06.12.2015

Das Geheimnis der Weihe-Nacht


„Eileen“, fragte er an einem der nächsten Abende, „was verbindest du mit Weihnachten?“
Nur noch zehn Tage trennten sie von diesem Fest.
„Ich? Ich weiß nicht. Eigentlich nur einen Weihnachtsbaum... Und natürlich Geschenke. Und anderes Essen. Feiertage, und ein Besuch bei den Großeltern – und von ihnen.“
„Und ... möchtest du auch das wirklich mit dem Herzen erleben?“
Erstaunt sah sie ihn an.
„Ja“, sagte sie zögernd, „wenn ich das kann?“
„Ja, du kannst es. Möchtest du es?“
„Ja...“
Nun spürte er ihre Sehnsucht, ihre noch kaum näher gefasste Hoffnung.
„Gut, ich will es versuchen, dir das Fest der Weihnacht näherzubringen, damit du es mit dem Herzen erleben kannst, wenn es da ist. Mach es dir bequem und höre einfach nur zu...“
Selig gab sie sich ihrer Geborgenheit hin und lauschte...

„Ja...“, begann er langsam, „wie beschreibt man etwas Heiliges, was doch in der Welt alle Heiligkeit verloren hat, weil die Menschen nicht mehr mit dem Herzen erleben...? Kann man etwas Heiliges denn beschreiben? Wie weit reicht überhaupt die Sprache? Wie weit reichen die eigenen Fähigkeiten, etwas auszudrücken? Wie viele Worte braucht man, um das Eine auszudrücken – dieses eine Geheimnis der Weihnacht? Man braucht oft viele, viele Worte, damit die Herzen sehen lernen. Aber wenn sie dann sehen, dann sehen sie das Geheimnis ohne jedes Wort, dann sehen sie es gerade im Schweigen...“
Berührt hörte er ihren still fließenden Atem. Er hatte noch nie jemanden so lauschen hören...
„Vielleicht ist dies überhaupt das Wichtigste, Eileen, gerade bei Weihnachten – das Schweigenlernen. Ich meine auch das Schweigen des Herzens. Die Menschen haben fortwährend Gedanken, eigene Gedanken, eigene Gefühle, doch wann vermag es die Seele einmal, zu schweigen – so innig zu schweigen, dass etwas anderes sprechen kann ... und dass sie es auch hört?
,Reden ist Silber, Schweigen ist Gold’, das überliefert sich noch als uraltes Sprichwort, aber wer versteht es denn heute überhaupt noch? Einer unter tausend? Schweigen ist Gold, weil die Seele, die schweigen kann, mit etwas beschenkt wird, was wertvoller als alles Gold ist! Kennst du das Märchen vom Sterntaler?“
Sie nickte leise.
„Das Sterntaler wird auch vom Himmel beschenkt. Denn auch das Sterntaler hat etwas vermocht, was Gold ist: es hat alles gegeben, was es hatte. ,Geben ist seliger denn Nehmen’, sagt man – aber wer tut das noch? Wer kennt noch das ganze, unendliche Glück, das darin liegt? Es ist doch das unendliche Geheimnis der Liebe. Das Sterntaler-Mädchen hatte mehr Liebe in sich als alle anderen Menschen um es herum – und der Himmel selbst belohnte es...
Aber so, wie die Liebe dieses unendlich Wertvolle ist, so ist es auch das Schweigen. Denn auch die Seele, die wirklich schweigen kann, wird unendlich beschenkt – mit allem, was sich ihrem Schweigen dann schenkt. Schweigen ist auch Liebe, denn Schweigen ist Zuhören – und was ist das anderes als Liebe? Und wenn man nichts hört, dann ist Schweigen Lauschen ... ein Lauschen und Warten, geduldig, voller Vertrauen, darauf, dass einmal etwas kommen wird...
Ist alles gut, Eileen? Verstehst du dies alles?“
Sie nickte selig... Berührt fuhr er fort.

