Grelle Erziehungsfehler? – Eine Entgegnung auf Ute Hallaschka

Über den Film „Captain Fantastic. Einmal Wildnis und zurück“. | Trailer. | Hier im Kino.

"Sie sind völlig unvorbereitet auf das echte Leben." - "Und ich glaube nun mal, dass das Gegenteil stimmt." (Trailer 1:40).

Die Kritik

Auf der Seite der ,Erziehungskunst’ stieß ich auf Uta Hallaschkas aktuelle Besprechung des Films ,Captain Fantastic’. Die Aussage dieser Besprechung war, wie in dem Film deutlich werde, dass man selbst mit bestem Wissen, mit Liebe und Humor ... in der Erziehung schwerste Fehler begehen kann. Hallaschka schreibt unter dem Titel ,Innere [!] Wildnis’:

Viggo Mortensen, der allseits bekannte Held aus Herr der Ringe, spielt einen Vater, Ben, der mit seinen sechs Kindern in der Wildnis im Nordwesten Amerikas lebt. Fernab der Zivilisation bildet er sie zu Überlebenskünstlern aus. Steinzeit-Ernährung, die selbsterlegte Jagdbeute wird am Feuer verzehrt, tägliches körperliches Abhärtungstraining ist ebenso Bestandteil des Alltags wie politische Bildung, Erziehung zum bürgerlichen Ungehorsam. In vermeintlich sokratischer Praxis – im ausdrücklichen Bezug auf Plato – wird die Autonomie der Urteilskraft geübt. Die Kinder, zwischen 7 und 17 Jahren haben keine Ahnung, was in der Zivilisation da draußen, im Leben ihrer Altersgenossen vor sich geht. Sie wachsen ohne Medien, Handy, Internet auf und leben wie die reinen Toren – Parzival in den Wäldern.

Das macht den Spannungsbogen des Films aus: einerseits erlebt der Zuschauer diese Groteske von Beginn an als Katastrophe. Eine ideologische Verblendung des Vaters, der die hilflosen Schutzbefohlenen geradezu abrichtet. Auf der anderen Seite die Kinder- und Jugenddarsteller, denen es tatsächlich gelingt, die eigene Beziehung zum Vater so zu spielen, dass glaubwürdig wird, was diese Beziehung ausmacht – Humor und Liebe.

Kann das wahr sein? Ist es möglich, mit diesen beiden inspirierenden Grundkräften als Rüstzeug in der Seele als Erwachsener so gründlich zu irren und geradezu Missbrauch seelisch-geistiger Art zu betreiben? Das ist die radikale Frage und jeder, der je ein Kind erzogen hat, wird sie mit ,Ja’ beantworten müssen. Das ist es, was die Kinder den Erwachsenen beibringen. In der existenziellen Angewiesenheit dieses Verhältnisses erscheint eine Ansicht der inneren Wildnis. Noch in den verborgensten Winkel im Gemüt fällt Licht auf Gelände, wo Kultivierung und Reifung der Selbsterziehung nötig sind.

Dieses Anliegen vermittelt der Film nicht sehr subtil, sondern grell überzeichnet. Es gibt Voraussehbares in der Handlung, viele Klischees in den Bildern und auch brutale Szenen. Gleich zu Beginn tötet der älteste Sohn ein Tier in einem Initiationsritus und schlägt die Zähne in die rohe Leber. [...]

Man kann die filmische Machart kritisieren und sich eine feinsinnigere Dramaturgie vorstellen. Andererseits ginge der Film vielleicht so gerade selbst in die Ideologie-Falle der Botschaft. In der Entscheidung zu Lakonie und Groteske bleibt dem Zuschauer der pädagogisch korrekte Zeigefinger erspart. Das scheint konsequent kathartisch. So müssen wir selbst entscheiden: sollen wir nun Mitleid fühlen mit diesem armen irren Erzieher oder ihn kategorisch verurteilen?

