04.02.2017

Zum Wesen der Wahrheit

Über den Streit der Anschauungen und das wahre Wesen der Seele.


Inhalt
Grundsätzliche Überlegungen
Amerika und Russland
Mainstream-Presse und Verschwörungstheoretiker
Die „Egoisten“ und die „NachDenkSeiten“
Das verschwörungstheoretische Denken auf dem „Egoisten“-Blog
Die Krise der sogenannten „Qualitätsmedien“
Eine Krise des Bewusstseins
Vom Wesen der Wahrheit


Grundsätzliche Überlegungen

Was ist eigentlich „die Wahrheit“? Die Seele möchte die Hintergründe wissen. Was geschieht wirklich? Geben die Nachrichten die Wahrheit? Worüber wird nicht berichtet? Mit welchen Absichten tun Menschen, Gruppen, Staaten, Politiker etwas? Was wird versucht, wie darzustellen und wie „aussehen“ zu lassen? Was ist die Wirklichkeit hinter der Darstellung und dem äußeren Schein? Wo beginnt die Einseitigkeit, wo die Irreführung, wo die Unwahrheit – oder auch nur die Halbwahrheit? Was ist nicht ganz richtig dargestellt – oder nur aus dem eigenen Blickwinkel? Welche Interessen hat dieser eigene Blickwinkel? Was sind die eigenen Ziele, Machtinteressen, versteckten Absichten?

Jede Darstellung ist zunächst Darstellung unter einem bestimmten Blickwinkel. Man ist verwurzelt in bestimmten Ansichten, wird bestärkt durch ähnliche oder gleiche Ansichten – und sieht alle Ereignisse dann unter diesem Blickwinkel, mit dieser „Brille“. Jede Seele ist von der Richtigkeit ihrer Anschauungen überzeugt – das ist der Ich-Impuls, besser gesagt der Ego-Impuls, eine Kraft, die diesen Punkt, den man zunächst „ich“ nennt, zum Mittelpunkt der Welt macht – vom vernünftigsten Denker bis zum Stammtisch-Sprücheklopfer.

Dann geht es auch um die Gewichtung der Geschehnisse und die Frage der eigenen Verantwortung. Es gibt auf allen Seiten Unwahrhaftigkeiten. Wo beginnt man mit der Kritik? Bei der eigenen Regierung, die man an dem eigenen Anspruch (der Ideale des Westens) misst – oder bei der anderen Seite, wo vieles vielleicht schlimmer ist und von der man sich vielleicht sogar bedroht fühlt?

Wahrheit hat auch damit zu tun: Nicht nur, wie die Welt ist, sondern auch wie sie sein sollte – wie die Seele fühlt, dass sie eigentlich sein sollte. Ein Unternehmen, das sich nicht um moralische Maßstäbe schert, dies aber auch gar nicht beansprucht, ist ehrlich – in seiner Unmenschlichkeit. Unzählige Gesetze tragen aber den Anspruch und auch die Garantie des Menschlichen in sich. Wenn dies dann „hintenrum“ umgangen wird, beginnt die Unwahrhaftigkeit – im Wirtschaftsleben, im Rechtsleben, im Privatleben, im Geistigen, überall. Abweichen von der Wahrheit, aber auch Abweichen vom Guten, vom wahrhaft Menschlichen.

Aber es gibt auch in ehrlicher Weise unterschiedliche politische Ansätze. Man kann in Bezug auf eine andere Seite die Annäherung suchen – oder auf Konfrontation gehen. Willy Brandt und Egon Bahr prägten zum Beispiel die Politik und den Begriff des „Wandels durch Annäherung“. Sie wollten damit dem gegenteiligen Ansatz ein Ende machen: dem des Kalten Krieges. In diesem Begriff steckt ebenfalls schon alles. Jenseits der Phrase, bei der man nichts mehr empfindet, war dies wirklich ein Krieg – wenn auch ein „kalter“ und kein „heißer“. Dennoch: Feindbild-Denken, Drohung, Abschreckung, Schwarz-Weiß, wir die „Guten“, die anderen die „Achse des Bösen“ (wie es dann unter Bush hieß).

Man kann sich dann fragen: Was ist eigentlich das Menschliche? Oder auch: Wo beginnt das Menschliche naiv zu werden? Aber auch: Wo wird das Unmenschliche eine sich selbst bewahrheitende Prophezeiung? Wird der „Gegner“ vielleicht erst dadurch zum Dämon, dass ich ihn dämonisiere? Wenn bei einem Menschen wie Hitler mit einer bis ins Allertiefste hineinreichenden Pathologie eine Politik des „Appeasement“ (Beschwichtigung) nichts geholfen hätte – gegenüber anderen „Gegnern“ eine Politik der Annäherung aber gerade zu einem tiefgreifenden Wandel der ganzen Beziehungen führt ... wie erkennt man dann das Richtige? Oder werden diese Alternativen einfach nur missbraucht – indem man zum Beispiel auf das Beispiel Hitler verweist, dann einen anderen Gegner mit Hitler vergleicht und damit nur die konfrontative Politik verteidigt?

