26.10.2016

Der Mann und das Mädchen

Eine zeitlose Geschichte zwischen Himmel und Erde.


Er saß an einem See.
Er wusste nicht, wie er hierhin gekommen war.
Neben ihm saß ein Mädchen.
Er wusste nicht, wie sie hierhin gekommen war.
Er wusste nicht genau, wie alt sie war.
Er wusste nicht, wie alt er war.
Er fühlte sich alt.
Wie heißt du? fragte er.
Niobe.
Er fand ihren Namen schön.
Und du?
Reginhard.
Er hasste seinen Namen.
Das klingt etwas komisch...
Er bereute es, ihn ihr gesagt zu haben.
Reginhard?
Er bereute es nicht mehr.
Wieso bist du hier?
Ich weiß es nicht.
Wieso bin ich hier?
Das weiß ich auch nicht.
Willst du wissen, wie alt ich bin?
Ja.
Vierzehn.
Sie war noch ein Kind.
Jetzt bin ich kein Kind mehr.
Doch.
Wieso?
Das ist so.
Für dich vielleicht.
Er mochte sie.
Sie war schön.
Sind wir noch lange hier?
Das weiß ich nicht, Niobe.
Weißt du überhaupt was?
Er dachte nach.
Im Moment nicht.
Dass sie schön war, wollte er ihr nicht sagen.
Dass er sie liebte, wusste er auch noch nicht.
Es begann zu regnen.
Das sind lustige Kreise auf dem See!
Sie war noch ein Kind.
Man wird nass!
Ja, man wird nass.
Ich will nicht nass werden.
Das ist so. Es macht nichts.
Gut, wenn du das sagst.
Sie war so lieb...
Reginhard?
Ja?
Wenn man nass ist, wird einem kalt.
Ich kann dich aufwärmen, wenn du willst.
Aber ich kenn’ dich nicht.
Aber ein bisschen doch inzwischen?
Ein bisschen? Was weiß ich denn von dir?
Dass ich nichts weiß, zum Beispiel.
Das ist nicht viel.
Du bist schön.
Das ist fast zu viel.
Warum?
Mama sagt, ich darf nicht mit Männern reden, die das sagen.
Ja, das brauchst du nicht.
Warum darf ich das nicht?
Es hat schon seine Gründe.
Warum hast du es dann gesagt?
Damit du wenigstens etwas von mir weißt.
Warum findest du mich schön?
Du bist es einfach.
Dann weiß ich noch immer nichts über dich.
Du hast Recht.
Sag mir etwas über dich.
Ich liebe dich, Niobe.
Inzwischen wusste er es.
Jetzt darf ich bestimmt nicht mehr mit dir reden.
Ja, bestimmt nicht.
Warum ist das so?
Es hat seine Gründe.
Kannst du sie mir erklären?
Nein.
Kannst du es versuchen?
Ich glaube nicht.
Versuch es trotzdem.
Er liebte sie, ihre ganze Art.
Es ist zu kompliziert.
Man kann alles auch einfach sagen, sagt Mama.
Ja, das ist wahrscheinlich so.
Dann mach es einfach.
Er küsste sie.
Was sollte das?
Es war die einfachste Erklärung, die ich wusste...
Aber das wollte ich gar nicht.
Ja, deswegen.
Deswegen hast du es gemacht?
Nein, deswegen hat deine Mama Recht.
Machst du es wieder, wenn ich weiter mit dir rede?
Nein.
Dann hat sie doch nicht Recht?
Doch.
Aber du hast doch gesagt, du machst es nicht mehr.
Ja, aber das kannst du ja nicht wissen.
Du hast es mir doch gesagt.
Ja, aber nur, weil wir reden.
Also hat Mama nicht Recht.
Vielleicht doch.
Warum?
Vielleicht weiß ich selbst nicht, was ich tun werde.
Warum?
Weil du schön bist.
Dann weiß man es nicht?
Weil ich dich liebe.
Dann weiß man es nicht?
Vielleicht.
Wieso?
Weil man etwas möchte, obwohl man nicht darf.
Warum darf man nicht?
Weil du es gesagt hast.
Und du würdest es trotzdem nochmal machen?
Nein.
Na, siehst du.
Aber wenn meine Liebe größer wird...
Dann?
Das weiß ich nicht.
Du würdest es vielleicht nochmal machen?
Nicht, wenn du nicht willst.
Na, siehst du.
Die Liebe macht einen hilflos.
Warum?
Das verstehst du noch nicht.
Erklär’s mir, bat sie.
Er seufzte.
Hilflosigkeit ist, wenn man etwas tun möchte, aber nicht kann.
Sie dachte nach.
Aber macht das nicht auch stark und geduldig?
Er seufzte abermals.
Ja, wahrscheinlich hast du Recht.
Bäume sind stark und geduldig.
Ja.
Ich mag Bäume.
Er schwieg.
Sie schwieg einige Zeit mit ihm.
Du bist so still, Reginhard.
Es ist schwer, ein Baum zu werden.
Es ist auch schwer, ein Mädchen zu sein.
Du hast Recht.
Sie wurde müde.
Kann ich in deinen Armen schlafen?
Natürlich, Niobe.
Ohne dass du mir was tust?
Ich würde dir nie etwas tun.
Auch mich nicht im Schlaf küssen?
Nein.
Woher weißt du das auf einmal?
Vielleicht beginne ich schon, ein Baum zu werden.
Sie kuschelte sich in seine Arme.
Ja, flüsterte sie, ich fühle mich so geborgen...