Es zeigt sich im Lauf der Handlung, wovon das Leben in der Wildnis eigentlich inspiriert war. Es war ein Versuch, die kranke Mutter der Kinder, die an Psychosen litt, zu retten. Auf ihren Wunsch hin zog sich die Familie in die Natur zurück. Mit ihrem Selbstmord und der anschließenden Beerdigung setzt das turbulente Road Movie ein, mit der die sieben Wildlinge in die Zivilisation zurückkehren. Am Ende sitzt ein ergebener Vater am Küchentisch. Rasiert und halbwegs gezähmt, ein melancholischer Farmer, schaut er auf seine lesenden Kinder. Die erledigen schnell noch die Hauaufgaben, während sie auf den Schulbus warten.

Aber da ist es – das verschmitzte Lächeln, das kleine Funkeln in den Augenwinkeln, das wir von Aragorn kennen, dem Königssohn. Das ist die letzte Einstellung. Die Freude darüber, dass es die Kinder sind, die uns läutern und zum Souverän der eigenen Kräfte machen; durch die Übung der Hingabe, der selbstlosen Liebe, die zur Selbsterkenntnis wird. Auch wenn sie gelegentlich wie Gollum erscheinen, die kleinen Hobbits, und aller Einsatz der Erwachsenen wie vergebliche Mühe. Sie sind es wert. Als Boten unserer Freiheit, die immer in der Selbstüberwindung liegt.

Leichte Urteile

Nachdem ich die Besprechung gelesen hatte, sah ich mir den Trailer an – und einen Tag später den Film selbst. Ich kann Hallaschka nur leidenschaftlich widersprechen. Es ist ein grandioser Film, der ganz gewiss tiefe Fragen aufwirft – aber man sollte sie wirklich mutig in aller Tiefe stellen.

Natürlich – es ist leicht, über diesen Vater zu urteilen, der seine sechs Kinder mitten in der Wildnis aufzieht und sie lehrt, in dieser zu überleben, mit hartem Training. Berührend zu sehen, ist, wie die Kinder dies mitmachen, wie sie es einsehen, wie es für sie eine fraglose Tatsache ist, dass dies gut und wichtig – und richtig – ist.

Der Vater ist ein scharfer Kritiker der heutigen Zivilisation, des Kapitalismus, dessen Höhepunkte die Ausbeutung und das Shopping bilden. Sein ältester Sohn empfindet sich selbstbewusst als einen Kommunisten.

Es ist leicht, über diesen Vater zu urteilen, der auf alle Fragen wahrheitsgemäß – und als Atheist rein naturalistisch – antwortet und so schon dem gerade achtjährigen Kind in profanen Worten beantwortet, was Geschlechtsverkehr ist, den Ältesten aber durch die völlige Abschottung der Wildnis dazu bringt, dass dieser bei seiner ersten Begegnung mit einem nicht blutsverwandten Mädchen völlig überfordert ist. Es ist eine fast surreale Szene, als dieser dem Mädchen, nachdem sie sich innig geküsst haben, einen Heiratsantrag macht, ja, fest davon ausgeht, dass sie heiraten werden, weil er völlig überzeugt ist, dass es für sie dieselben unbeschreiblichen Empfindungen waren.

Es ist leicht, zu sagen, diese Kinder wurden völlig weltfremd erzogen, wissen nicht, das Gleichgewicht zu halten, wissen nicht, was Puma und Adidas ist, dürfen keine Cola trinken, sind wie von einem anderen Stern. Es ist leicht, zu urteilen, wenn der Vater am Ende eine seiner Töchter in Lebensgefahr bringt, weil sie beim Versuch, ihren jüngeren Bruder aus dem Haus des Opas zurückzuholen, vom Dach stürzt.

Dogmatisch könnte man sagen: Dieser Vater unterliegt extrem der Versuchung, der auch die Essener erlagen, nur am materalistischen Pol. Völlige Abschottung von der Welt...

Aber diese Sicht wäre zu einfach – bei weitem.