Hat man mit der Annäherung überhaupt schon einmal wirklich ernst gemacht? Und ist man selbst überhaupt schon einmal vollkommen wahrhaftig gewesen? Oder verfolgt man selbst auch nur eine geheime Agenda – und kann schon von daher gar nicht erwarten, dass der „Gegner“ friedlicher wird? Was für eine innere Einstellung muss die Seele haben, um zum Beispiel wie Willy Brandt zu einer solchen inneren und äußeren Geste wie dem Kniefall vor dem polnischen Ehrenmal für die Opfer des Warschauer Ghettos bereit zu sein?

Amerika und Russland

Zu einem Konflikt gehören immer zwei Seiten. Beide können ihn anheizen – und meist sieht man den Splitter im Auge des anderen, aber nicht den eigenen Anteil, der vielleicht viel größer ist.

In Bezug auf Russland ist ein sehr wichtiges Element die NATO-Osterweiterung nach 1990. Es ist bekannt, dass im Zuge der Vorbereitung der deutschen Wiedervereinigung der Westen gegenüber Gorbatschow zunächst versprach, die Grenzen der NATO in keinster Weise zu verschieben. Das betraf anfangs sogar den Osten des wiedervereinigten Deutschlands. Ein ausführlicher Aufsatz in der ZEIT von 2014 beschreibt diesen historischen Prozess sehr detailliert.

Am 9. Februar 1990 notierte US-Außenminister Baker nach einem Gespräch mit Gorbatschow: „Endergebnis: Vereintes Dtland verankert in (polit.) veränderter Nato – deren Jurisd[iktion]. sich nicht ostwärts verschieben würde!“ Dies war dann auch die Linie von Kohl und Genscher. Wenige Tage später aber schwenkte Baker auf den harten Kurs des US-Sicherheitsrates um – und US-Präsident Bush sagte Kohl (gemäß dessen Erinnerung) auf einem Treffen zwei Wochen später: „Zur Hölle damit. Wir haben uns durchgesetzt, sie nicht. Wir können nicht zulassen, dass die Sowjets die Niederlage in letzter Minute abwenden.“

Mit anderen Worten: Die existentielle Sorge Russlands gegenüber einer Osterweiterung der NATO wurde von den USA (und dem Westen insgesamt) ebenso in den Wind geschlagen wie alle anderen berechtigten Sorgen. Die USA, die weltweit bereits unzählige Militärbasen betreibt, wurde weiterhin überall aktiv. Gorbatschow selbst nennt später die weiteren Meilensteine: Kosovo-Krieg und Jugoslawien, Irak, Libyen, Syrien. Ungebremst und ohne jemals den Interessenausgleich (und damit sind vor allem Sicherheitsinteressen gemeint) mit Russland zu suchen, haben die USA ihr militärisch-geostrategisches Einflussgebiet ausgedehnt.

Es ist dies, was ich unter anderem als die Verlogenheit des Westens bezeichne. Freiheit und Demokratie auf den Fahnen, aber Krieg und Machtstreben im Gepäck – einschließlich Folterskandalen, Kollateralschäden, Uranmunition, offenkundigen Lügen und so weiter. Ich messe den Westen an seinen eigenen Idealen.

Aber was bedeutet dies nun für die Frage nach der Wahrheit? In der politischen Diskussion kommen dann phrasenhafte Schlagworte auf, die zu Totschlagargumenten werden. Etwa, dass man mit Hinweisen auf solche Tatsachen ein „Putin-Versteher“ sei, was dann mit etwas ganz, ganz Schlimmen assoziiert wird. Man bemerkt nicht, dass man auf einem solchen intellektuellen Niveau längst ein „Bush-Versteher“ ist. Oder wie will man sich selbst aus diesem Schwarz-Weiß-Denken, das die ganze Diskurssphäre vergiftet, befreien? Die entscheidende Frage ist doch: Wie kommt man von der bloßen Konfrontation zur Wahrhaftigkeit? Es geht zum einen um Fakten – und selbst deren Erkenntnis muss mühsam gewonnen werden – und zum anderen um deren Beurteilung – und zum Dritten um die Frage nach dem eigenen Handeln, die dann daraus folgt. Umgekehrt aber kann jedes eigene Handeln neue Fakten schaffen, im Negativen wie im Positiven.

Mainstream-Presse und Verschwörungstheoretiker

Man kann es wie eine Wahrheit aussprechen: Da, wo um Anschauungen und Deutungen gestritten wird, stirbt die Wahrheit zuerst – wie im Krieg auch. Man kann den Streit mit der Finsternis vergleichen und die Wahrheit mit dem Licht. Wie kann die Wahrheit gefunden werden, wenn man streitet? Umgekehrt würde die Wahrheit jeden Streit beenden...

Aber in der öffentlichen Diskussion wird, je mehr die äußeren Verhältnisse eskalieren, auch die Diskussion über diese Verhältnisse immer erhitzter. Die Seelen werden immer aufgeregter – und jene Mächte, die damit zusammenhängen feiern Triumphe, weil das Ruhige, Besonnene, Friedvolle und Klare unterliegt.

