20.08.2016

Über meine Bücher

Ein Versuch, das Unaussprechliche in Worte zu fassen.


Das Leben jedes einzelnen Menschen ist verschieden – und jeder einzelne Mensch ist einzigartig. Niemand kann das Leben und Sein auch nur eines einzigen Menschen bis in seine Tiefe mitvollziehen oder teilen. Und so ist jeder Mensch in gewisser Weise einsam – viele, ohne es zu wissen.

Dieses Einzelne, Vereinzelte, bedeutet umgekehrt auch, dass jeder Mensch an ganz anderen ,Orten’ steht, in seinem Inneren. Wozu dann aber zum Beispiel noch Bücher? Und wer liest denn überhaupt noch Bücher?

Dann die Menge der Bücher... Gibt es nicht schon längst mehr Bücher als Menschen? Wer soll das alles lesen? Oder ist jedes Buch nur für einen Menschen geschrieben? Einen, der es nur finden muss? Dieses eine Buch – sein Buch...

Das mag sein. Und doch sind Bücher wichtig. Nicht alle. Die meisten nicht. Aber die wenigen. Die, die in die Tiefe gehen ... und in der Tiefe auch der eigenen Seele etwas berühren können.

In diesen Tiefen, den Tiefen der menschlichen Seele, sind sich die Menschen viel näher und verwandter als im äußeren Leben. Seele... Die Menschheit verdrängt ihre Seele. Vielleicht gerade deshalb? Weil man sich in den Seelentiefen viel zu nahe kommen könnte? Sich einander – und auch sich selbst...?

Das sind meine Bücher: Bücher für die Seele ... und von der Seele. Die meisten Menschen haben diesen Weg verloren – den Weg, der wirklich zur Seele führt. Und ich meine dabei nicht das, was Psychologen und Psychoanalytiker meinen, auch nicht die alltägliche Emotionalität und Subjektivität, die die heutige Welt keineswegs verloren hat, die vielmehr scheinbar überzuborden scheint – auf der Suche nach ,Selbstverwirklichung’, nach Genuss, Bequemlichkeit, Meinungsäußerung, Aktivität und ,Dasein’. Ich meine das Gegenteil, den Weg in die Tiefe ... und Reinheit.

Es gibt einen Teil der Seele, der von dem Wirbeln dieser Subjektivität und diesem oft sehr egoistischen, immer aber selbstzentrierten Leben der gewöhnlichen Psyche gleichsam unberührt, unangetastet bleibt – und der sein eigenes Leben vor diesem auch schützt. Es ist ein geheimer, reiner, heiliger Teil der Seele. Man kann eine allererste Empfindung für diesen Teil bekommen, wenn man einmal in Reinheit und Stille an fallenden Schnee denkt ... und wenn man sich dann von der Sanftheit dieses absolut friedvollen, einzigartigen Geschehens bis in sein Inneres berühren lassen könnte.

So zart – wie sanft fallender Schnee – ist das heilige Geheimnis der Seele. Es ist ihr wahres Wesen. Und es ist es bei jedem Menschen, egal wie hart oder egoistisch einer in seinem gewöhnlichen Leben ist (oder vielleicht sein muss).

Man kann viele Bücher lesen – und sie führen einen alle nicht zu diesem Geheimnis oder überhaupt irgendwie in die Tiefe. Es gibt aber nicht vieles, was im Leben Wert hat. Es ist das Wenige, was Wert hat. Das, was einen berührt ... das hat Wert.

Aber was berührt einen dann? Und warum ,berührt’ es? Das ist auch so etwas Geheimnisvolles: die Wahrheit der menschlichen Sprache... Berühren kann etwas nur, wenn dieses Etwas etwas anderes berührt. Es gibt etwas in unserer Seele, was dann berührt wird. Dieser geheimnisvolle Vorgang ist ein heiliger. Ein Unsichtbares, was nicht oder kaum in Worte gefasst werden kann, berührt etwas anderes, was erst recht nicht in Worte gefasst werden kann, weil es in der heiligsten Tiefe der Seele verborgen lebt...

