26.01.2017

Russland als Reich des Bösen

Die „egoistische“ Weltsicht und ihre Erweiterung.


Inhalt
Alexander Dugins Chaos und Eggerts Panikmache
Kapitalismus, Mafia und Konfrontation
Zweierlei Maß – die Lückenpresse
Feindbild Russland
Zum Abschluss


Alexander Dugins Chaos und Eggerts Panikmache

Jetzt möchte ich noch einmal auf die Vorwürfe der „Egoisten“ eingehen, auf deren Seiten das russische Böse in immer neuen Zügen an die Oberfläche geholt wird – jüngst gestern in dem reißerischen Aufsatz „Okkulter Faschismus“.

In diesem Artikel wird der russische Ideologe Alexander Dugin unter Verweis auf einen Aufsatz der Aufklärungs-Seite „Counterpunch“ in unmittelbare Nähe des Schwarzmagiers Aleister Crowley gerückt. Der Counterpunch-Aufsatz ist allerdings wesentlich lesbarer als der Eggert-Aufsatz, der ein weiteres Mal eine Art hysterische Stimmung transportiert.

Das will nicht heißen, dass ein Phänomen wie Dugin nicht äußerst besorgniserregend ist – die Frage ist eher, ob der Stil Eggerts zielführend ist. Dugins wechselnde Anschauungen mögen chaotisch genug sein und möglicherweise auch das Ziel haben, Chaos zu verbreiten – aber es ist niemandem gedient, wenn sich eine solche Stimmung auf den Leser überträgt. Von der „aktiven Mitwirkung des KGB“ in der Formung von Dugins Anschauungen steht bei Counterpunch nichts – das sind solche Elemente, die bei Eggert einfach so auftauchen...

Über Dugin und überhaupt die erschreckenden rechtsradikalen Netzwerke in Russland berichteten die von den „Egoisten“ so verpönten „NachDenkSeiten“ schon 2014 in Zusammenhang mit der Ukraine-Krise.

Der sehr detaillierte Artikel machte aber zugleich deutlich, dass diese rechtsextremistische Szene nur ein Faktor in Russlands Politik ist. Weitere sind die Oligarchen und die Silowiki (Armee- und Geheimdienst-Vertreter), dann aber auch das nationalliberale Lager um etwa Ministerpräsident Medwedew. Zwischen all diesen einflussreichen Lagern muss Putin lavieren.

Kapitalismus, Mafia und Konfrontation

Die Konstellation ist schlimm genug – wie überall auf der Welt, wo es um Macht und Einfluss geht und dadurch Demokratie, Recht und Menschlichkeit erodieren. Und ich wiederhole: Oft genug haben die USA entsprechende Machthaber und Erosionsprozesse in anderen Ländern ebenfalls gefördert, solange ihnen dies opportun schien.

Und man denke auch heute an die Macht des Kapitals, die auch inmitten der „Demokratien“ zunehmend das Recht aushebelt – sei es durch Rechtsbeugung, Verbrechen, hochbezahlte Anwälte oder schlicht die Entstehung einer neuen Feudalschicht. Noch hält sich bei uns der Rechtsstaat, aber er erodiert. Auch dadurch, dass Politiker immer mehr Handlanger des Kapitals werden. Man denke an die Macht der Konzerne, etwa an Monsanto, nahezu unbegrenzte Macht. Sie treiben Bauern und Kleinunternehmen in den Ruin – aber der Schein der „Demokratie“ bleibt noch gewahrt. Der freie, auf der Straße lebende Bürger...

Selbstverständlich – mafiöse Strukturen, offene Gewalt und offener Rechtsextremismus sowie ein korrupter Staat, das alles wären die nächsten Stufen. Aber sie drohen auch den Demokratien – und nicht etwa durch den russischen Geheimdienst, sondern durch die eigene innere Dynamik der zerstörerischen Wachstumsideologie, die zugleich eine Spaltungs- und Verarmungsideologie ist. Denn das Prinzip des Kapitalismus ist: Egoismus und Macht. Nachdem die letzten Bastionen wirklich sozialen Denkens abgeschafft wurden, stehen dem Opportunismus, Pragmatismus, Relativismus alle Türen offen. Und schon diese Abschaffung erfolgte durch „alternative facts“ und „fake news“ („wir können das Sozialsystem nicht mehr finanzieren“, „private Altersversicherung ist besser“, „Privatisierung ist gut“ etc. etc.). Die Geldmacht und ihre willigen politischen Handlanger höhlen die Demokratie da aus, wo es Oligarchen und offene Mafia noch nicht tun.