Die Eskalation führt in die Polarisierung. Das bedeutet dann, dass jeder, der nach Hintergründen fragt oder auf Hintergründe verweist, über die nicht berichtet wird, ein „Verschwörungstheoretiker“ oder ein Anhänger solcher. Und für die Gegenseite ist die gesamte Presse eine „gleichgeschaltete Lügen-Presse“. Das sind Totschlag-Argumente. Da findet der Krieg wirklich in den Köpfen und in den Blogs statt – um keinen Deut besser als die Kriege mit echten Waffen, im Prinzip. Zwar geht es nicht um das physische Töten, aber um das intellektuelle. So, wie eine Granate kein „Argument“ ist, so ist auch ein phrasenhafter Begriff kein Argument. Aber mit Totschlag-Begriffen braucht man keine Argumente mehr, denn der „Gegner“ ist ja nach Anwendung des Begriffes bereits tot.

Anders wäre es nur, wenn man begründen würde, warum etwas eine „Verschwörungstheorie“ ist und warum die Wirklichkeit mit dieser Theorie nicht übereinstimmt – wo also die vermuteten Hintergründe in sich zusammenfallen. Ebenso muss man begründen, wo man „Lügen“ in der Presse sieht – und wie man dann die Wahrheit belegt. Man muss begründen, was man mit Gleichschaltung oder Mainstream meint, und was dann die Anschauung abseits des Mainstreams ist und warum diese mit der Wirklichkeit mehr übereinstimmt.

Das Gleiche gilt für die Begriffe „rechts“ und „links“. Die Notwendigkeit der Unterscheidung wird immer größer werden – gerade in dem Maße, in dem zum Beispiel rechte Bewegungen Gedanken und Argumente vereinnahmen, die ebensogut „links“ sein können. Dann hilft nur noch ein wirkliches Unterscheidungs- und Empfindungsvermögen in Bezug auf die Frage, wer etwas sagt und wie etwas gesagt wird. Rudolf Steiner wies schon vor einhundert Jahren darauf hin, wie entscheidend wichtig dieses innere Vermögen ist – und wie sehr zwei Menschen das exakt Gleiche sagen können und trotzdem zwei völlig unterschiedliche Welten dahinterstehen können. Es kommt also auf Intentionen und Gesinnungen an – und man kommt nicht darum herum, die Welt des Seelischen immer mehr als den entscheidenden Schauplatz eines wirklichen Kampfes zu erkennen, der den Kämpfen im Äußeren entspricht, die aber nur dessen Folge und Auswirkung sind.

Fehlt dieses Unterscheidungsvermögen, dann sind „Amerika-Kritiker“, die ursprünglich ganz eindeutig als „Linke“ erkannt worden wären, auf einmal „Putin-Versteher“, „russische Trolle“, „Verschwörungstheoretiker“, „Neurechte“, „Querfrontler“ etc. etc. – Hinzu kommt, dass auch hier keinerlei Unterscheidungsvermögen mehr angewandt wird, denn verschiedenste Menschen können verschiedenste Hintergründe richtig und wahr recherchiert haben – und es ist niemandem gedient, Menschen Etiketten aufzukleben und in Schubladen zu stecken, und selbst dann können sie noch Richtiges erkannt haben. Nehmen wir nur einmal die Kölner Sylvesternacht. Man kann sich über Fakten, Deutung und Folgerungen streiten – aber es sind die verschiedensten Deutungen und Folgerungen berechtigt. Und man kann sogar verstehen, wieso rechte Bewegungen Zulauf bekommen, wenn bestimmte Diskussionen nicht offen genug stattfinden – wie man auch verstehen kann, warum sie vielleicht nicht stattfinden, um die rechten Bewegungen nicht noch mehr zu befeuern. Das Ganze ist ein Zirkel – aber das Richtige kann niemals in der Unwahrhaftigkeit liegen. Das Menschliche und auch eine menschliche Gesellschaft kann immer nur auf dem Boden der vollen Wahrhaftigkeit gedeihen.

Die „Egoisten“ und die „NachDenkSeiten“

Ich möchte die ganze Frage an einem weiteren Beispiel einmal sehr konkret machen.

Als ich meinen Aufsatz schrieb, in dem ich auf die Einseitigkeit und das Un-Spirituelle des „Egoisten“-Blogs von Michael Eggert hinwies, entbrannte einmal mehr der Spott gegen mich und meine Person. Einzelne Kommentare berührten daneben auch das Politische.

Als ich darauf hinwies, dass ich mit meinem Verweis auf die Einseitigkeit der Anschauungen des Eggert-Blogs keineswegs allein dastehe, sondern etwa die „NachDenkSeiten“, gegründet vom SPD-Urgestein Albrecht Müller, ganz ähnlich argumentieren, kam erneut triefender Spott – und der Hinweis auf einen Artikel in der „Berliner Zeitung“: „'Nachdenkseiten' Die fragwürdige Anti-Lügenpresse-Front“.