„Schweigen... Die Zeit vor Weihnachten sollte innerlich auch ein großes, friedvolles Schweigen der Seele sein, weil nur dann das Weihnachtsgeheimnis sprechen wird, wenn es da ist. Lauschen und Warten, inneres Frommwerden ... damit das Wunder der Weihnacht wirklich kommen kann. Das sollte die ganze Adventszeit sein. Und Advent ist eigentlich ein altes lateinisches Wort für Ankunft. Aber können wir wirklich nur warten – und erwarten?
Früher standen die Menschen noch auf Bahnsteigen mit alten Lokomotiven und haben sehnsüchtig auf die Ankunft eines geliebten Menschen gewartet. Das Warten kann die Liebe so unendlich vertiefen! Aber das muss man können, man muss die Sehnsucht kennen! Das geht nicht mehr, wenn alles durchorganisiert ist, wenn für die Sehnsucht überhaupt kein Raum mehr gelassen wird... Man muss der Ankunft Zeit lassen, man muss sein Herz bereit machen, man muss es mit tiefer Sehnsucht und tiefer Liebe erfüllen – und dann erst ist man bereit, zu empfangen. Die Adventszeit soll eine Zeit sein, in der sich die Herzen bereit machen – bereit machen für das unendliche Geschenk und Wunder der Weihnacht...“
Er machte eine kleine Pause und machte auch sich selbst bereit für ein Nächstes.

„Und was heißt Weihnachten eigentlich? Weihenacht – die Nacht der Weihe... Was wird da geweiht – und was ist überhaupt Weihe?
Weihe ist ein so wunderschönes, uraltes, heiliges Wort. Weihe... Hört man es nicht schon am Klang? Weihe... Das ist eigentlich dasselbe wie Heiligung. Durch eine Weihe wird etwas geheiligt, es wird heilig, durchdrungen von etwas Heiligem und dadurch selbst geheiligt...
Weihenacht – das ist die Nacht der Weihe, der Heiligung. Aber wer oder was wird da geheiligt? Man sagt auch ,Heilige Nacht’, und damit meint man dann die Geburt des Kindes, des heiligen Kindes. Aber das ist nicht alles. Denn in der Heiligen Nacht, der Nacht der Weihe, wird eigentlich alles geheiligt, die ganze Erde... Nicht nur das Kind wurde in dieser Nacht geboren, ist in dieser Nacht sozusagen zur Erde gekommen, sondern die ganze göttliche Welt ist in dieser Nacht und auch den kommenden Nächten der Erde unendlich nah. Deswegen sind diese Nächte heilig – deswegen sind es Weihenächte, die Erde wird wirklich von neuem geweiht und geheiligt...
Aber das weiß niemand mehr, Eileen... Doch wenn das eigene Herz rein wird, rein und empfindsam und fromm, dann kann man es wieder fühlen. Und nur ein äußeres Bild dafür ist der Schnee, der im Winter fällt und den wir uns gerade zu Weihnachten immer so sehr wünschen. Der Schnee heiligt auch die Landschaft, alles erscheint auf einmal so rein, so unschuldig, so unendlich friedlich. Aber das, was wir da empfinden, das ereignet sich auch in dem Bereich, den unsere äußeren Augen nicht mehr erreichen, nur unsere Seelen und unsere Herzen. Die Welt wird geweiht, die göttliche Welt kommt der irdischen Welt unendlich nahe, jedes Jahr wieder...“

„Natürlich hat das auch mit der Geburt des Kindes zu tun. Denn mit diesem Kind hat ja das Wunder der Weihnacht gerade am meisten zu tun. Aber es wird eben auch berichtet, dass die Engel selbst sangen und mit himmlischer Musik Gott preisten, weil nun die Stunde der heiligen Geburt gekommen war. Das also ist dieses wunderbare Bild, Eileen: Die Menschheit schweigt, um die Geburt des Erlösers zu erwarten – und die Engel singen, denn sie sind heilig, all ihr Singen ist immer schon ein Preisen Gottes...
Aber was ist nun dieses Kind – dessen Geburt selbst die Engel preisen? Warum wird dieses Kind der Erlöser, und was ist das für eine Erlösung? Durch dieses Kind kommt das wahrhaft Gute in die Welt – die wirkliche, die weltenweite, alles umfassende und durchdringende Kraft der Liebe. Und auch dafür muss man wirklich warten können ... warten, das Geheimnis der Liebe immer tiefer verstehen und erleben zu können. Dieses Geheimnis ist unendlich und unerschöpflich. Es ist so groß, dass man sagen muss: Nichts hat eine Bedeutung ohne die Liebe. Aber wie groß muss dann das Geheimnis der Liebe sein? Wenn man diesen einen Satz wirklich begreift, dann begreift man auch, dass es unendlich ist. Davon hat man die Liebe selbst noch nicht begriffen. Dies wird man erst im Laufe seines ganzen Lebens immer und immer tiefer...
Und doch wissen wir alle von Anfang an, was Liebe ist. Schon im ersten Anfang begreifen wir sie innig – fühlen ihre Bedeutung, ihre unendliche Bedeutung. Und doch kann das Begreifen immer tiefer, immer größer, immer weiter und auch immer heiliger werden...“
Er hörte noch immer ihr stilles Lauschen – sie war ganz bei seinen Worten und ihrem heiligen Inhalt...