Aber zurück zu Russland. Dugin ist nicht Putin – und ob er ein einflussreicher Berater Putins ist oder aber nicht, darüber streiten sich, soweit ich sehen kann, die Experten. Dennoch ist das gesamte ultranationale Netzwerk so stark, dass Putin daran nicht vorbeigehen kann.

Wie der oben genannte Artikel der „NachDenkSeiten“ aber auch sehr deutlich macht, stärkt jede Konfrontationspolitik des Westens gerade die extremistischen Seiten. Das gilt in der Ukraine wie auch in Russland selbst. Der Westen meint, diese Kräfte dadurch eindämmen zu können, weil er sie mit Putin von Anfang an gleichsetzt, stattdessen heizt er die Extremisierung dadurch selbst mit an. Im März 2015 sprachen die „NachDenkSeiten“ in einem anderen Aufsatz vom „Clash von amerikanischem Chauvinismus und russischem Nationalismus“. Es ist dieser mehrperspektivische Blick, den ich bei den „Egoisten“ immer wieder vermisse.

Zweierlei Maß – die Lückenpresse

Ich möchte dann auf einige Aufsätze von Prof. Ulrich Teusch aufmerksam machen. Er gehört nicht zu der sogenannten „Querfront“, die von den „Egoisten“ immer schon undifferenziert mit „Rechtsaußen“ gleichgesetzt wird. Im Herbst 2016 veröffentlichte er das Buch „Lückenpresse“. In bewusstem Gegensatz zu dem Begriff der „Lügenpresse“ kritisiert er die Unterdrückung wesentlicher Informationen und das Messen mit zweierlei Maß. Mit anderen Worten: Unsere eigenen Medien und RT deutsch verbindet das gleiche Problem. Der Westend-Verlag schreibt dazu:

Beide Defizite sind in unserem Mediensystem strukturell verankert. Wenn sich daran nichts ändert, wird sich das Siechtum der Mainstreammedien fortsetzen. Und der Journalismus, wie wir ihn kannten, wird bald der Vergangenheit angehören.

Teusch verweist zum Beispiel auf Beispiele guter journalistischer Praxis in Bezug auf Syrien jenseits des üblichen Schwarz-Weiß-Denkens. Ein Artikel des britischen Independent weist auf das zweierlei Maß in den Berichten über Aleppo und Mossul hin und betont:

The Syrian war is especially difficult to report because Isis and various al-Qaeda clones made it too dangerous to report from within opposition-held areas. There is a tremendous hunger for news from just such places, so the temptation is for the media give credence to information they get second hand from people who could in practice only operate if they belong to or are in sympathy with the dominant jihadi opposition groups.

Wenn dann zum Beispiel auch eine Schule oder ein Krankenhaus von Bomben getroffen wird und die Opposition etwa von 18 getöteten Zivilisten spricht, dann betont sogar der Spiegel mittlerweile, dass sich solche Zahlen nicht unabhängig überprüfen lassen. Für Michael Eggert ist dies aber nicht nur Absicht, sondern in seinem neuesten Schreckensartikel bezeichnet er dies als eine „durch Putin forcierte und gezielte, schockierende Bombardierung von Schulen und Krankenhäusern“ und als „Schreckens-Strategie, die auf eine Destabilisierung Europas durch die entstehenden Flüchtlingsströme setzt“. Es wäre schön, wenn er für diese dämonisierenden Aussagen wirkliche Beweise geben könnte – wenn solche Aussagen nur auf persönlicher Weltanschauung beruhen, braucht man das natürlich nicht.

Die westliche Propaganda kannte ja auch den angeblichen Brutkastenmörder Saddam Hussein – solche Bilder, einmal im Kopf, setzen sich einfach fest. Ich will nicht sagen, dass es ausgeschlossen ist, dass Putin „Flüchtlingsströme in Gang setzen will“ – aber ohne starke Beweise ist dies nur Propaganda. Dass die Amerikaner durch ihre zumindest indirekte Unterstützung der islamistischen Extremisten (über die arabischen Verbündeten, zumindest in Einzelfällen auch ganz direkt) in jedem Fall ebenfalls ganz faktisch massive Flüchtlingsströme auslösen, sollte nicht übersehen werden. Und im angeblich so sauberen Irak-Blitzkrieg gab es, das scheint schon vergessen zu sein, weit über 100.000 Todesopfer allein unter der Zivilbevölkerung. Auch die Uranmunition, Abu Ghuraib, das Massaker von Haditha und anderes scheinen vergessen zu sein. Oder ist nur wichtig, was die Freiheit des Westens bedroht?