Von dem Niveau der „Egoisten“-Kommentare, in diesem Fall von einem gewissen „bobby“, kann man sich, wenn man mag, hier einen Eindruck verschaffen. Als ein anonymer Blogger dieses Niveau seinerseits ironisch kommentierte („Danke für die Aufklärung zu diesem anthroposophischen Kernthema!“), antwortete „bobby“: „So antworten die Trollen!“ – Damit haben wir also das ganze Szenario: Die vulgären Spötter auf der „Egoisten“-Seite sind die „Guten“ und wirklichen Wissenden, die anderen sind die „Putin-Gläubigen“, die „Putin-Anbeter“ und die „Putin-Trolle“. So einfach sieht das Weltbild dieser Menschen aus.

Ich bin am Ende dieses Aufsatzes auf „bobby“ und die „Berliner Zeitung“ eingegangen. Die Berliner Zeitung wirft alles in einen Topf: Die „NachDenkSeiten“ von Albrecht Müller, Ken Jebsen, Daniele Ganser – alles das Gleiche. All diese Menschen haben unterschiedlichste Anschauungen. Aber es macht es einfacher, nicht zu differenzieren – viel einfacher. Es sind einfach alles komplette Gegner. Frei nach der Logik: Ken Jebsen ist „Verschwörungstheoretiker“, Daniele Ganser ist „Verschwörungstheoretiker“, und das sind die Schlimmen, Verrückten, Durchgeknallten. Und wenn die „NachDenkSeiten“ auch mit „solchen“ Menschen sprechen, sind sie genauso schlimm. Alles kein sauberer Journalismus. Tendenziös. Aber die „Qualitätsmedien“, das sagt ja schon der Name, die sind nicht tendenziös, die berichten die Wahrheit, und zwar die volle Wahrheit und immer die Wahrheit.

Und schon wird wieder polarisiert: Die Amerikaner sind gut, die Russen sind böse. Die „Verschwörungstheoretiker“ sind böse. Amerika-Kritiker sind Putin-Versteher und russische Trolle. Israel-Kritiker sind Antisemiten. Putin-Dämonisierer sind die Eingeweihten und die Weltretter. Wenn man mit niemandem mehr sprechen darf, ohne dass das Stigma, das ihm angeheftet wurde, auch auf einen selbst übergeht, dann haben die Menschen, die so vorgehen, einen überwältigenden Propaganda-Sieg errungen. Denn sie sind die wahren Verschwörungstheoretiker: „Die stecken alle unter einer Decke, alle durchgeknallt, eine einzige Querfront, von links bis rechts, man kann sich auf niemanden mehr verlassen, die glauben alle ihren unglaublichen Wahnsinn.“

Wer einmal mit diesem Schubladen-Denken anfängt, hat keine Kontrolle mehr über die schiefe Ebene, auf die er damit bereits geraten ist. Alles fällt ihr zum Opfer – und das, was man den „Verschwörungstheoretikern“ vorwirft, praktiziert man gleichzeitig selbst. Generalisieren, verallgemeinern, dämonisieren.

Das verschwörungstheoretische Denken auf dem „Egoisten“-Blog

Wer auch nur einen Blick auf die Interview-Seiten der NachDenkSeiten wirft, kann sich unmittelbar davon überzeugen, dass diese Informationsplattform mit ihrer auch sonst unglaublichen Fülle an verlinkten Artikeln eindeutig und uneingeschränkt links ist – politisch links im allerbesten Sinne. Übrigens zugleich im Sinne der alten, wirklichen Sozialdemokratie. „Links“ bedeutet nicht Kommunist, Stalinist oder Putinist – „links“ bedeutet, ein Ideal von einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft zu haben. Der Gedanke einer Welt ohne Ausbeutung und ohne Macht und Unterdrückung – das ist der ur-linke Gedanke. Wer dies verschleiert und alles in einen Topf wirft, hat entweder absolut keine Ahnung ... oder böse Absichten.

„bobby“ behauptete dann noch, ich hätte in Bezug auf die NachDenkSeiten den „Herauswurf“ von Co-Herausgeber Wolfgang Lieb 2015 und die „damit verbundene Neuausrichtung der Nachdenkseiten zu einem verschwörungstheoretischen Propagandamedium“ nicht zur Kenntnis genommen. Hätte ich in diesem Tonfall geschrieben, hätte Michael Eggert mich aufgefordert, mir „erstmal den Schaum vor dem Mund wegzuwischen“ (so Eggert gegenüber einem anonymen Blogger, dem er meine Identität unterstellte). Die Eggert genehmen Kettenhunde dürfen dieses niederste Niveau dagegen offenbar jederzeit pflegen. Die suggestive Propaganda beginnt schon da, wo jener „bobby“ von einem Herauswurf spricht. Wolfgang Lieb verließ von sich aus die NachDenkSeiten, weil er mit ihrem Ansatz nicht mehr einverstanden war. Auch bei diesen kritisierte er eine zunehmende Tendenz zur Verallgemeinerung und Konfrontation – siehe hier.