„Und das Kind hat nun mit diesem weltentiefen Geheimnis zu tun. Denn durch das Kind kommt diese Liebe erst wahrhaft in die Welt – wird sie kommen. Durch das Kind, nicht allein von dem Kind, sondern durch das Kind. Denn Eileen, wir müssen dahin kommen, uns vorstellen zu können und begreifen zu können, dass die Liebe nicht einfach nur eine Kraft ist, die so in Menschenherzen zu finden ist, sondern wir müssen darüber viel, viel heiliger denken lernen. Wir müssen dahin kommen, zu empfinden, dass es diese Kraft überhaupt nicht geben würde, wenn nicht etwas geschehen wäre...
Die Kraft der Liebe ist etwas, was alle Menschen in sich finden können. Und doch ist sie nur eine, immer dieselbe – es ist Liebe. So, wie wenn man sich vorstellen muss, dass man, wenn man eine Kerze entzündet und sie mit dieser wunderbaren Flamme brennt, mit einer heiligen Flamme, nur auf ihre Art, und man entzündet eine zweite Kerze, die auch wieder auf ihre ganz eigene Art heilig brennt, dass man dennoch beide Male dasselbe Feuer hat – man hat beide Male Feuer. Auch wenn die Flammen verschieden sind, sind sie beide Feuer. Verstehst du?
Oder wenn die Sonne die Früchte reift, die Trauben zum Beispiel. Jede Traube reift einzeln heran, jede Traube schmeckt anders, hat eine andere Süße, ist auf ihre eigene Weise gereift. Aber sie alle tragen in sich das Sonnenlicht – nur durch dieses sind sie gereift. Ohne dieses hätten sie nichts tun können. Jede einzelne Traube ist gleichsam Sonnengold – jede verschieden, aber jede ist genau dies... Jede Traube verdankt sich der Sonne, jede Kerzenflamme dem Feuer. Verstehst du?“
„Ja, ich verstehe“, sagte sie innig.

„Und das ist das heiligste Geheimnis der Welt, Eileen... Dass sich auch jede Herzensflamme einem Feuer, einer Sonne verdankt. Und diese Sonne ist wirklich das heiligste Wesen in der ganzen Welt. Durch dieses Wesen erst wird alles heilig, was überhaupt heilig werden kann.“
„Du meinst ... Gott?“, fragte sie ehrfürchtig.
„Ja, ich meine Gott. Und ich meine jenes Wesen, das wir Christus nennen. Dieses Wesen ist Gott – und ist zugleich aus Gott hervorgegangen, als ,Gottessohn’, aber zugleich sind beide auch eins. Das ist kaum zu verstehen, und doch kann man es versuchen. Aber es geht darum, dass dieses Wesen, das selbst die Liebe der Welt ist und ohne das die Liebe überhaupt nicht existieren würde, nirgendwo – dass dieses Wesen wirklich in einem bestimmten Moment zur Erde kam, um den Menschen noch näher zu sein als vorher. Und dadurch geschah etwas. Erst seitdem können die Menschenherzen wirklich immer mehr die Kraft der Liebe in sich lebendig machen. Und dies kann dann eine Liebe werden, die keine Begrenzungen mehr kennt – nicht mehr nur einzelne Menschen, nicht mehr nur das, was einem gefällt, sondern alles – Tiere, Pflanzen, fremde Menschen, die ganze Menschheit, sogar die eigenen Feinde... Lieben, Eileen! Die Kraft der Liebe, ihr Geheimnis ist unerschöpflich, und auch der Weg, den die Menschenherzen gehen können, um dieses Geheimnis immer mehr in sich aufzunehmen, auch er ist unerschöpflich... Aber dieser Weg beginnt immer da, wo ein Herz der Liebe Wohnung gibt, immer mehr...“