Das offenbare Geheimnis

Denn die Kinder lieben ihren Vater – und er erzieht sie wirklich zur Freiheit. Es ist eine Freiheit, die gar nicht vergleichbar ist mit derjenigen der meisten anderen Kinder, weil sie viel tiefer reicht, weil sie sich unglaublich tief verwurzelt. Man sieht, wie diese Kinder sich entwickeln. Sie haben ur-gesunde Empfindungen und Urteile. Sie können sich über das Kranke und Unmoralische der heutigen Zivilisation noch tief wundern, sie können voller Unverständnis, ja, Entsetzen die ,Videospiele’ ihrer Cousins verfolgen. Ihre Seele ist von einer Reinheit, die ihresgleichen sucht.

Das Training des Leibes ist nur die eine Seite. Die andere ist die Entwicklung des Geistes. Auch wenn der Vater eine materialistische Weltanschauung hat, hat er mehr Geist als die meisten anderen. Schon das kleine Kind weiß alles über die ,Bill of Rights’ – die für die viel älteren Cousins ein Fremdwort ist. Der Älteste liebt Musik von Bach und hat die Aufnahmeprüfungen der besten Universitäten des Landes bestanden.

Das Berührendste aber ist die Liebe, die in dem ganzen Film unmittelbar spürbar ist – die Liebe, die von Vater zu Kindern und zurück webt, und auch zwischen den Geschwistern. Es ist ein Zusammenhalt, der außergewöhnlich ist. Und mit absoluter Wahrhaftigkeit setzen sich die Kinder dafür ein, dass die verstorbene Mutter ihren letzten Willen bekommt: nicht begraben zu werden, sondern verbrannt. Wie sie dann mit dem Vater den Sarg entführen, um die Mutter an einem wunderschönen Ort mit Gesang dem Feuer zu übergeben, ist an sich schon ein Fest des Lebens. So, wie der ganze Film eine große, tiefe Bejahung des Lebens und ein Zeugnis der Liebe ist – die viel tiefer reicht als diese oder jene Weltanschauung.

Dieser Vater hat gewiss auch Fehler gemacht – das sagt er selbst –, aber er hat gewiss weitaus weniger Fehler gemacht als die meisten anderen Eltern.

Am Ende des Films ist diese ganze außergewöhnliche Familie wieder Teil der Zivilisation. Aber diese Kinder werden ihren Weg grandioser und berührender machen als die meisten ihrer Altersgenossen. Denn in ihnen lebt all das stark, was selbst die Waldorfpädagogik heute nur noch sehr, sehr begrenzt hüten kann: Liebe und Wahrhaftigkeit, Mut und Aufrichtigkeit, Intelligenz und Seelenreinheit. Das Ich, das diese Kinder entwickeln, hat einen zutiefst fruchtbaren Boden bekommen – dank dieses außergewöhnlichen Vaters.

Am Ende sitzt ,Aragorn’ nicht ,melancholisch’ bei seinen Kindern, die beim Frühstück ,noch schnell die Hausaufgaben machen’. Am Ende sitzt da ein zutiefst liebender und innig-heilig-stolzer Vater mit seinen Kindern am Frühstückstisch, wo sein pubertierender Sohn ihm freiwillig Milch einschenkt und alle Kinder in intensiver, tief friedvoller Stille entweder frühstücken oder schreiben oder lesen. Es ist eine unglaubliche Szene, ein Höhepunkt des ganzen Films. Wie man diese Szene und auch den ganzen Film so verkennen kann wie Hallaschka, ist ein Rätsel.

Auf wunderbare Weise trifft dieser Film geradezu in das Herz der einen Grundfrage der Waldorfpädagogik: Wie können die Hindernisse beiseitegeschafft werden, damit sich das volle, wahre, reine Menschenwesen entwickeln kann? Dieser Film fordert dazu heraus, wieder radikale Fragen zu stellen. Diese stattdessen durch vorschnelle Urteile zuzuschütten, ist geradezu eine Schändung des Films und seiner wunderbaren Hauptpersonen und kann nichts anderes bewirken als ein sanftes Ruhekissen für bequeme Selbstversicherungen. Die Waldorfpädagogik war einst selbst ein radikaler Impuls. Sie ist es nicht mehr.

Wer über diesen Film den Stab bricht, hat von der tiefen Moralität, die darin liegt, nichts empfunden.