27.03.2016

Vom Offenbarwerden der Liebe

Das Sonnenmädchen und das Geheimnis der Auferstehung. 

Seelisches Leiden – Erleben von Todesprozessen

In den letzten beiden Tagen habe ich von zwei verschiedenen Seiten versucht, das tiefere Wesen meines Romans „Sonnenmädchen“ erlebbar zu machen. Am Karfreitag schrieb ich über die Kreuzigung der Hoffnungen, wenn die Seele die heutigen politischen und sonstigen Realitäten auf sich wirken lässt und sich auf das Private zurückzieht. Gestern schrieb ich über das Verlorengehen und Sterben der Empfindungen überhaupt, vor allem aller tieferen und reineren Empfindungen. Heute möchte ich ganz auf das eingehen, was die Heilung von diesem Sterben bringen könnte.

Dennoch wird man das, wovon ich schreiben möchte, nur begreifen und ernst nehmen können, wenn man zuvor an dem, was wirklich stirbt, leiden könnte. Man muss die Sterbeprozesse der eigenen Seele erleben und empfinden können. Man muss erleben können, was mit der menschlichen Seele in unserer Zeit geschieht. Wer an der Oberfläche des Lebens dahintreibt und mit diesem Leben, das er dann führt, zufrieden ist, wird dieses Sterben der Seele nicht wahrnehmen können. Nur dann, wenn die Seele eine unerfüllte, innere Sehnsucht kennt, die sich auf ihr eigenes Sein bezieht, weiß sie um die Sterbeprozesse der Seelen in unserer Zeit. Sie erlebt diese nur, wenn sie ihren eigenen Mangel an Empfindungstiefe, an Reinheit, an innerer Schönheit erlebt – wenn sie erlebt, dass das, was sie ist und vermag, viel weniger ist als das, was sie ersehnt und worum sie sich in ihrem tiefsten Wesen bemühen möchte oder schon bemüht. Wenn die Seele dies erlebt, diese Differenz und Diskrepanz, diesen Abgrund ... dann kennt sie die Sterbeprozesse des Seelischen. Sie nimmt wahr, was auch an ihr tot ist, sterbend ist, oberflächlich, unheilig, ja, alles Heilige sogar verachtend und verspottend. Sie nimmt wahr, was an ihr tot und was an ihr hässlich ist, vollkommen anders als das, was ihr reinster Teil als Streben und Sehnsucht in sich trägt.

Nur eine Seele, die so stark an dem leiden kann, was auch sie selbst alles noch nicht verwirklicht hat, als Sein und Wesen, kennt die Todesprozesse der Seelen in unserer Zeit wirklich. Wahrnehmen und Erleben kann man vieles auch vorher – die zunehmende Oberflächlichkeit, die Grobheit, das Seichte, das Hohle, das Vulgäre, das krampfartig nach Eindrücken und Sensationen Gierende. Wir alle nehmen diese Tendenzen heute wahr, wie ansatzweise auch immer. Doch erst in dem zunehmenden Leiden daran, und zwar einem inneren Leiden, und erst in der zunehmend erwachenden und immer stärker werdenden Sehnsucht nach innerer Entwicklung und Vertiefung werden wir fähig, die wirkliche Natur dieser Prozesse durch und durch zu erleben. Wir erleben dann nicht mehr einfach nur eine „Entwicklung“ in der äußeren Welt – wir erleben ganz konkret und im wahrsten Sinne des Wortes Todesprozesse. Todesprozesse des real Seelischen.

Das wahre Wesen der Seele

Das wahre Wesen der Seele ist ein zutiefst heiliges. In der Seele gibt es einen Kern, der heilig ist und nichts anderes ersehnt als eine Verwandlung auch der übrigen Seele – sich sehnt nach einer immer weitergehenden Durchdringung auch der übrigen Seele mit dem Wahren, Schönen und Guten. Der Teil der Seele, der sich dagegen wehrt, ist dagegen derjenige Teil, der mit dem Gewöhnlichen, dem Oberflächlichen, dem Vulgären und auch Selbstsüchtigen durchdrungen worden ist – und der sich gegen eine innere Entwicklung in der Richtung zum Heiligen, zum Wahren, Schönen und Guten wehrt, der eine solche Entwicklung gar nicht will, der sie im Grunde sogar hasst.