Robert Fisk, der Nahostkorrespondent des „Independent“ antwortet auf die demagogische Doppelmoral bezüglich Aleppo:

„And I can tell you that Iraq’s half million dead ‘creeped me out’ rather a lot, not to mention the torture and murders in the CIA’s interrogation centres in Afghanistan as well as in Iraq. It also ‘creeped me out’ to learn that the US president used to send innocent prisoners off to be interrogated in – Assad’s Syria! Yes, they were sent by Washington to be questioned in what Samantha [Power, UN-Botschafterin der USA, H.N.] now calls Syria’s ‘Gulags’.”

Derselbe Autor des oben genannten Independent-Artikels, Patrick Cockburn, beschreibt die Lage im aktuellen "London Review of Books" noch detaillierter und stellt fest:

All wars always produce phony atrocity stories – along with real atrocities. But in the Syrian case fabricated news and one-sided reporting have taken over the news agenda to a degree probably not seen since the First World War.

Jeder, der sich ein unabhängiges Denken bewahrt hat, sollte diesen Bericht einmal sehr sorgfältig zur Kenntnis nehmen. Das Gleiche gilt für eine gestern veröffentlichte Erklärung des wissenschaftlichen Beirates von attac (auch ich habe die dort genannten Fakten auf meiner ausführlichen Hintergrundseite zum Syrienkrieg dokumentiert).

Feindbild Russland

In einem weiteren Aufsatz verweist Prof. Teusch auf ein Buch von Hannes Hofbauer über das Feindbild Russland: „Wenn der Iwan kommt...“. Ich schätze Hofbauer sehr und habe vor nunmehr 14 Jahren bereits über sein Buch zur EU-Osterweiterung und deren furchtbare Folgen für die Bevölkerung berichtet. Wäre der Westen auch hier nicht so verlogen vorgegangen, sähe Europa heute ebenfalls ganz anders aus. Und das Feindbild Russland? Ich zitiere Teusch:

Gegen Ende seines Buches nimmt sich Hofbauer das vor, was gegenwärtig bei uns als „Russland-Journalismus“ durchgeht. Insbesondere rekapituliert er einschlägige Spiegel-Titelbilder von 2007 bis heute. Auch wenn man konzedieren mag, dass solche Titelbilder ein wenig zuspitzen dürfen, sollte man doch annehmen, dass sie gewisse Grenzen einhalten und sich nicht geradewegs auf das Niveau von CDU-Wahlplakaten der 1950er Jahre begeben. Das tun sie aber. Machwerke, die zum Fremdschämen einladen. Und die Tatsache, dass Qualitäts- und Leitmedien in Großbritannien oder den USA oft zeitgleich in dieselbe Kerbe schlagen, macht die Sache keineswegs besser.

In diesem Zusammenhang kann man dann auch ins Detail gehen. Man kann zum Beispiel das ARD-Magazin Fakt und seine Sendung vom Juli 2016 „Putins unerklärter Krieg gegen den Westen“ nehmen – und Stück für Stück die angeblichen Beweise sich in Luft auflösen sehen.

Dabei häufen sich journalistische Fehlleistungen, die eigentlich jedem Laien auffallen müssten. Wenn man schon von Putin-Propaganda spricht, warum führt man dann Alexander Dugin vor. Warum nimmt man nicht Putin selbst und zitiert eine seiner zahlreichen Reden, die er in den letzten Jahren gehalten hat. Wiederholt hat Putin die USA, Nato und EU um einen fairen Dialog auf Augenhöhe gebeten, der aus dem jetzigen Gegeneinander und Sanktionsduell heraus führen könnte. Aber einer Bitte um Dialog kann man vermutlich schlecht Propaganda vorwerfen. Es ist wirklich traurig, mit welcher Stimmungsmache unsere Medien auf solche diplomatischen Vorstöße antworten.