Dass ich mich inhaltlich Lieb sehr verbunden fühle, müsste man vielen meiner Texte entnehmen können, nicht zuletzt meinem Aufsatz „Warum nicht Aufklärung die Welt retten wird“. Dass ich die NachDenkSeiten dennoch gegen die wütende Propaganda der suggestiven Totschläger uneingeschränkt verteidige, bedarf nunmehr wohl keiner weiteren Erklärung. Über den Inhalt der NachDenkSeiten muss sich jeder ein eigenes Urteil bilden. Die bobby-Wortwahl jedoch übertrifft noch jeden Verschwörungstheoretiker in ihren Entstellungen. Und wie sehr er auch sonst selbst verschwörungstheoretischem Denken unterliegt, zeigen seine folgenden Worte in demselben Kommentar:

bobby – 02.02.2017 03:09
[...] Eine pauschale "Mainstream-Presse" gibt es ohnehin nicht. Ihr angebliches Vorhandensein ist die Ur-Lüge und gleichzeitig die Rechtfertigung der sogenannten alternativen Propaganda-Medien. Und der Begriff ist ein absolutes Unwort. Alternative Propaganda-Medien gibt es allerdings in endloser Unmenge und sie ähneln sich verblüffend. Zur Orientierung dazu einige Beispiele unter:
www.spuelgel.de/wir-sind-nicht-allein/die-alternative-kanalliste-zu-den-mainstream-muellpropaganda-medien/
Auf diese Liste fehlen allerdings die extrem-rechten Medien. Deshalb ergänzend:
survival-mediawiki.de/dewiki/index.php/Alternative_Medien
Da könnte mit Sicherheit noch vieles erweitert werden. Fast täglich kommt neues hinzu.
Wenn Meinungsbildung sich am Quellen-Material dieser Medien orientiert, so ist schon mit großer Sicherheit davon auszugehen, dass es sich um Fake-News handelt, größtenteils auch um Propaganda im Sinne der Putin-Netzwerke. Zumindest aber um äußerst unseriöse Berichterstattung.
So einfach ist das. [...]

Unter dem ersten Link findet man Webseiten, die ein mit der Berichterstattung der gewöhnlichen Medien unzufriedener Mensch zusammengetragen hat:

Allgemeine Morgenpost Rundschau, Alternativlos, AntikriegTV, Bildblog, Blackbox, Bürgerinitiative für Frieden in der Ukraine, Cashkurs, CastorTV, Daniele Ganser, Denkfunk, Der blinde Fleck, Die Anstalt, Europa Objektiv, Fefes Blog, FreiwilligFrei, Friedensblick, Graswurzel, Günter Wallraff, Indymedia, Initiative Nachrichtenaufklärung, Jasinna, Jung & Naiv, Junge Welt, KenFM (Ken Jebsen), Kopp Verlag, Krautreporter, Kulturstudio, Kulturstudio Blog, N23, Nachdenkseiten, Neopresse, Netzfrauen.org, Netzpolitik.org, Newskritik, NRhZ Online, Nuoviso.TV, Ossietzky, PolitikFB, Pressefreiheit in Deutschland, Propagandaschau, Querdenken TV, Radio Utopie, Rationalgalerie, Spiegel Dich, Status Quo Blog, Telepolis, The Intelligence, UNBLOGD, UNCUT NEWS, Unrast-Verlag, Volksverpetzer, WeltnetzTV, Wissensmanufaktur, Zeitpunkt. 

Es sind über fünfzig Webseiten von ausgesprochen links bis hin zu ausgesprochen „verschwörungstheoretisch“. Die Mehrzahl der Webseiten kenne ich nicht wirklich. Aber ich kann auf Anhieb sagen, dass viele darunter sind, die sich um hervorragende Hintergrund-Berichterstattung bemühen und diese auch wirklich leisten. Den Undercover-Journalisten Günter Wallraff werden viele Menschen noch kennen. „Die Anstalt“ ist Deutschlands Elite-Kabarett, ohne dass die politische Landschaft ziemlich traurig aussähe. Die „Krautreporter“ sind ein Zusammenschluss unabhängiger Journalisten, die sich über Crowdfunding finanzieren und sehr interessante Berichte bringen. Man schaue sich unter den Links weiter um. Die Neue Rheinische Zeitung (NRhZ) beschreibt in einem ganz aktuellen Artikel, wie sorgfältiger Journalismus funktioniert, und kritisieren dabei auch linke „Kollegen“. Aber auch die hier kritisierte „junge Welt“ bringt immer wieder hervorragende Hintergrundartikel, die man in der „Mainstream-Presse“ vergeblich suchen würde.

Aber für „bobby“ bei den „Egoisten“ gilt: diese Medien bringen mit großer Sicherheit „Fake-News“, größtenteils auch „Putin-Netzwerke“-Propaganda und zumindest „äußerst unseriöse“ Berichterstattung. Sumpfiger, unwahrer und verschwörungstheoretischer geht es einfach nicht mehr. Es ist, wie wenn man das Schwarz-Weiß-Denken wie mit Kübeln über die Leser ergießen wollte. Ein solches Denken erinnert geradezu an Verfolgungswahn. Abgesehen davon, dass es jegliche Unzufriedenheit mit den Mainstream-Medien völlig diskreditiert – und im Grunde nichts als massivste Propaganda für das Establishment macht. „Wer nicht bei den etablierten Medien bleibt, ist ein Putin-Troll.“ George Orwell lässt grüßen. Hier spricht das „Ministry of Truth“ persönlich. „Schauen Sie nicht über den Tellerrand. Es ist gefährlich. Jedes der genannten Medien wird Ihnen das Denken vernebeln – und dann werden wir Sie als feindlichen Agenten, der Sie dann unwissentlich geworden sind, verhaften müssen.“ Die Paranoia, aber auch die reaktionäre Gesinnung, die dahinter steht, dürfte offensichtlich sein.

