29.04.2016

Wenn Gerichte zu Atombomben auf deutschem Boden schweigen

Über den unerschütterlichen Kampf von Hermann Theisen. 


Inhalt
Neues Wettrüsten auch auf deutschem Boden
Öffentliche Meinung und Rechtslage
Ignorante Gerichte – ein Rückblick
Und heute – Geheimnisverrat oder Völkerrecht?
Ruinierte Soldatenleben oder Hochmut von Richtern und Staatsanwälten?


Neues Wettrüsten auch auf deutschem Boden

Erst letzte Woche berichtete ein Artikel auf Telepolis über das neue atomare Wettrüsten. Während die USA ihre Atomwaffenarsenal mit Hunderten von Milliarden Dollar „modernisieren“, testet Russland neue Langstreckenraketen, die den Abwehrschild der USA in Polen, Rumänien etc. wirkungslos machen sollen, sowie eine Hyperschallrakete, die praktisch nicht abgefangen werden kann. Auch China entwickelt Raketen mit Mehrfachsprengköpfen, die verschiedene Städte gleichzeitig angreifen können und innerhalb von 30 Minuten Ziele in 12.000 km (!) Entfernung erreichen können. Im Südchinesischen Meer verschärfen sich die Spannungen zwischen China und den USA. [o]

Der inzwischen 52-jährige Hermann Theisen kämpft seit über drei Jahrzehnten gegen die Atomwaffen auf deutschem Boden. Beruflich arbeitet er heute im Sozialdienst eines Krankenhauses, hat zwei inzwischen erwachsene Kinder. Für seinen Einsatz für den Frieden ist er mittlerweile 15- bis 20-mal angeklagt worden. Vier oder fünf Klagen kamen durch, dreimal saß er im Gefängnis.

Die zwanzig Atombomben auf deutschem Boden lagern im Fliegerhorst Büchel in Rheinland-Pfalz – es sind Atombomben der USA, die im Zweifelsfall von deutschen Soldaten bedient werden sollen. Jetzt sollen diese Bomben „modernisiert“ werden, um bis 2050 einsatzbereit zu bleiben. Die neuen Bomben werden noch wesentlich treffsicherer sein. Und dies alles geschieht, obwohl der Bundestag schon vor sechs (!) Jahren beschlossen hat, dass sich die Regierung „mit Nachdruck“ für den Abzug der Atomwaffen einsetzen soll. [o]

Öffentliche Meinung und Rechtslage

88 % (!) der Deutschen sprechen sich gegen eine Modernisierung der US-Atomwaffen aus und 85 % sind für ein atomwaffenfreies Land [o]. Dennoch hat offenbar Amerika die Macht auch über deutsche Regierungen...

2004 verteidigte Staatssekretär Walter Kolbow auf eine schriftliche Anfrage die Atombomben auf deutschem Boden mit folgender Floskelsprache: [o]

„Das gemeinsame Bekenntnis der Bündnispartner zur Kriegsverhinderung, die glaubwürdige Demonstration von Bündnissolidarität und das nukleare Streitkräftepotenzial erfordern auch in Zukunft die deutsche Teilhabe an den kollektiven nuklearen Aufgaben. Dazu gehören die Stationierung von verbündeten Nuklearstreitkräften auf deutschem Boden, die Beteiligung an Planung, Konsultationen sowie die Bereitstellung von Trägermitteln.“


Die Stationierung der Atombomben ist völkerrechtswidrig. Schon im Nichtverbreitungsvertrag von 1968 heißt es in Art. 2: [o]

„Jeder Nichtkernwaffenstaat, der Vertragspartei ist, verpflichtet sich, Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen, Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper weder herzustellen noch sonstwie zu erwerben und keine Unterstützung zur Herstellung von Kernwaffen oder sonstigen Kernsprengkörpern zu suchen oder anzunehmen.“


1988 fasste die „Internationale Vereinigung Rechtsanwälte gegen Atomwaffen“ (IALANA) den Plan, ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofes (IGH) einzuholen. Dem schloss sich die IPPNW an, und die UN-Vollversammlung ersuchte dann 1994 den IGH um ein Gutachten. Die vier offiziellen Atommächte USA, Russland, Großbritannien und Frankreich bezeichneten einen Kernwaffeneinsatz ignorant als ihr „souveränes Recht“ [o].  Doch der IGH urteilte am 8. Juli 1996, dass bei jedem Waffeneinsatz zwischen Soldaten und Zivilbevölkerung unterschieden und unnötige Grausamkeiten und Leiden vermieden werden müsse, so dass [o]:

„[...] die Androhung und der Einsatz von Atomwaffen grundsätzlich/generell gegen diejenigen Regeln des Völkerrechts verstoßen würden, die für bewaffnete Konflikte gelten, insbesondere gegen die Prinzipien und Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts.“


2003 befragte die Initiative „Atomwaffen abschaffen“ schriftlich sämtliche Bundestagsabgeordneten in Bezug auf dieses Urteil und ihr eigenes mögliches Engagement [o].