„Aber“, fuhr er nach einer kleinen Weile fort, „wie kam dieses Wesen in die Welt? Dieses Wesen, das wir Christus nennen, dieses Gotteswesen, das die Liebe selbst ist?
Dieses Wesen verband sich mit dem Menschen Jesus, jenem Kind, das in der Heiligen Nacht geboren wurde. Das Kind ist der Erlöser, weil dieses Kind das Gotteswesen aufnehmen wird. Und dies geschah in dem heiligen Moment der Taufe am Jordan. Das Gotteswesen der Liebe wurde Mensch... Und, Eileen, es lebte drei Jahre unter den Menschen auf Erden, und dann ging es durch den Tod, denn es wurde gekreuzigt. Die Liebe selbst wurde gekreuzigt!
Aber die Liebe kann nicht sterben. Sie kann nur erfahren, was der Tod für die Menschen ist, und das hat Christus dadurch wirklich erfahren – aber dann ist das Christus-Wesen am dritten Tage auferstanden. Und seitdem, Eileen, seitdem ist dieses Liebe-Wesen mit der ganzen Menschheit innig verbunden – und die Menschenherzen können die Kraft der Liebe finden, so tief wie nur denkbar...“

„Aber in der Heiligen Nacht hat dieses Geheimnis begonnen. In der Heiligen Nacht kam jenes Kind zur Welt, das dann das göttliche Liebeswesen in sich aufnahm, wodurch dieses zugleich Mensch wurde. Menschenwelt und Gotteswelt verbanden sich innig miteinander. In diesem Kind... Später dann... Aber als das Kind geboren wird, singen alle Engel am Himmel, denn selbst die Engel wissen: Jetzt hat die Erlösung der Menschenwelt und auch der Erdenwelt begonnen... Und während die Engel singen, kommen die armen Hirten vom Felde, die noch gelernt haben, mit dem Herzen tief zu schweigen – darum konnten sie die Botschaft des Engels verstehen, der zu ihnen sprach. Und es kommen die Könige von weither, denn diese konnten noch die Weisheit der Sterne verstehen, auch sie wurden von der göttlichen Welt selbst geführt, durch den Stern der Weihnacht...“
„Gibt es den wirklich?“, fragte sie zwischen ehrfürchtigem Glaubenwollen und leiser Zweifelfrage.
„Was auch immer dieser Stern war...“, sagte er. „Heute glauben viele, dass es eine ganz besondere Konstellation von Venus und Jupiter war, die zusammen heller leuchteten als sonst. Aber das ist nur eine von mehreren Theorien. Tatsache ist, soweit es die Heilige Schrift berichtet, dass die drei Könige, die von weither kamen, von einem Stern geführt wurden – bis wirklich hin zu dem Stall von Bethlehem, in dem das Kind geboren wurde, gewickelt in einer Krippe, aus der sonst Ochse und Esel fressen...“
Der Glaube besiegte den Zweifel...

Er streichelte zärtlich ihr Haar.
„Das Wichtigste, Eileen, ist nun auch hier wieder die Frage: Können unsere Herzen fromm werden, wahrhaft fromm, hingegeben, um Weihnachten wirklich zu erleben? Darauf kommt es an. Denn das ist dann zugleich auch die Weihe der Herzen. Diejenigen Herzen, die fromm werden können, sie können das Wunder der Weihnacht erleben, denn zu ihnen kommt es... Es kommt zu jedem, aber die anderen Herzen bemerken es gar nicht mehr... Fromm werden, sich in Liebe dem hingeben und zuneigen, was das wirkliche Wunder der Weihnacht ist – das ist Weihnachten...
Man muss gar nicht alles verstehen, es darf einem wirklich vieles unklar bleiben – aber dennoch fromm werden und das, was man noch nicht verstehen kann, dennoch ehrfürchtig und sanft glauben können, das ist der Weg, der das Herz zum Geheimnis der Weihnacht führt...