05.02.2017

Der Zusammenhang von Wahrheit und Liebe

Über die Läuterung der Seele und ihren Weg zum Wesen der Wahrheit.


Inhalt
Der Weg der Hingabe
Der einsame Weg
Hingabe und Heiligtum
Wahrheit und reines Urteil
Die leidende Seele
Die sanfte Seele
Religion – das wahre Erkennen
Neugottesgrund

Der Weg der Hingabe

„Die zur Wahrheit wandern, wandern allein. Keiner kann dem andern Wegbruder sein“, dichtete einst Christian Morgenstern. Was bedeutet das? Und warum ist das so? Oder – ist es so? Muss es immer so sein?

Man kann sich auch in einen solchen Satz einmal mit ganzem Ernst und ganzer Seele vertiefen. Das Erste, was dann erlebbar werden würde, wäre, dass man die Wahrheit nicht hat, sondern sich auf einen Weg, einen langen Weg zu ihr machen muss. In Morgensterns Gedicht ist dieser Weg ein existenzieller. Es ist ein Weg derjenigen Menschen, die wirklich Wahrheitssucher sind – die eine tiefe Sehnsucht nach diesem Wesen haben: nach der Wahrheit.

Wenn diese Suche der Inhalt des Lebens wird, eine tiefste Sehnsucht der Seele, die immer da ist, dann ist die Seele eine Wanderin geworden. Es ist die Sehnsucht, die Suche, die die Seele zur Wanderin macht. Aber die Sehnsucht ist bereits Liebe. Liebe zu dem, was man sucht, zu dem man auf der Suche ist, auf dem Weg. Die Seele geht ihm ja längst entgegen. Lebendige Sehnsucht der Seele ist ein existenzielles Sich-auf-den-Weg-Machen.

Aber Sehnsucht bedeutet auch Demut. Auch das liegt in den Sätzen von Morgenstern. Die, die wirklich eine Sehnsucht nach der Wahrheit haben, eine Liebe zur Wahrheit, zu der sie auf dem Weg sind, weil sie Sucher geworden sind – Sucher und Liebende –, die suchen und lieben nicht nebenbei. Ihre Liebe, ihre Suche und ihre Sehnsucht ist existenziell. Sie sind Wanderer geworden – und sie nehmen in Kauf, dass sie dabei einsam werden...

Die Wahrheit ist, wenn man es einmal so sagen will, eine strenge Geliebte. Wer sich ihr nicht ganz hingibt – dem schenkt auch sie sich nicht. Man kann auch sagen: Sie ist wie eine heilige Königin. Wer sich ihr nicht mit einer allumfassenden Ehrfurcht nähert, dem neigt sie ihr Wesen nicht zu, um es gnadevoll zu verschenken. Welche Bilder man auch zu Hilfe nimmt – oder nicht zu Hilfe nimmt –, die Wahrheit ist nicht „billig“ zu haben, sie ist überhaupt nicht zu haben, man muss sich zu ihr auf den Weg machen. Und auch dies nicht im Sinne abstrakter, nüchterner Recherche nach äußeren Fakten, sondern in einem existenziellen Sinne, mit ganzem Herz und ganzer Seele – und aufrichtiger Hingabe.

Der einsame Weg

Zu dieser Hingabe kann man niemanden bringen – die Seele muss sich selbst an den Punkt bringen, wo sie geheimnisvoll zu suchen und zu lieben beginnt. Und jeder Schritt muss der eigene sein, denn sonst ist es nicht die eigene Suche, der eigene Weg – und dann würde man, selbst wenn man vor der Wahrheit stünde, den Weg gar nicht gemacht haben und sich mit dieser Wahrheit gar nicht vereinen können, es würde nicht das Ur-Eigene werden können. Es geht aber um ein existenzielles Zusammenwachsen mit dem, zu dem man auf dem Weg ist. Der Weg ist gewissermaßen schon „das Ziel“, weil er – auch wenn noch so unbemerkt – von Anfang an ein geheimnisvolles Zusammenwachsen mit der Wahrheit ist, Schritt für Schritt. Mit jedem Herzschlag, mit dem das Herz für die Wahrheit schlägt, vereint sich das Herz, vereint sich die Seele mit dem Wesen der Wahrheit. In jeder Sekunde, in der die Seele die Wahrheit liebt, vereint sie sich mit ihrem geheimnisvollen Wesen. Sehnsucht ist Suche, Suche ist Liebe, Liebe ist Vereinigung...

