26.03.2016

Vom Wiederfinden des Herzens oder: die Wucht eines Engelsflügels

Zum Hintergrund meines Romans „Sonnenmädchen“.


Unsere Zeit leidet an einem Verlorengehen der Empfindungen. Was vor allem völlig verloren geht und oft nicht einmal mehr gekannt wird, das sind die reinen, man möchte sagen wirklich heiligen Empfindungen.
Es ist der reine Teil des Herzens (übersinnlich gesprochen: der Seele), um den sich immer mehr eine Mauer zieht. Der Mensch erreicht diesen reinen Teil nicht mehr, und dieser erreicht den Menschen nicht mehr...

Die Empfindungsfähigkeit verflacht und stirbt ab. Der Mensch verliert seine Empfindungen, er verliert in diesen deren Tiefe, und er verliert die Heiligkeit des Empfindens, die heiligen Gefühle.

Mein neuer Roman „Sonnenmädchen“ taucht ganz in diese Frage ein – und nimmt den Leser, der in die Handlung und in die Stimmungen eintauchen kann, mit bis in das Zentrum dieser Frage. Man kann sagen, der Roman hat die Wucht eines Engelsflügels... Es ist das Geheimnis der Sanftheit, das uns wieder berühren muss, wenn wir das, was wir immer mehr verlieren, wiederfinden wollen. Und dies ist unmittelbar möglich, wenn Eines geschieht: Wenn wir das, was wir verlieren, fühlen können, wenn wir daran leiden – und wenn eine wirkliche, aufrichtige Sehnsucht danach erwacht.

Das, was wir verlieren, die Empfindungsfähigkeit überhaupt und ihr reiner, heiliger Teil im besonderen, hat tief mit dem Geheimnis des Weiblichen zu tun. Das Herz und das Fühlen ist das Geheimnis der Frauen, und was der Mann an der Frau liebt – immer im idealischen Sinne gesprochen –, ist gerade dies. Das Herz des Mannes entzündet sich in Liebe, wenn es das Herz und das Wesen der Frau erlebt, die ganz Herz und Liebe ist. Der Mann muss das Lieben lernen, die Frau liebt von ihrem ganzen Wesen aus.

,Idealisch gesprochen’ heißt, dass in der heutigen Zeit kaum noch eine Frau ganz Frau ist, so dass ihr Wesen gleichsam wie ein Urbild die Seele berühren würde. Und doch ist das, was den Mann berührt, immer wieder dieses: das Gefühlvolle, das Empfindungsvolle der Frau. Victor Hugo schrieb: „Der Mann ist ein Genie, die Frau ein Engel.“ Daran kann man die Polarität von Kopf und Herz in aller Tiefe erleben – denn das Herz ist der Ort, an dem die Liebe wohnt und entspringt, und dem Kopf kann ein Wesen, das die Liebe in sich trägt, deren Geheimnis er nicht kennt, nur wie ein Engel erscheinen. Natürlich ist es auch das Herz des Mannes, das berührt wird – aber eben von jenem Wesen, das gleichsam ganz und gar Herz zu sein scheint, das die Fülle der Herzenskräfte in sich trägt.

Vom Verleugnen des Heiligen

In unserer Zeit werden die Herzenskräfte eigentlich ausnahmslos verleugnet. Man würde sich gleichsam sofort außerhalb der übrigen Weltordnung stellen, wenn man sich mit voller Aufrichtigkeit auf die Seite des Herzens stellen würde. Es bedürfte eines gleichsam übermenschlichen Mutes, die Herzenskräfte nicht in irgendeiner Weise zu verleugnen. Und das bedeutet vor allem für die Frauen: Auch eine Frau kann es heute eigentlich nicht mehr wagen, ganz und gar Frau zu sein. Auch jede Frau muss sich heute mit der größeren Härte und Kühle des Mannes durchdringen, um nicht sofort der Lächerlichkeit oder dem sexuellen Blick des Mannes zum Opfer zu fallen. Wir leben in einer Zeit, in der die volle Macht der Herzens und des Fühlens überhaupt nicht anwesend sein darf.

Es wird aber wieder eine Zeit kommen, in der dies geschehen wird – und diese Zeit wird mit Verwunderung und Grauen auf unser Zeitalter zurückblicken, das so kalt und verroht werden konnte, dass es seine eigene tiefste Sehnsucht so sehr verleugnet und abgetötet hat...

Das Problem ist nicht der Kopf an sich. Dem Urbild nach wäre auch das klare Denken des Mannes nicht kalt und ohne Herz – so wie auch das Herz der Frau nicht ohne Weisheit und ohne Denken ist. Pascal schrieb ja: „Le cœur a ses raisons que la raison ne connaît pas” (Das Herz hat seine Gründe/Vernunft, die die Vernunft nicht kennt). Sondern das Problem unserer Zeit ist das übermächtige Wirken der Widersacher – die das Denken völlig vom Herzen trennen und es mit wirklicher Kälte und den Wirkungen der Instinkte und Begierden erfüllen, was sie mit den Gefühlen ebenso tun. Weder die Gedanken noch die Gefühle sind dadurch rein.

Unser Zeitalter ist geprägt von Grobheit, Sarkasmus, Lieblosigkeit und Sexualisierung. Was es nicht kennt, ist die Sanftheit, die Zartheit, die Anmut und die Tiefe eines in jeder Hinsicht zarten Empfindens. Man hat den Eindruck, dass die Grobheit (die Anzüglichkeit, die Sensation) gesucht wird, um überhaupt noch etwas zu empfinden. Und niemand spürt, dass damit die letzten Reste der Empfindungsfähigkeit noch weiter abgetötet werden. Niemand sieht, dass man diese Reste hüten könnte und müsste, um wieder zu einer neuen Tiefe, einer neuen Zartheit, einer neuen Heiligkeit zu finden... Alles, was in diese Richtung geht, wird lächerlich gemacht – und ein eigener innerer Zensor schämt sich, in diese Richtung zu gehen, weil auch in der eigenen Seele die Widersacher leben, die all dies lächerlich machen, noch bevor die tiefe Sehnsucht danach voll erwachen kann.

Wir brauchen diese Sehnsucht aber. Und wann immer wir Schritte in ihre Richtung tun, werden wir spüren, dass es unsere tiefste Sehnsucht ist. Die Seele wird spüren, dass sie nie etwas anderes gewollt hat, als ihre Empfindungsfähigkeit zu vertiefen, zu heiligen. Geht man auf diesem Weg auch nur die ersten Schritte, wird die Sehnsucht nur immer größer werden... Denn was man immer stärker zu spüren beginnt, ist, dass erst hier das Reich des rein Menschlichen wahrhaft beginnt. Man betritt eine Welt, in der man überhaupt erst wahrhaft Mensch wird. Man findet immer mehr das wahre Wesen der Seele...

Wer sich dem „Sonnenmädchen“ hingibt, wird den Weg, auf dem die Empfindungen wieder vertieft und geheiligt werden können, finden...