Die Krise der sogenannten „Qualitätsmedien“

Natürlich gibt es keine „pauschale“ „Mainstream-Presse“ – aber es gibt in der Presse wie auch sonst eine starke Tendenz zur Anpassung und damit zum „Mainstream“. Wer das leugnet, ist wiederum entweder blind oder reaktionär. Natürlich unterscheidet sich eine BILD von einer WELT und diese von einer ZEIT und diese von einer taz. Aber es unterscheidet sich auch eine CDU von einer SPD von einer Grünen Partei ... oder etwa nicht? Die Frage ist nicht die nach den Unterschieden – sondern nach den verloren gehenden Auffassungen, Blickwinkeln, Querdenkern, kritischen Fragen. Es muss niemanden wundern, dass in einem neoliberalen Zeitalter und den in diesem wirkenden Kräften alles stromlinienförmiger wird, sich mehr an einen Hauptstrom (Mainstream) anpasst. Bedenklich aber wird es, wenn das Phänomen selbst bereits geleugnet wird. Dann steht die Demokratie wirklich am Abgrund.

Eine freie Presse bräuchte mehr Biss und mehr kritisches Bewusstsein, als es die heutige Mainstream-Presse hat – auch wenn BILD eine Katastrophe und andere Zeitungen noch immer um Welten besser sind. Aber zum Glück gehören zur Presse auch noch wirklich linke Zeitungen wie die „junge Welt“, das „Neue Deutschland“, der „Freitag“ oder „Le Monde diplomatique“. Sie sind der Stachel im Fleisch der etablierten, entweder zu selbstzufrieden oder allzu ängstlich gewordenen Mainstream-Presse.

Zwei Studien der „Swiss Propaganda Research“ machen deutlich, wie die westliche Berichterstattung der Mainstream-Medien ihre Tendenz bekommt: „Der Propaganda-Multiplikator: Wie globale Nachrichtenagenturen und westliche Medien über Geopolitik berichten“. Und an einem ganz konkreten Beispiel: „Qualität der geopolitischen Berichterstattung in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ)“. Die erste Studie beschreibt, wie Zeitungen immer mehr nur noch Meldungen der drei großen Agenturen übernehmen – und wie hier im Prinzip eine wesentliche Schwachstelle der gesamten Medienwelt liegt. Was die Agenturen nicht melden, hat im Bewusstsein der Welt gewissermaßen gar nicht stattgefunden. Aber selbst das, was sie melden, kann jederzeit tendenziös sein – oder Schlimmeres. Man kann dies als „Verschwörungsdenken“ abtun, aber darum geht es gar nicht. Es geht darum, dass, während von „Putin-Trollen“ geschwafelt wird, die sich irgendwo im dunklen Internet herumtreiben, eine viel wichtigere Frage ist, wie die großen Agenturen, gleichsam das Herz der gesamten westlichen Berichterstattung, ihre Meldungen bekommen.

Es mag wenig bekannt sein, aber selbst die weltgrößte Nachrichtenagentur – die amerikanische Associated Press (AP), die US-Medienunternehmen gehört und ihren Hauptsitz in New York hat – hat schon über den massiven Einfluss aus Kreisen des US-Militärs geklagt. Tom Curley persönlich, der CEO von AP, betonte Anfang Juni 2009 in einer Rede vor Journalisten an der Universität Kansas: “We are the only force out there to keep the government in check and to hold it accountable.” Genau wie in Vietnam würde massiv Einfluss auf Journalisten genommen – sogar auf ihn selbst: “Top commanders have told me that if I stood and the AP stood by its journalistic principles, the AP and I would be ruined.” In mehrjähriger Recherche hatte AP aufgedeckt, mit welchem Aufwand das Pentagon in jenen Jahren (Bush/Rumsfeld) versuchte, Einfluss auf Menschen in den USA und im Ausland zu nehmen. Insgesamt ging es um einen Jahresbetrag von 4,7 Milliarden Dollar und 27.000 Beschäftigte. Lässt man die Bereiche Rekrutierung, Werbung, Public Affairs etc. innerhalb der USA außer Betracht, so blieben noch immer rund 500 Millionen Dollar für „psychological operations“ außerhalb der USA. [o o]

Daneben gibt es die „Selbstentmachtung“ der Presse – die paradoxerweise gerade in „Großmachtphantasien“ bestehen kann. Eine großartiger Artikel auf der Seite „Le Bohémien“ beschreibt eine Konferenz des Berliner „Tagesspiegel“. Man sollte sich diesen etwas längeren Text wirklich durchlesen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, in welche Richtung es immer mehr geht. Beschrieben wird hier im Grunde die vollkommene Prostitution des Journalismus – gegenüber dem neoliberalen Zeit(un)geist. Sich-anbiedernd sucht der Journalismus den Anschluss an die „Mächtigen“, denen er sich auf modernste Art mit immer mehr Anglizismen andient. Das neoliberale Weltbild wird gepusht, und gleichzeitig wird man immer mehr nur noch eine larvenhafte Hülle – voller Phrasen, aber mehr auch nicht.