In Bezug auf die schwierige Lage der Homosexuellen in Russland verweist Teusch in seinem Aufsatz über das Hofbauer-Buch darauf, dass vieles noch vor wenigen Jahren in Amerika nicht anders war.

Vor drei Monaten berichtete Eggert auf seinem Blog unter dem Titel „Ein ganz gewöhnlicher russischer Mord“ über den Tod von Sergej Magnitski als den „am besten dokumentierten Fall von Menschenrechtsverletzungen in Russland in den vergangenen 35 Jahren“. Abgesehen davon, dass von den Menschenrechtsverletzungen in den USA auch manches nach außen dringt und manches nicht (da es eben auch dort hinter verschlossenen Mauern stattfindet), möchte ich auch hier auf einige Seltsamkeiten hinweisen.

Magnitski war ein Mitarbeiter von Bill Browder, einem Investor, der zunächst mit Putin auf einer Linie war, als dieser die Oligarchen allmählich entmachtete, danach aber selbst in Putins Schusslinie geriet. Browder wurde außer Landes verwiesen, sein Mitarbeiter Magnitski wurde 2008 verhaftet. Magnitski starb nach fast einjähriger Untersuchungshaft im Gefängnis.

Bereits ein halbes Jahr vor Eggert berichtete nun Teusch über eine ARTE-Sendung zum „Fall Magnizki“, die für den 3. Mai 2016 vorgesehen gewesen war. Dieser Film war von dem russischen Journalisten Andrei Nekrasov gedreht worden, einem dezidierten Kritiker der russischen Politik, der zuvor u.a. schon einen Film über den Giftmord an Alexander Litvinenko gedreht hatte. Doch wenige Tage vor dem Ausstrahlungstermin setzte das ZDF den Film auf Druck von Browders Anwälten ab! Was war geschehen? Nekrasov, der zu Beginn an Browders Version geglaubt hatte, war während der Recherchen und Dreharbeiten immer mehr zu einer anderen Ansicht gekommen – und Browder verhinderte nun die Ausstrahlung. Mitte Juni 2016 wurde der Film dann in Washington doch noch öffentlich gezeigt – und die anschließende Diskussion wurde von dem legendären Investigativ-Reporter Seymour Hersh geleitet.

Auf Wikipedia ist nachzulesen, dass Magnitski nicht vorsätzlich umgebracht wurde, wenn auch an schlimmen Haftbedingungen starb. Auf Befehl des damaligen Präsidenten Medwedew wurden ca. 20 Justizvollzugsbeamte entlassen. Was die Recherchen Nekrasovs aber vor allem ergaben, war, dass Browder tatsächlich Steuern hinterziehen wollte – und die Schuld so bei ihm liege. Verschiedene Kritiker wiesen auf Fehler des Films hin – dennoch gewann er beim größten europäischen Filmfestival „Prix Europa“ den zweiten Platz der „Best European TV Documentary“.

Was auch immer nun die ganze Wahrheit ist – auch hier ist Schwarz-Weiß-Denken sicher nicht am Platz.

Teusch hat dann noch einen Text über Russland auf seiner Seite, die das zweierlei Maß und das Problem der „Lückenpresse“ wunderbar illustriert. Inmitten dieser von Macht und Männern dominierten Politik existiert offenbar das zunächst fast unglaublich scheinende Faktum, dass 45 % aller leitenden Positionen in russischen Unternehmen der freien Wirtschaft von Frauen besetzt ist – ein mit Abstand weltweit führender Anteil (Deutschland 15 %). Der kurze Text von Teusch, wie mit einer solchen Meldung nun umzugehen sei, ist herrlich – und zeigt die ganze Schere im Kopf.

Zum Abschluss

In einem weiteren Artikel über die Trump-Putin-Connection schreibt Prof. Teusch ironisch:

Man mag es der amerikanischen Demokratie zugutehalten, dass sie in ihrer sprichwörtlichen Liberalität und Toleranz einen Feindsender [RT America] auf eigenem Territorium duldet. Aber wenn Medienmogul Putin sein Gastrecht in so schändlicher Weise missbraucht, wenn er allen Ernstes und immer wieder über Occupy Wall Street, Black Lives Matter, Widerstand gegen Fracking und Ähnliches berichtet und sich nicht scheut, derartige Marginalien zu Haupt- und Staatsaktionen aufzublasen, darf man das nicht länger hinnehmen.

