03.01.2017

„Wenn man seine Selbstachtung verliert, ist man erledigt“

Filmbesprechung: Ich, Daniel Blake. Ken Loach (Regie), GB, 2016, 100 min. | Trailer | Kinos.


Dieser Film erfüllt das Herz mit Traurigkeit... Es ist ein zutiefst menschlicher Film, und er zeigt, was aus einer Gesellschaft wird, die das Menschliche verliert – zugunsten einer Maschinerie, eines Systems von Vorschriften, an die sich alle halten, die aber darauf ausgelegt sind, Menschen fallen zu lassen...

Ein Film über das Fallen und das Fallenlassen von Menschen. Ein Film über gnadenlose Vorschriften und Raster und Menschen, die nicht in das Raster passen, weil sie einfach menschlich sind, weil sie eine Würde besitzen, weil sie arm sind, weil sie nicht weiter wissen, weil sie in ihrer Menschlichkeit völlig alleingelassen werden.

Menschen, die einander in all ihrer Hilflosigkeit beistehen, mit dem, was sie haben. Wärme, Verständnis, Mitgefühl. Aber reicht das ... inmitten einer Welt, die kalt wie ein Eisblock ist? Nach außen hin glatt, komfortabel, geregelt, mit Krawatte, mit angenehmer Musik in den Warteschleifen? Glatt bis zum Erbrechen. Nichts, an dem man sich festhalten kann. Nichts, dass einem beisteht, nur weil man ein Mensch ist.

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Aber sie wird in jedem Moment angetastet, wo die Regel über dem Menschen steht – und Bedürfnisse verletzt werden, die unmittelbar mit der Würde verbunden sind. Auch ein Bettler hat Würde – aber sie wird nicht geachtet. Und weil sie nicht geachtet wird, wird sie fortwährend angetastet, verletzt, mit Füßen getreten. Die Paragraphen des mitleidlosen Systems sind diese Füße. Es braucht keine Springerstiefel von Nazi-Schergen. Es reicht eine Krawatte und das Fehlen von Mitgefühl. Es ist egal, auf welchem Weg ein Mensch eine Nummer, ein bloßer Fall wird. Seine Würde ist in diesem Moment verloren. Vor den Augen dessen, der das Recht hat, seinen Fall zu verwalten, ist er kein Mensch mehr. Dies wird in Ken Loachs Film ergreifend deutlich.

Ken Loach wurde im letzten Jahr 80. Es ist keine Selbstverständlichkeit, das ein Mensch in einem so hohen Alter noch Filme dreht. Daniel Blake ist über zwanzig Jahre jünger als er – und doch fast am Ende seines Berufslebens. Ein ganzes Leben hat er gearbeitet – und nun wird er von einem gnadenlosen System, das sich während der Jahrzehnte seines Lebens entwickelt hat, ausgestoßen.

Die junge Frau, Katie, der Daniel Blake in ihrer eigenen Not hilft, sagt es am Ende deutlich: Der Staat tötet. Wie brutal die „Regeln“ gehandhabt werden, das sagt Ken Loach in einem Interview deutlich:

Zum Beispiel, da ist jemand zwei Minuten zu spät gekommen zu so einem Interview in einem Jobcenter und hat sein Geld nicht mehr bekommen. Wir haben das Beispiel von einem Mann gehört, dessen Frau schwanger war, sie bekam vorzeitig ihre Wehen, er ist mit ihr ins Krankenhaus gefahren, aber während das Baby geboren wurde, hat er eben im Jobcenter sein Interview verpasst und daraufhin hat man ihm die Sozialhilfe gestrichen, er bekam das Geld nicht.
Die Regierung stuft eben auch Leute ein, die krank sind, dass sie eigentlich noch arbeiten könnten. [...] Und die Regierung weiß ganz genau, was sie tut, und das ist wirklich pervers. [...] Und die Regierung nimmt es lieber in Kauf, auch mal einen Prozess zu verlieren, aber bleibt bei dieser harten Linie. Also, die Regierung verliert lieber einen Prozess, als von diesen sinnlosen Einstufungen abzulassen, und nimmt das in Kauf.

Loach erlebte die Ära von Margaret Thatcher, die den Neoliberalismus, die krass sozialdarwinistische Variante der Marktwirtschaft, durchsetzte und verkündete: „There is no alternative“. Und er erlebte die grausigen Blüten dieser Politik, die seit langem aufgegangen sind. Zusammen mit seinem langjährigen Drehbuchautor Paul Laverty sprach er mit vielen, vielen Betroffenen, was ihm erst das ganze Ausmaß der furchtbaren Realität deutlich machte. In einem anderen Interview erzählt er:

Die Leute, die in den Jobcentern arbeiten, haben Anweisungen, eine bestimmte Anzahl von Menschen zu sanktionieren. Und wenn sie das nicht tun, bekommen sie einen "personal improvement plan", wie sie ihre Arbeit verbessern können – was nichts anderes bedeutet, als mehr Sanktionen zu verhängen. Ihre Vorgabe ist, die Menschen zu entmutigen.

Es reicht also nicht, die Menschen nur als Nummern zu behandeln und darauf zu warten, dass sie scheitern. Es soll aktiv darauf hingearbeitet werden, dass sie scheitern. Demütigen und Aussortieren. Selektion und Verachtung... Der Mensch wird zur kalten Kreatur, er wird ein Monstrum...

„Ich, Daniel Blake“ ist ein Film von großer Schlichtheit und wachsender Trostlosigkeit. Es ist ein stiller, großer Film, in dem auch das verletzliche, einsame Geheimnis der Menschlichkeit tief, tief erlebbar wird.

In Cannes wurde Loach letztes Jahr für seinen Film mit der Goldenen Palme geehrt.