Liebe aber bedeutet Hingabe. Die Seele kann sich mit dem, was sie liebt, nur vereinen, wenn sie sich selbst hingibt. Sich muss sie also vergessen, loslassen können. Alles, was die gewöhnliche Seele ausmacht, muss zurückbleiben. Die Wahrheit ist eine heilige Herrscherin – und niemand kann zwei Herren dienen. Entweder die Seele stellt sich in den Mittelpunkt – oder sie liebt etwas, dem gegenüber sie alles aufgeben und loslassen kann. Einsam wird sie eine Sucherin – und sie wird so einsam, dass sie sogar bereit ist, von sich selbst ganz abzusehen. Sie geht den Weg der Hingabe, des Opfers...

Aber dieser Weg, der so urbildlich in der Meditation des Rosenkreuzes gegeben ist, bedeutet gerade die Heiligung der Seele. Indem die Seele die Demut wiederfindet, wird sie gerade erhöht, ihre Läuterung ist ihre Erhebung, ihre Krönung – der heilige Weg zur Weihe. Denn was die Seele auf dem Weg der Hingabe und Läuterung aufgibt, ist all das, was nicht ihr wahres Wesen ist. Der Weg des Opfers ist nichts anderes als der Weg der Befreiung von allen Wirkungen und Verderbungen der Gegenmächte – und ein Weg der (Selbst-)Befreiung des wahren Wesens der Seele. Die „gemischte“ Seele vermag diesen Weg genau dann zu beginnen, wenn das reine, wahre Wesen der Seele leise wieder hörbar zu werden beginnt. Dieses ist es, in dem ganz und gar die Liebe zum Wesen der Wahrheit lebt. Dieses ist auch der Urquell jeder Läuterung – das wahre, reine Wesen der Seele. Hier lebt jegliches Sich-auf-den-Weg-Machen. Es ist zugleich ein Zerbrechen der Mauern – das reine, das eigentliche Wesen der Seele möchte wieder hervortreten.

„Die zur Wahrheit wandern, wandern allein“ – auch deshalb, weil das reine Wesen der Seele zunächst überhaupt ganz und gar gefangen ist, verschüttet, eingemauert, zur Einsamkeit verdammt. Selbst der Mensch, der man ist, muss dieses reine Wesen überhaupt erst wieder hören, spüren, erahnen lernen. Die wahre Seele ist so einsam, so unglaublich einsam... Und es braucht manchmal eine Ewigkeit, bis überhaupt wieder eine Befreiung einer Seele beginnt – und damit ein Weg. Der Weg beginnt immer da, wo das wahre Wesen der Seele wieder spürbar wird. Und es ist immer ein Weg zur Wahrheit – allein schon zum wahren Wesen der Seele. Aber auch dieses reine Seelen-Wesen will sich mit der Wahrheit vermählen und diese immer tiefer suchen...

Hingabe und Heiligtum

Die Hingabe der Seele führt die Seele erst zu ihrem wahren Wesen. Was zunächst lernen muss, sich hinzugeben, ist dasjenige, was heute die Seele geworden ist – das ist aber nicht das wahre Wesen der Seele, es ist sozusagen das, was sich über lange Zeiten darübergelagert hat und dieses wahre Wesen auch pervertiert hat, durchtränkt mit Selbstsucht, mit Genusssucht, mit Hochmut und Eitelkeit, mit Spott und Sarkasmus, mit Faulheit und Bequemlichkeit. Das alles ist gleichsam Krankheit – nicht das Wesen der Seele, sondern das Gegenteil und trotzdem Realität, gewordene Realität. Die Seele ist – auch – so geworden. Vor allem aber hat sie ihren reinen Teil ganz vergessen. Dieser aber ist der entscheidende Quell jeder Verwandlung. Auch wenn der Mensch sein reines Seelenwesen vergisst – dieses Wesen vergisst ihn nie. Aber es leidet unter seiner Gefangenschaft.

