27.11.2016

Der Weg des Mädchens

Gedanken über die Läuterung und die lautere Seele.


In meinen letzten Büchern, die in diesem Jahr erschienen sind, ist ein Geheimnis in den Vordergrund getreten: das Wesen des Mädchens.

Ich möchte nun zum Ende dieses Jahres ein weiteres Buch erscheinen lassen, in dem es ganz und gar um dieses Geheimnis gehen wird. Es ist eine Tragik, dass es sich um ein so unendlich vergessenes Geheimnis handelt. So aber möchte ich jetzt, zu Beginn der Adventszeit, in einigen Gedanken davon sprechen.

Wir leben in einer Welt, die die Realität des Christus-Wesens und des nur übersinnlich erlebbaren Christus-Wirkens immer mehr radikal leugnet, weil sie weder die Fähigkeit noch den Willen hat, sich dieser Realität anzunähern. Es fehlen die Begriffe, dieses Wesen zu verstehen, es fehlt die Gefühlszartheit, um Empfindungen zu haben, die sich diesem Wesen annähern könnten. Es fehlt die Reinheit der Willensregungen, die dies wollen würden...

Die Welt sehnt sich nach Sinn und nach Liebe – aber sie kennt nicht das Wesen der Liebe.

Die Seelen sterben in unserer Zeit – und sie merken es nicht. Die tiefste Sehnsucht wird nicht bemerkt – und die Seelen irren auf fernen und kalten Bahnen. Persönliche Gefühle kennt man noch, aber alles in dieser Welt zieht an die Oberfläche, und da, an der Oberfläche, erstarrt das verbliebene Seelenleben mehr und mehr. Der Sinn wird nicht mehr gefunden – und auch die Liebe wird immer weniger gefunden, und wenn, dann bleibt sie persönlich...

Was dieser Welt so unendlich fehlt, ist das Fühlen – das wirkliche Fühlen, die zarte, die tiefe, die unschuldige Empfindung... Was den Seelen so sehr fehlt, ist die Reinheit des Fühlens, eine unschuldige Reinheit, die überhaupt erst in der Lage wäre, zu empfinden, was in der Welt wirklich geschieht...

Gerade dies aber ist der Weg des Mädchens. Gemeint sind nicht die modernen Mädchen, die man in diesem Sinne zunächst nur als „Jugendliche weiblichen Geschlechts“ bezeichnen kann. Gemeint ist das wirkliche, das reine Mädchen. Um dieses und um sein Wesen wird es in meinem noch vor Weihnachten erscheinenden Buch gehen.

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Wer noch ein tief christlich empfindendes Gemüt und Empfindungsleben hat, wer die Sphäre des Christuswirkens empfinden kann, für den ist Weihnachten nicht in äußerlichem Sinne das Fest der Liebe. Für ihn ist Weihnachten eine Zeit der wahrhaft heiligen Nächte, einer überirdischen Fülle himmlischer Segenskräfte, die sich mit der Erde verbinden, jedes Jahr wieder zu dieser Zeit.

Kaum etwas ist so eindrücklich wie dieses Erleben von – jenseits alles äußeren Geschehens – aus den Himmelsweiten zur Erde strömenden Kräften des Segens und des Friedens der göttlich-geistigen Welten. Frieden – das ist das unendlich tiefe Weihnachtserlebnis... Friede auf Erden. Und in diesem tiefen Frieden lebt die Liebe, wird sie geboren. Und wie kann eine Seele, die so sehr mit diesem überirdischen Frieden begnadet wird, nicht selbst ganz zu einer liebenden werden? Die Liebe aus Himmelshöhen entzündet die Liebe in den Erdenmenschen...

Aber was ist, wenn dies nicht mehr erlebt werden kann? Wenn man zu dieser Sphäre keinen Zugang mehr findet, weder zu Weihnachten, noch zu einer anderen Zeit des Jahres? Oder was ist, wenn man nur eine Ahnung davon hat, aber dieses Erlebnis zu schwach ist?