Am 14. April 2005 debattierte der Bundestag über die Konferenz zur Überprüfung des Nichtverbreitungsvertrages, die dann im Mai in New York ohne konstruktives Ergebnis verlief. Damals sagte der FDP-Abgeordnete Harald Leibrecht [o]:

„Wir meinen aber, daß der dritten Säule des Nichtverbreitungsvertrages, der Abrüstungsverpflichtung der Nuklearmächte, mehr Nachdruck verliehen werden muß. Deshalb fordern wir [...] den Abzug der in Deutschland stationierten etwa 150 US-amerikanischen taktischen Nuklearwaffen. Diese Bomben sind ein Relikt des Kalten Krieges. [...] Die Tatsachen, daß diese taktischen Nuklearwaffen bis heute in Deutschland lagern und daß auch unsere Soldaten mit diesen Waffen üben müssen, werden in Deutschland weitestgehend totgeschwiegen. Rot-Grün traut sich offensichtlich nicht an dieses Thema heran. Wir fordern die Bundesregierung auf, in der NATO und in Gesprächen mit den USA auf einen baldigen Abzug dieser Waffen zu drängen.“

Dem folgte jedoch nichts weiter...

Ignorante Gerichte – ein Rückblick

Schon 2004 riefen Theisen und drei andere Friedensaktivisten die Soldaten in Büchel in einem Flugblatt [o] dazu auf, jede Beteiligung an der völkerrechtswidrigen „nuklearen Teilhabe“ zu verweigern. Er wies darauf hin, dass Soldaten keinen Befehl befolgen dürfen, bei dem sie eine Straftat begehen, und dass Vorgesetzte Befehle nur unter Beachtung des Völkerrechts erteilen dürfen. Mitunterzeichner des Aufrufes waren so bekannte Personen wie Franz Alt und Konstantin Wecker. – Die Staatsanwaltschaft Koblenz ließ den Aufruf beschlagnahmen und beantragte einen Strafbefehl nach § 111 StGB (Öffentliche Aufforderung zu Straftaten). Die Friedensaktivisten hätten die Soldaten zu Fahnenflucht, Ungehorsam, Meuterei etc. aufgefordert. Das Amtsgericht Cochem erließ daraufhin einen Strafbefehl (30 Tagessätze à 30 Euro), und im November 2004 kam es zur Gerichtsverhandlung, in der es erstmals um die Rechtmäßigkeit der „nuklearen Teilhabe“ der Bundesrepublik ging. [o]

Das Gericht verurteilte die vier Aktivisten: Hermann Theisen (Heidelberg) zu 45 Tagessätzen, Martin Hans Otto (Wetzlar) zu 40 Tagessätzen, Wolfgang Sternstein (Stuttgart) und Johanna Jaskolski (Erftstadt) sogar zu Haftstrafen von zwei Monaten bzw. einem Monat. Verteidiger Heinrich Comes verwies auf die Freisprüche des Kammergerichts Berlin nach Aufrufen zu Befehlsverweigerung während des ebenfalls völkerrechtswidrigen NATO-Krieges gegen Jugoslawien. Doch das Amtsgericht Cochem verweigerte jede Prüfung der völkerrechtlichen Fragen. Für Richter Johann und Staatsanwältin Harnischmacher ging es offenbar nur um preußisch-blinden Gehorsams von Soldaten [o].

Im dem Urteil hieß es ignorant [o]:

„Ziviler Ungehorsam ist mit den Grundprinzipien eines demokratischen Rechtsstaates schlechterdings unvereinbar. Die Angeklagten werden zur Überzeugung des Gerichts ihr strafbares Tun fortsetzen, so dass eine günstige Sozial- oder Kriminalprognose nicht gestellt werden konnte.“

Und weiter [o]:

„[...] aufgrund der ›angestrebten‹ Befehlsverweigerung ist nicht auszuschließen, dass dadurch wenigstens fahrlässig eine schwerwiegende Folge verursacht wird, beispielsweise wird durch die ›Befehlsverweigerer‹ die Schlagkraft der Truppe gefährdet, da die Anzahl der Einsatzkräfte dezimiert wird. Auch besteht dadurch eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland. [...] Es ist denkbar, dass sich ein Soldat angeregt durch das Flugblatt, auch nach wiederholter Befehlserteilung nicht zu dessen Befolgung veranlasst sieht. [...] Eine Zusammenrottung von Soldaten mit dem Ziel der effektiven und gefährlichen Gruppendynamik zur Begehung von Wehrstraftaten ist somit nicht ausgeschlossen.“


Theisen kommentiert [o]:

„Ich schwanke, ob ich es für ein bemerkenswertes Zeitdokument halten soll oder für das klägliche Selbstzeugnis eines überforderten Richters, der sich einfach nicht vorstellen kann, daß der Staat Unrecht tut, und deswegen den Bürger schuldig sprechen muß, der staatliches Unrecht anprangert.“


Das Gericht begründete [o]:

„Die Bundesrepublik Deutschland hat sich politisch indes entschieden, [...] einem Militärbündnis beizutreten. Konsequenterweise würde dann unter Beteiligung des Bundestages, mithin der demokratisch legitimierten Vertretung des deutschen Volkes [...] entschieden, sich an einem bewaffneten Einsatz zu beteiligen. Diese Wertentscheidung der politisch Verantwortlichen und in diesem Fall auch der Gesellschaft führt letztlich dazu, dass auch die zum Gehorsam verpflichteten Soldaten [...] ihrem Einsatzbefehl im Grunde nach Folge leisten müssen.“


Wir erinnern uns: 85 % der Gesellschaft sind ausdrücklich dagegen, dass es diese Atombomben auf deutschem Boden gibt! Und internationale Verträge verbieten Atombomben auf dem Boden der Nicht-Atommächte. Das alles scheint die Richter nicht zu interessieren... Und auf die ausdrückliche Frage, ob die Soldaten dann tatsächlich auch gezwungen sein könnten, Atombomben einzusetzen, ließ sich das Gericht auch nicht einen Moment lang ein. 

Und heute – Geheimnisverrat oder Völkerrecht?

Im Sommer 2013 hatte Theisen erneut Flugblätter verteilt, um für Sitzblockaden vor Büchel zu werben. Das Amtsgericht Koblenz verurteilte ihn daraufhin im April 2014 wegen Aufforderung zu Straftaten zu 600 Euro Geldstrafe. Am 17.09.2014 hob das Landgericht Koblenz dieses Urteil auf und verwies auf einschlägige Urteile des Bundesverfassungsgerichts, die die Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit betonen. Daraufhin plante Theisen für März 2015 die nächsten Sitzblockaden. [o]

2014 rief Theisen die Soldaten in Büchel in einem neuen Flugblatt dazu auf, die Öffentlichkeit über die geplante Modernisierung der US-Atomwaffen zu informieren. Die Staatsanwaltschaft Koblenz erhob daraufhin Anklage wegen Geheimnisverrat, und die Kreisverwaltung Cochem-Zell verbot die Verteilung der Flugblätter [o].

Ende Januar 2015 erklärte das Verwaltungsgericht Koblenz dieses Verbot als „erhebliche Grundrechtsbeschränkung“ für rechtswidrig und bestätigte genau das, was Theisen bewegt, nämlich, es könne: [o]

„[...] die Aufforderung an die in Büchel stationierten Soldaten [...] als Appell an deren Gewissen verstanden werden mit dem Ziel, hierdurch eine öffentliche Auseinandersetzung über Fragen der Stationierung und Modernisierung von Atomwaffen herbeizuführen.“


Im September 2015 verhandelte das Amtsgericht Cochem über die Aktion. Auch die Organisation „Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs“ (IIPNW) stellte sich damals offen hinter Theisen. Sie schrieb [o]:

[...] dass nur eine informierte Öffentlichkeit in einer Demokratie entscheiden kann, ob sie bestimmte politische VertreterInnen weiter wählen will, wenn sie alle Informationen über wichtige Entscheidungen bekommt. Die Entscheidung über die Stationierung von US-Atomwaffen in Deutschland darf nicht von einer kleinen Gruppe hinter geschlossenen Türen getroffen werden. Wir sind der Meinung, dass die Bundesregierung versucht, die Öffentlichkeit zu täuschen, wenn sie behauptet, diese Atombomben seien nur ein Ersatz für die alten bereits in Büchel lagernden Waffen und somit eine reine US-amerikanische Entscheidung, die uns nichts angehe. Die Informationen, die wir aus den USA bekommen haben, belegen, dass die Atombomben völlig neu entwickelt werden und [...] durch ihre neue Präzision und Lenkbarkeit weiter gesteckte militärische Zwecke erfüllen als die alten Bomben, verbunden mit der Gefahr, dass die Einsatzschwelle sinkt. [...] Die russische Regierung hat bereits scharf auf die Stationierungspläne reagiert und gedroht, [...] ihre Nuklearwaffen auf Büchel zu zielen.