Ein Gedicht von Juan Ramón Jiménez bringt dieses Geheimnis mit folgenden Worten zum Ausdruck:

       Ich bin nicht ich.
       Ich bin jener,
       der an meiner Seite geht, ohne daß ich ihn erblicke,
       den ich oft besuche,
       und den ich oft vergesse.
       Jener, der ruhig schweigt, wenn ich spreche,
       der sanftmütig verzeiht, wenn ich hasse,
       der umherschweift, wo ich nicht bin,
       der aufrecht bleiben wird, wenn ich sterbe.

Der erste Beginn des einsamen, aber heiligen Weges zur Läuterung ist, ein immer tieferes Gefühl für diesen reinen Teil der Seele zu bekommen – ein Gefühl für die absolute Realität seiner Existenz, und schließlich eine tiefe Liebe und Sehnsucht zu diesem reinen Teil, der zugleich das wahre Wesen der Seele ist.

Die Realität der Wahrheit und der Weg zu ihr ist untrennbar von einem spirituellen Weltbild – und dies wiederum ist untrennbar von einem spirituellen Menschenbild. Zunächst muss das Wesen der Seele vollkommen ernst genommen werden – in seiner ganzen Heiligkeit. Und das – das ist es, was dem modernen Menschen, der modernen „Seele“ so unendlich schwer fällt. Denn hier würde das Opfer beginnen. Diese moderne Seele müsste zuallererst von ihrem ganzen Hochmut Abschied nehmen. Aber welche Seele kann das schon? Sie würde ja damit selbst sterben, in dem, was sie im Moment ist... Wenn sie aber noch nicht sterben will, sich selbst völlig verwandeln, ist sie noch nicht bereit für die große Liebe...

Wahrheit und reines Urteil

Die Wahrheit ist so heilig in ihrer Realität, dass es eine „Gotteslästerung“ wäre, ihr mit seinen eigenen Meinungen entgegenzutreten. Wenn man mit seinen Meinungen – gleichsam Götzenbildern – kommt, wie kann man dann erwarten, der Wahrheit gegenübertreten zu dürfen? Die Liebe zur Wahrheit ist nur dann vollkommen wahrhaftig und von heiliger Aufrichtigkeit, wenn man ihr mit leeren Händen gegenübertritt. Voller Hingabe – bereit, die Wahrheit zu empfangen, also in heiliger Armut und freiwilliger Keuschheit in Bezug auf alle eigenen Urteile, die nur falsch sein können, solange die Wahrheit selbst nicht das Urteil schenkt.

Die hochmütige Seele würde dies sofort ablehnen. Denn ihre Meinungen sind immer richtig – und sind doch die Wahrheit? Was ist der Mensch noch, wenn er sich der Wahrheit nur „hingeben“ und sie „empfangen“ soll? Wo bleibt da Prometheus? Wo bleibt da das freie Schaffen neuer Realitäten und Wahrheiten?

Wenn man so denken würde, würde man sehr Vieles durcheinanderwerfen. Natürlich kann die hochmütige Seele weiter so durch die Welt gehen, wie sie es immer schon getan hat – nur würde sie auf diese Weise nie irgendetwas finden, immer nur sich selbst (mit all ihrem Hochmut). Das wahre Wesen der Seele, aber auch das wahre Wesen der Wahrheit würde der hochmütigen Seele für immer verborgen bleiben. Das Erste ist wirklich die Aufgabe allen Hochmuts. Ohne wirkliche Hingabe kann die Seele keinen einzigen Schritt auf dem Weg zur Wahrheit machen.