Um dies aber geht es. Es geht heute nicht mehr um die äußere Oberfläche, die in mannigfaltigster Aufmachung und Verkleidung auf uns einstürzt. Das alles ist Ablenkung. In der Seele lebt etwas, das die Tiefe sucht. Und es sucht sie, weil es selbst eine reine Tiefe hat, die von aller Oberflächlichkeit nur verletzt werden kann.

Das, was in der Seele diese Tiefe sucht, ist etwas Unbeschreibliches. Und dieses Etwas ist einsamer als jeder heutige Mensch, denn während sich ein Mensch inmitten der äußeren Welt einsam fühlen kann, ist dieses Etwas im Inneren eines Menschen einsam, obwohl es doch in ihm wohnt... Es ist das eigene heilige Seelenwesen, das vom Menschen selbst abgewiesen wird. Was sich hier abspielt, ist ein Drama – und es wird von keinem Menschen erkannt, obwohl es sich in jedem Moment ereignet...

Bücher für die Seele ... das wollen meine Bücher sein. In eine Tiefe wollen sie führen – in eine den meisten Menschen heute ganz unbekannte Tiefe. Aber dafür muss man vielleicht sogar ganz neu lesen lernen.

Man muss wissen, dass ein Roman nicht immer einfach nur ,ein Roman’ ist – einer mit Personen, mit einer Handlung, die man dann auch auf dem Buchrücken lesen kann und von der man dadurch sogleich eine Vorstellung hat und sich fragen kann: Finde ich das interessant? Nein? Dann weg damit. Oder man findet es recht interessant, aber mehr auch nicht. Es ist ja eben bloß ein Roman, einer unter Millionen, mit einem Thema von Millionen. Andere sind spannender, unterhaltsamer, vielversprechender usw. usw.

Aber ein Buchrücken kann unter Umständen fast nichts über ein Buch aussagen. Ja, den äußeren Inhalt kann er kurz umreißen – aber das ist auch alles. Das Eigentliche, das, was die Seele vielleicht berühren wird – das ist völlig unsichtbar. Es kann nur beim Lesen erfahren werden. Aber selbst hier ... muss die Seele vielleicht erst ganz neu lesen lernen.

Wie soll die Seele berührt werden können, wenn sie bereits ganz unfähig geworden ist, sich berühren zu lassen? In der Tiefe – an einem Ort, wo diese Berührung ganz anders wäre als sonst? Was ist, wenn dieser Ort bereits versiegelt ist und die Seele nur noch so oberflächlich lesen kann, dass diese völlig andere Berührung sich nie ereignen wird? Was ist, wenn der heutige Mensch selbst über ... heilige Momente einfach nur noch hinwegliest?

Was heute verloren geht, ist nicht nur das Bücherlesen an sich, sondern auch das wirkliche Lesen. Das Eintauchen. Das lebendige Eintauchen in ein Buch, in eine Handlung, das Sich-Verbinden mit den lebendigen Gestalten des Romans, die in der Seele vollkommen real werden, sodass der ganze Mensch liest – nicht nur der Kopf, sondern auch das Herz, die Seele, die ganze Seele... Was verloren geht, ist die Hingabe – die reine Hingabe an etwas, was sich entfaltet. Oder was sich entfalten will, wollen würde, wenn es dürfte...

In diesem Sinne sind meine Bücher geschrieben. Sie sind nicht einfach nur Romane oder Nicht-Romane. Sie sind wie etwas, was leise und vorsichtig die Hand ausstreckt und gleichsam sagen möchte: Kommst Du mit mir... Willst Du? Kannst Du es noch...? Dann komm...

Hilde Domin schrieb einmal in zartem Aufruf:

Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten.

Solche Menschen suchen meine Bücher, wie der Vogel. Sie hoffen auf Menschen, die noch in der Lage sind, leise, erwartungsvoll, dem Vogel die Hand hinzuhalten, damit er sich in all seiner Sanftheit darauf niederlassen kann – und vielleicht nicht nur er, sondern mit ihm auch das Wunder...

In die Tiefe, in das Wunder des wahren Wesens der Seele, will der kleine Vogel den Leser mitführen...