Das Amtsgericht Cochem verurteilte Theisen am 24.09.2015 erneut zu 2.400 Euro Geldstrafe – diesmal wegen Geheimnisverrat. Dies ist nun erst recht vollkommen abstrus, denn selbst „Frontal 21“ (ZDF) hatte zwei Tage zuvor über die Atombomben von Büchel berichtet [o]. An der Abstrusität ändert sich auch nichts, wenn Staatsanwalt und Richter inzwischen über Theisens Beharrlichkeit staunen. Sie sollten lieber über ihre eigene Ignoranz, die eigentlichen Rechtsfragen zu behandeln, staunen. [o]

Ruinierte Soldatenleben oder Hochmut von Richtern und Staatsanwälten?

Am 26.02.2015 verteilte Theisen seine Flugblätter [o] in Koblenz. Am 07.04.2015 schickte er dann Briefe an 38 Kommunalpolitiker der Region Büchel an die Verbandsgemeinde in Ulmen und bat um Weiterleitung. Der Bürgermeister öffnete den an ihn adressierten Brief und schaltete die Polizei ein, die alle Briefe beschlagnahmte, woraufhin das Amtsgericht Koblenz die Staatsanwaltschaft befugte, diese zu öffnen. Eine Beschwerde Theisens wurde vom Landgericht abgelehnt. [o]

Kaum fassbar ist, dass Theisen angeklagt wurde, obwohl die Oberstaatsanwälte Schmengler (Koblenz) und Greven (Bundesanwaltschaft) eine Strafbarkeit der Flugblätter bereits verneint haben [o].

Am 29.02.2016 verurteilte das Cochemer Amtsgericht Theisen erneut zu 1.200 Euro Geldstrafe. Diesmal waren die Bemerkungen von Richter und Staatsanwalt deutlich härter. Der Richter Gerald Michel mahnte Theisen, ein Soldat könne sein ganzes Leben ruinieren, wenn er sich durch Geheimnisverrat strafbar mache, und lehnte eine Beurteilung der juristischen Frage der Atomwaffen selbst erneut ab: „Das hier ist ein Strafprozess, keine Diskussionsveranstaltung.“ Und Seitens der Staatsanwaltschaft wurde Theisen unterstellt, es gehe ihm vor allem um Aufmerksamkeit für seine Person. Oberstaatsanwalt Ralf Tries fügte hinzu: „Wenn Sie diesen Weg weiter gehen, dann werden Sie vielleicht ein Märtyrer, aber Sie werden sonst nichts erreichen.“ [o]

Mit welchem Recht wird hier derart arrogant geurteilt? Ein Soldat ruiniert sein Leben nur dann, wenn ein ganzes System am Unrecht festhält – und eine Gewissensentscheidung strafbar wird. Hier wird das Recht zu erdrückendem Unrecht, weil man die entscheidende Rechtsfrage mit aller Gewalt ausblendet...

Gegen das Urteil gingen sowohl Theisen als auch die Staatsanwaltschaft in Berufung – letztere will sogar eine Freiheitsstrafe erreichen! Theisen verteilte seine Flugblätter unterdessen im März und April erneut – und die Staatsanwaltschaft leitete ein neues Ermittlungsverfahren ein... [o]

Die IPPNW solidarisierte sich erneut mit Theisen und verschickte am 21.04.2016 einen Offenen Brief an die Staatsanwaltschaft, in dem sie erneut auf die überwältigende Meinung der Bevölkerung und das Urteil des Internationalen Gerichtshofs verweist und fragt [o]: 

„Warum werden immer wieder Einzelpersonen herausgepickt und mit maßlosem Engagement über eine Rechtsinstanz nach der anderen verfolgt, statt sich mit der Kampagne gegen Atomwaffen in Deutschland politisch auseinanderzusetzen?“


Warum nehmen Volksvertreter nicht den absolut eindeutigen Willen des Volkes zur Kenntnis? Warum nehmen Richter nicht das absolut eindeutige Völkerrecht zur Kenntnis?

Warum gibt es auf deutschem Boden Atombomben?