Dann gibt es das Mädchen...

Das Mädchen – nicht so sehr das moderne, sondern das, dessen Seele rein geblieben ist, gleichsam so rein wie Schnee –, es ist eine Offenbarung des Himmels auf Erden.

Mit dem Wesen des Mädchens ist wirklich ein Mysterium verbunden. Nichts auf Erden ist – wirklich auf Erden sich offenbarend – so läuternd wie das Mädchen. Warum ist dies so? Weil seine Seele rein ist. Und weil es selbst Mensch ist. Und wegen seiner Schönheit.

All dies wird heute nicht mehr von der Empfindung erfasst. Man weiß nicht mehr, was Seele ist, was Reinheit und Unschuld ist. Man weiß daher auch nicht mehr wirklich, was „Mensch“ ist. Und man weiß auch nicht mehr, was Schönheit ist, all dies verhärtet und veräußerlicht sich immer mehr, wird oberflächlich, verliert ganz seine Unschuld...

Darum ist es auch so schwer, darüber zu schreiben. Man setzt sich dem Unverständnis und dem Spott aus. Von allen Seiten.

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Das Mädchen kann die Seele zu einem Wiederfinden der tiefsten Empfindungen führen. Aber es ist ein Weg auch der sinnlichen Offenbarung. Das Mädchen ist kein Geist, es ist ein Wesen aus Fleisch und Blut, mit einer reinen Seele. Das tiefe Berührtwerden vom Wesen des Mädchens ist nicht der reine Weg des spirituellen Geistsuchers, der unmittelbar in die Spiritualität hineinstrebt, auch nicht der Weg des rein religiösen Suchers, der sich mit dem Göttlichen verbindet, in aller Keuschheit. Aber schon Platon wusste, dass die Läuterung Stufen hat – und dass jede Stufe daraus besteht, dass die Seele sich von der Schönheit berühren lässt, auf welcher Stufe auch immer...

Der moderne Mensch leidet doch daran, dass er den Weg zum Geist meistens nur wie in einem Fragment findet. Im Übrigen bleibt er dennoch ein Gefangener seines Verstandes, der Geist bleibt noch immer allzu tot, die Empfindung noch immer allzu kalt und allzu selbstbezogen, der Wille bleibt träge, bequem und lahm. Und das führt dann zu den so verbreiteten Erscheinungen: Dogmatismus, Halbherzigkeit, Selbstzufriedenheit, einem „Sich-Einrichten“ auch in spiritueller Hinsicht, oder aber krampfhaftem Streben und was dergleichen Erscheinungen mehr sind, fast alle nie als solche erkannt. Aber wo – wo sind die tief reinen Seelen, die allein den Geist zu finden vermögen, weil sie ihn allein mit aller Macht zu suchen und zu ersehnen in der Lage sind?

Das Mädchen ist die heilige Läuterin der Seele...

Man kann meinen Büchern vom spirituellen Standpunkt vorwerfen, dass sie auf einer gewissen Ebene stehenbleiben oder sogar von der eigentlichen Spiritualität fernhalten. Denn was soll es mit Spiritualität zu tun haben, wenn ein Mann oder aber ein Junge sich in ein Mädchen verliebt, auch in seine äußere Erscheinung?

Diesen Einwänden sei gesagt: Wer seine Wege in die Spiritualität ohne die Liebe zur äußeren Erscheinung finden kann – wohl ihm! Aber auch die äußere Erscheinung ist heilig, und die Schönheit des Wesens erstrahlt bis ins Äußere... Und was könnte heiliger sein, als seine Seele durch die Liebe zu einem Mädchen so unschuldig werden zu lassen, wie es dieses Mädchen selbst ist?

Was die Welt unendlich braucht, sind reine Seelen. Das Mädchen ist eine Heilerin der Seelen – mitten in der sinnlichen Welt. Darum ist sie eine heilige Botin der Himmelskräfte – mitten auf Erden.

Himmelskräfte trägt es in seinem Wesen ... das Mädchen.