-Veranstaltung“ nennen. Eine solche verlasse ich dann gerne. Sie sind der Hausherr. Und so etwas lasse ich mir wirklich nicht sagen, von niemandem.

Es ist interessant, wie sich die Begriffe schillernd wandeln können, je nachdem, welche Argumente jemand vertritt. Lässt dies irgendwelche Rückschlüsse auf den „Individual-“ oder den „Universal-Geist“ zu? Oder nur auf den Geist des Blog-Herren, der ja auch so etwas wie ein Universalgeist ist, wenn es darum geht, die Situation zu interpretieren? Sie haben nicht einmal gemerkt, dass ich meine Fragen nur aufgelistet habe, weil Ingrid in die Unterstellungen zurückgefallen ist.

Sollten jedoch Ihre Mitbewohner mit Daueraufenthaltsberechtigung – Burghard, Clement, Ingrid, Jostein, Manroe (?), Mischa Butty, Stephan Birkholz, Valentin und vielleicht noch ein, zwei andere – alle der gleichen Meinung sein wie Sie, beglückwünsche ich Sie zu Ihrer weisen Begriffsdeutungshoheit!

P.S.: Wissen Sie, welche Nacht heute ist und welcher Tag in zehn Minuten beginnt?