Selbst wenn der Sender damit den Keil zwischen der herrschenden Politik und der aus der Bevölkerung kommenden politischen Opposition vergrößern will – und so Amerika destabilisieren will –, ist es doch seltsam, dass dann der „Feindsender“ über die von den großen Medien allzu sehr verschwiegene Realität im eigenen Land berichten würde. Er würde also die Lücke der Lückenpresse schließen. Das zeigt das ganze Problem der Presse in dieser „Demokratie“. Der Punkt ist, dass in Amerika wie auch in Europa das Kapital die Macht hat, Widerstand, der weder Geld noch Macht hat, klein zu halten – letztlich auch über die Berichterstattung, die nicht erfolgt, weil auch die Medien längst wissen, nach wem sie sich richten zu haben. Die Schere im Kopf sitzt in den Redaktionen. Wenn aber die Berichterstattung doch erfolgt (etwa dass Trump den Bau einer Ölpipeline durch Gebiet der Dakota-Indianer reaktiviert hat) – warum darf RT America darüber nicht auch berichten?

Die Welt steht durch eine irrationaler werdende Politik, durch Präsidenten und Geheimdienste sowie andere Gruppierungen, die „Fake News“ und Desinformation als Waffe benutzen, vor immer größeren Herausforderungen. Die Frage ist aber: Wie begegnet man diesen? Durch Schulterschluss und Konfrontation? Durch Containment statt Appeasement? Aber mit wem soll man noch zum Schulterschluss finden? Und was dann?

Wenn die Demokratie sich verteidigen will, muss sie sich ihres Namens würdiger als je zuvor erweisen. Dazu gehört eine Wahrhaftigkeit, die sich auch auf das volle journalistische Ethos besinnt – und schon hier das Blockdenken beendet. Die Wahrhaftigkeit beginnt schon da, wo man nicht Verbündete haben kann, die mit Menschenrechten vielleicht sogar schlimmer umgehen als der „Gegner“. Und sie lebt da, wo nicht wirtschaftliche Interessen die Moral ausschalten. – Aber wir leben in einer Welt, die vom Kapital, von Geopolitik, von der fossilen Droge bestimmt ist. Es ist das Geld, das die Moral korrumpiert. Es ist die Machtgier, die die Moral sterben lässt. Das ist ein Problem russischer Oligarchen ebensosehr wie globaler Konzerne. Und die Menschlichkeit wird zwischen diesen Mächt(ig)en zerrieben. Wenn der Westen seine Freiheit verteidigen will, muss er den gesamten Kapitalismus radikal hinterfragen. Freiheit ist in der Welt, in der sich Machtimpulse immer stärker konzentrieren und ausleben, nur zu erhalten, indem mit der Menschlichkeit radikal ernst gemacht wird.

Die Freiheit ist nur aufrechtzuerhalten, wenn die Länder der Freiheit ihren eigenen Großmachtanspruch aufgeben und radikal umdenken. Es braucht eine völlig neue Kultur, ganz im Sinne des gestern von mir erwähnten ZEIT-Artikels. Eine Kultur, die nicht mehr männlich-mächtig, sondern weiblich-behütend geprägt ist. Das ist ein Jahrhundertprojekt. Aber wenn nicht erkannt wird, dass dies der einzige Weg ist – die Entmachtung der Macht –, dann wird auch die Freiheit selbst verlorengehen. Die Menschen müssen in völlig neuen Kategorien denken lernen, fühlen lernen und wollen lernen. Mit dem Ideal der Freiheit muss ernst gemacht werden. Aber das Ideal der Brüderlichkeit muss mit einem tiefen Ernst hinzukommen. Das ist die einzige Rettung – nicht Panikmache. Es muss das Bewusstsein wachsen, was wirklich notwendig ist.

Auch die „Egoisten“ sind Teil dieser Welt. Wenn sie bei ihrem Spott und ihrer Besserwisserei bleiben, wenn sie dabei bleiben, Andersdenkende herabzuwürdigen und zu pathologisieren, gehen sie letztlich von den dabei wirkenden seelischen Kräften her nicht viel anders vor als die übrigen Egoisten und kaltblütigen Machtmenschen dieser Welt, denen andere Menschen auch nur Objekte sind. Seit Jahrhunderten leidet die Menschheit in Ost und West unter diesem Fehlen von Menschlichkeit. Aufgangskräfte sind das Gegenteil. Und sie müssen errungen werden, denn der Egoist besitzt sie nicht.