Aber ein großer Teil der Seele steht in der Mitte zwischen jenem reinen Wesenskern und jenem Zentrum, von dem aller Widerstand ausgeht. Ein großer Teil der Seele ist gleichsam zerrissen und schwankend. Er fühlt sich einerseits berührt von dem Schönen, dem Guten und auch dem Wahren – aber oft sind dann die in der Seele selbst wirkenden Widerstände zu groß, um auch die eigene Seele in diesem Sinne in eine Entwicklung zu bringen. Und das große Problem unserer Zeit ist, dass sich der Mensch dies alles überhaupt nicht bewusst macht – er steht in den Kräften unserer Zeit mittendrin, ist ihnen ausgesetzt, aber er spürt im Inneren in keinster Weise, was wirklich geschieht. Was mit der eigenen Seele geschieht, das merkt man am allerwenigsten...

Und doch ist das wahre Wesen der Seele ein heiliges – es ist wahr, schön und gut. Und selbst wenn es nur ein winziger Kern im Ganzen der Seele ist: dieser winzige Kern weiß, was das ist, das Heilige, und er liebt es, und er ist es auch selbst. Ohne diesen heiligen Wesenskern wäre keine einzige innere Entwicklung und keinerlei Sehnsucht nach einer solchen Entwicklung möglich. Die Liebe zum Wahren, Schönen und Guten und auch dessen Erkenntnis geht von diesem reinen Kern in der Seele jedes einzelnen Menschen aus.

Es gibt nun aber Menschen, deren Seele und deren Wesen sozusagen „von Natur aus“ schöner ist als die Seele und das Wesen anderer Menschen. Wie soll man ein solches Wunder erklären? Man kann es überhaupt nur, wenn man die Möglichkeit ernst nimmt, dass das individuelle Menschenwesen immer schon viele Erdenleben durchgemacht hat – und sich so in individueller Weise entwickelt hat, bis zu dem, was es heute ist. Natürlich sind auch die Bedingungen des Aufwachsens für sehr vieles verantwortlich, was dann das einzelne Menschenwesen offenbart – und doch kann dies die unendlichen Unterschiede in der Seele der einzelnen Menschen nicht allein erklären. So kann der eine Mensch eine gleichsam vollkommene Kindheit gehabt haben und trotzdem immer mehr ein eigenes, sehr egoistisches Wesen entfalten – und ein anderer Mensch kann immer mehr eine tiefe Selbstlosigkeit offenbaren, ob mit wunderbarer Kindheit oder unter sehr trostlosen Bedingungen. Der eine Mensch kann trotz guter Bedingungen ein sehr oberflächliches und dumpfes Empfindungsvermögen behalten, während ein anderer tief empfindsam ist und dies auch im Heranwachsen nicht verliert. In alledem drückt sich etwas individuell Wesenhaftes aus, das auch nicht in den Genen liegt, sondern mit dem zu tun hat, was das Menschenwesen ist, schon vor der Geburt.

Doch egal, was jeder Einzelne von uns bis zu diesem Moment seiner Entwicklung mit seiner Seele gemacht hat – jeder Einzelne hat jenen reinen Teil in seiner Seele, der immer berührt sein wird, wenn ihm wahre Schönheit und das wahre Gute einer anderen Seele begegnet... Und dieses Berührtsein und Berührtwerden ist immer ein Erinnern, ein Sich-Erinnern... In all diesen Momenten erinnert sich die Seele, wie unbewusst auch immer, an ihr eigenes innerstes, wahres Wesen. Und in jeder Berührung liegt auch ein leiser Schmerz – darüber, wie sehr die eigene Seele sich von dem, was sie so sehr berührt hat, unterscheidet. Diesen Schmerz nehmen wir fast nie wahr, oder er kleidet sich in Sentimentalität oder ähnliches, wodurch auch wiederum verhindert wird, dass unser eigenes Seelenwesen mehr und mehr ganz zu seiner wahren Realität erwacht, zu seiner wirklichen Existenz, zu einem immer tieferen Bewusstsein von sich.

Aber erst dann, wenn dies geschieht, kann die Seele ihre Entwicklung in die Hand nehmen, kann sie die fortwährend sich vollziehende unbewusste Entwicklung umkehren – die eben bis dahin oft vor allem ein Sterbeprozess ist, eine immer mehr zunehmende Diskrepanz zu dem, wovon sie eigentlich berührt ist (eine Diskrepanz, die bis zu dem Punkt gehen kann, dass die Seele gleichsam gar nicht mehr berührt werden kann, weil sie sich völlig verhärtet hat und im Grunde völlig abgestorben ist, zumindest in Bezug auf jede Verbindung zu ihrem eigenen Wesenskern).