Während man auf den verschiedensten „Policy Panels“ „Keynote Speaker“ hören konnte, das erhebende Gefühl haben konnte, „Policy Maker“ und „Top-Entscheider“ hautnah erleben zu dürfen, konnte man sich ein Stück weit ebenfalls zur „Leadership“ zählen und mit weiteren Phrasen herumjonglieren. – Presse, Politik und Wirtschaft in einer unheiligen Allianz entmenschlichter Diskurse und vollkommen angepassten Denkens. Ist das die gruselige Vorausschau der völlig stromlinienförmig gewordenen Mainstream-Medien von morgen? Die Presse als Erfüllungsgehilfe visionsloser, aber immer selbstüberzeugterer Politiker und profitorientierter Wirtschaftslobbyisten? Geopolitik und neoliberale Logik –alternativlos?

Eine Krise des Bewusstseins

Hinter diesem neoliberalen Denken steckt die völlige Absage an das humanistische Menschenbild. Hinter diesem Denken steckt eine Gegenmacht alles Menschlichen. Ich bin darauf schon in meinen vorigen Aufsätzen eingegangen. Man kann nicht zwei Herren dienen. Wer die Freiheit des Kapitals und des Profits fordert, kann nicht das Wachstum des Menschlichen und des Gerechten meinen. Der Kapitalismus beruht auf dem Egoismus, und er geht über Leichen. Das ist das Prinzip eines Denkens, das den Ego-Impuls so radikal in den Mittelpunkt stellt.

Die Menschheit hat überhaupt noch nicht gelernt, was in den Mittelpunkt gestellt werden kann oder muss, damit es nicht zu einem System entartet, in dem der einzelne Mensch letztlich Opfer wird. Opfer eines emotionslosen Wirtschaftssystems. Opfer einer gefühllosen Bürokratie. Opfer einer gleichgültigen Gesellschaft. Opfer einer Diktatur. Überall geht es um das Problem der Macht – der Macht von Dogmen und von Menschen, schließlich auch von Systemen, von gesichtslosen Konzernen, hinter denen aber wiederum Menschen stehen, Profitierende oder Ausführende, Täter und zugleich Opfer ihrer eigenen Dogmen.

Vielleicht braucht der Mensch allein schon deshalb Feindbilder – um von seinem eigenen Versagen abzulenken. Vielleicht brauchen wir allein schon deshalb den „bösen Putin“, um uns nicht daran erinnern zu müssen, dass bei uns die Obdachlosen erfrieren, dass Deutschland eine Drehscheibe des Drohnenkrieges ist, verantwortlich für die gnadenlose Härte gegen Griechenland und noch so vieles andere. Und um uns nicht daran zu erinnern, dass wir die Verbündeten einer Nation sind, die völkerrechtswidrige Kriege führt, dort in Gefängnissen foltert, Terroristen bewaffnet und hervorgebracht hat, wiederum mit anderen Staaten verbündet ist, die zu den autokratischsten der Welt gehören und ihrerseits Extremisten unterstützen?

Wie weit soll die Verlogenheit noch gehen, bevor wir anfangen, wieder bei uns anzufangen?

Die Seele des Menschen ist von der Ich-Sucht, dem Machtstreben und der Verleugnung der eigenen dunklen Seiten schon so korrumpiert, dass sie immer nur auf den Feind blickt und diesen Feind sogar braucht, um weiterhin völlig von sich abzusehen. Sie hasst den Blick nach innen, und die Sucht nach Macht wird immer größer. Das Ego bläst sich auf, es wird zur Blase. Hochmut, Machtstreben, Selbstsucht. Aggressive Geopolitik, Profitstreben, Desinteresse, Spott, Hybris. Das alles sind die Wirkungen der Gegenmacht, der Macht des Nicht-Menschlichen in der menschlichen Seele. Das wahre Wesen der Seele wird verschüttet – und die Seele wird pervertiert. Aber das ist unsere Realität. Die heutige Wirklichkeit ist zutiefst unmenschlich. Und es ist an der Zeit, dass die Seele für diese Realität aufwacht. Dass sie die in ihr lebende und an ihr klebende Selbstzufriedenheit und all die phrasenhaften, kalten, verächtlichen Gedanken und Empfindungen aufgibt ... und erkennt, dass ihr wahres Wesen mit all diesen Kräften und Impulsen nicht identisch ist, sondern von diesen pervertiert und unterworfen wird.

Vom Wesen der Wahrheit

Das Wesen der Wahrheit findet man nicht durch phrasenhaftes Gerede. Auch nicht durch phrasenhafte Gedanken. Man findet es überhaupt nicht, wenn noch irgendwelche Gedanken oder Empfindungen in der Seele leben, die dieses gewöhnlich Selbstbewusste, Selbstüberzeugte, Hochmütige und In-sich-Feststeckende des gewöhnlichen „Ich“ haben. Ebenso ist jeder Spott und jedes Schwarz-Weiß- oder Lagerdenken eine Kraft in der Seele, die es absolut unmöglich macht, das Wesen der Wahrheit zu finden. Es macht der Seele sogar unmöglich, sich selbst zu finden.