Das Sonnenmädchen

Viele Menschen sehnen sich auch nach dem Wahren, Schönen und Guten in der Welt, in der Gestaltung der menschlichen Prozesse, der Gesellschaftsgestaltung. Und doch ist die Welt nicht anders, als wir alle sie gestalten – es ist unsere Welt. Man kann sich zwar ganz als Opfer der Bedingungen erleben, aber dies ändert nichts an der Tatsache, dass die Welt mit allem, was wir vorfinden, von Menschen gestaltet ist, Tag für Tag. Die Welt ist so wahr, so schön und so gut – oder so unwahr, so hässlich und so schlecht ... wie wir selbst. Wenn wir nichts gegen das Hässliche und Schreckliche tun, ist auch unsere Seele hässlich und schrecklich – und sei es nur in ihrer Bequemlichkeit. Und sei es nur in ihrer Hoffnungslosigkeit – die sehr oft auch nur eine Gestalt der Bequemlichkeit ist. An dieser Stelle könnte man nun eine stundenlange Diskussion beginnen ... aber auch dies würde nur zeigen, dass man lieber diskutieren würde, als anderes zu tun – etwas Anderes, was viel wahrer, schöner und von viel mehr Güte durchdrungen wäre als das Diskutieren.

Das Sonnenmädchen offenbart eine so tiefe Liebe zum Guten, dass es zu handeln beginnt. Aber Handeln und Sein sind bei ihm gar nicht getrennt. Sein ganzes Handeln ist von dem durchdrungen, was es in seinem ganzen Sein ist. Die Liebe zum Guten, und damit die Liebe überhaupt, ist bei ihm so stark, dass sie sich nicht nur zeitweilig offenbart – etwa in guten Momenten, bei passender Stimmung oder wenn es die Zeit erlaubt –, sondern immer. Es offenbart nicht ein Ideal, sondern das reale innerste Seelenwesen des Menschen – jenen Teil der Seele jedes einzelnen Menschen, der bei den meisten anderen Menschen sich fast nie offenbart, oder eben nur ... in guten Momenten, bei passender Stimmung oder wenn die Zeit es erlaubt...

Wenn man nur von sich ausgehen würde oder von dem, was man aus seiner Umgebung kennt und täglich erlebt, würde man sagen: Das ist Fiktion, das ist unrealistisch, das ist Träumerei. Damit aber würde sich die Seele nur in ihre eigene Fiktion verstricken, dass so etwas „unrealistisch“ – d.h. im Grunde: unmöglich – sei. Sie wäre es, die zwar vielleicht träumt, aber niemals über ihre Träume hinauskommt.

Das Sonnenmädchen selbst kümmert sich nicht darum, was angeblich unrealistisch oder unmöglich sein soll. Sie ist, wie sie ist – und sie handelt, wie sie ist. Ihr ganzes Wesen handelt, und jede ihrer Handlungen offenbart ihr Wesen.

Sich davon berühren zu lassen – und sich davon erinnern zu lassen, zu einer immer aufrichtigeren Erkenntnis auch des eigenen innersten Seelenwesens führen zu lassen, das sich ebenfalls offenbaren möchte ... das ist es, was der Leser tun kann – wenn er es will. Wenn er es zulässt, sich mitnehmen zu lassen in der Handlung, einzutauchen in das Geschehen, dann wird er zugleich damit eintauchen in sein eigenes Seelenleben und -erleben. Mehr und mehr wird er sehend werden auch für das eigene Seelen-Leben – sehend, empfindend und erlebend. Verstärkt erwachen wird er für seelische Vorgänge und Prozesse, für Empfindungen und das Leben dieser Empfindungen. Das, was vorher gleichsam tot war, wird zu einem Leben erwachen; das, was vorher ganz unbewusst war, wird in eine Bewusstheit heraufgehoben werden. Das, was vorher ein abstraktes Ideal schien, wird sich mehr und mehr als etwas erweisen, was auch mit dem eigenen Wesen zu tun hat. Und das, was man bis dahin gewesen ist, wird mehr und mehr eine wirkliche Sehnsucht in sich aufnehmen.

Das Sonnenmädchen offenbart die unendliche Schönheit des wahren Wesens der Seele. Es ist die eigene Entscheidung jeder einzelnen anderen Seele, sich davon berühren zu lassen oder nicht. Das Sonnenmädchen aber kann nicht anders, als das zu tun, was es tut. Es ist sein Wesen... In ihr begegnet man einer sehr reinen Seele. Und man kann in der Begegnung mit dem Sonnenmädchen lernen, wieder empfänglich und empfindsam zu werden ... für das Wunder und das Heilige – für das, was in der menschlichen Seele heilig ist. In jeder Seele.