Menschen, die noch ganz in diesen Kräften stecken und unter ihrem Einfluss stehen, werden nicht einmal verstehen und erleben können, was hier mit Seele gemeint ist.

Das wahre Seelische findet man erst, wenn man all diese Kräfte zur Ruhe bringen kann, wenn man sie völlig auflösen kann. Der selbstüberzeugte Ego-Impuls, der zugleich einen anderen Menschen verspotten kann oder mit absolutem Hochmut auf einer bestimmten Ansicht steht, ist die Pervertierung der Seele. Erst wenn diese Pervertierung fällt, kann die Seele wieder sich selbst finden – ihr wahres, eigenes Wesen. Es ist eine heilige Welt – und man findet sie erst, wenn man beginnt, das Heilige wieder zu kennen. Daran kann man ermessen, wie schwer der Weg dorthin ist.

Der Weg zu diesem Heiligtum geht nach innen – denn das heilige Wesen der Seele ist ein Mysterium einer reinen Innen-Welt. Wenn der Mensch seine Seele wiederfinden will und ihre ganzen Pervertierungen und Verbiegungen erkennen will, muss er sich nach innen wenden. Und er muss in diesen Zeiten der heiligen Selbstbesinnung die äußere Welt im Grunde ganz vergessen. Erst dann findet er das Heilige, das heilige, reinen Innen-Wesen der Seele. Sonst findet er immer nur den profanen Schein-Menschen, das veräußerlichte Denken und Fühlen, das aber noch überhaupt nicht die reine und wirkliche Seele ist, gar nichts mit ihr zu tun hat.

Aber das gilt auch für das Wesen der Wahrheit. Auch diesem nähert man sich überhaupt erst in dieser heiligen Innen-Welt. Auch dieses kann erst in diesem Heiligtum gefunden werden. Heilig ist das Wesen der Wahrheit, heilig ist auch die wahre Seele – aber wenn wir das Heilige nicht mehr kennen, können wir beides nicht finden.

Einen Anfang könnte man machen, indem man so innig und so still wie möglich den Begriff der Wahrheit meditiert, besinnt, in heiligem Schweigen in sich leben lässt. Ohne zu wissen, was in einem konkreten Fall nun die Wahrheit ist, ganz rein nur den Begriff der Wahrheit an sich innerlich aufleben zu lassen. – Und wenn das innere Schweigen und die innere Selbstlosigkeit und Hingabe groß genug ist, würde man dies wirklich beginnen zu erleben: dass das Wesen der Wahrheit selbst beginnt, sich zu entfalten. Wahrheit... Die Seele lässt diesen Begriff meditativ in sich leben, aber dieser Begriff beginnt nun selbst, sein Leben zu entfalten. Die Seele beginnt zu erleben, was Wahrheit ist – weil die Wahrheit selbst sich zu offenbaren beginnt.

Diese Erfahrung ist etwas Heiliges, das Wahrheitswesen breitet gleichsam seine heilige Sphäre aus und taucht die ganze Seele in diese Sphäre ein. Etwas Reines breitet sich aus – und dieses Reine ist das Wahrheitswesen selbst, das Wesen der Wahrheit. Sie ist dieses Reine – und die Seele erlebt es. Und indem sie durchdrungen und geläutert wird, gleichsam erfüllt von einem heiligen Licht, einer heilig-reinen Kraft, erwacht auch ihre Ur-Kraft, die in der Seele selbst lebende reine Kraft – und das ist die Liebe zur Wahrheit, zur wesenhaft verstandenen Wahrheit, denn diese Wahrheit ist ein Wesen. Und in dem wahren Wesen der Seele lebt eine reine Liebe zu diesem anderen Wesen, dem Wesen der Wahrheit. Das ist der Urquell der Wahrhaftigkeit des wahren Seelenwesens: seine Liebe zum Wesen der Wahrheit. Nicht einfach abstrakt verstandene „Wahrheitsliebe“, sondern reale Liebe zu einem realen Wesen...

Solange über die „Wahrheit“ gestritten wird, kennt der Mensch noch nicht einmal sein eigenes Wesen, geschweige denn das Wesen der Mitmenschen. Das reine Wesen der Seele wird erst gefunden, wenn der Mensch alles Äußere schweigen lassen kann. Das wahre Wesen der Seele ist etwas vollkommen Heiliges. Hier erst beginnt das Mysterium des Menschen und des Menschlichen. Hier ist aber auch der Ort, wo der Mensch dem Wesen der Wahrheit begegnen kann. Wo er aber diesem wahrhaft begegnet, da wird auch der Mensch erst wahr... In der Begegnung mit dem Wesen der Wahrheit erwacht auch die Liebe zu diesem Wesen in aller Tiefe. Und der wahre Mensch, der diese Begegnung allein haben kann, erlebt zugleich das wahre Wesen der Liebe...