Die wahre Aufgabe des heiligen Seelenwesens ist nicht, Meinungen zu haben und sich mit diesen zu verbinden bis zu einem völligen Verkleben und hochmütigen Verteidigen der eigenen Ansichten – das tut nur das immer unreiner gewordene Seelenleben –, sondern die wahre Aufgabe der Seele ist es, sich durch Hingabe würdig zu machen, dass sich die volle Wirklichkeit offenbaren kann – und dann in einer reinen, heiligen, eigenen Bewegung den Erkenntnisakt zu vollziehen. Alle eigenen Urteile und Meinungen können diesen heiligen Akt des reinen, vollen Erkennens nur verhindern.

Die eigenen Meinungen, überhaupt „das Eigene“ muss der Seele so unwichtig werden wie nur irgendetwas. Vorher ist sie der Wahrheit, die völlig unabhängig von ihren eigenen Meinungen ist, überhaupt noch nicht würdig. Und das muss die Seele immer mehr fühlen. Sie muss immer mehr fühlen: Geht es mir um meine eigenen Meinungen oder um die Wahrheit? Jeder noch so subtile Selbstbetrug kann nur in einer Untreue gegenüber der Wahrheit münden. Die Wahrheit kann nicht betrogen werden – man kann immer nur sich selbst betrügen. Und man wird es so lange tun, bis alle Selbstliebe verbrennt und nur noch, wirklich nur noch die Liebe zur Wahrheit übrigbleibt.

Die leidende Seele

Und diese Liebe muss so groß werden, dass (wie auch Ingrid auf dem Eggert-Blog Steiner zitiert) die Seele zu leiden beginnt, wo immer Unwahrheit ausgesprochen wird. Aber auch schon da, wo es mit der Wahrheit und mit dem reinen, sorgfältigen, behutsamen, genauen Denken nicht so genau genommen wird – sondern wo unrein, hoppla-di-hopp, drauflos und basierend auf den eigenen, unverrückbaren Überzeugungen gedacht wird, sprich: in Steiners strengem Sinne überhaupt nicht. So wie die Wahrheit ist auch das Denken etwas Strenges. Es ist nicht einfach ein Assoziieren und ein Meinungen-vor-sich-Hertragen. Eigentlich ist schon das Denken selbst etwas Heiliges – oder sollte es sein. Denn das Denken ist dasjenige, was sich auf den Weg zur Wahrheit macht. Die Seele ist begnadet mit dem Mysterium des Logos – um sich auf den Weg zur Wahrheit und zum Erkennen der Wahrheit und zum Sich-Vereinen mit der Wahrheit zu machen. Es ist ein ur-heiliger Weg. Und was tut die Seele, profan und ich-süchtig geworden, wie sie ist? Sie trägt Meinungen vor sich her!

Wenn der erste Schritt eine zunehmende Empfindung von dem reinen Wesen der Seele ist und zugleich eine zunehmende Liebe zur Wahrheit, so ist der zweite Schritt, der lebendig daraus hervorgeht, dieses zunehmende Leiden an dem, was als Unwahres und das Wahre und Heilige Verunreinigendes in die Welt tritt. Ein Leiden an allem, was sich dem Reinen, dem Wahren, dem Logischen, dem Sorgfältigen und so weiter in den Weg stellt, es auslöscht, es beiseite wischt, missachtet, verspottet. Mit diesem realen Leiden beginnt die Seele, die Realität der in der Welt wirkenden Mächte immer realer zu erleben. Auf der einen Seite stehen ganz real Kräfte, die mit dem Reinen, Lauteren und mit dem Läuternden verbunden sind – und auf der anderen Kräfte, die dieses herunterziehen wollen, in verschiedenste Richtungen. Dieses Erleben wird immer realer.

Und es hängt miteinander zusammen: Die Liebe der Seele zum Wahren und zur Läuterung wird um so größer, je mehr sie unter dem anderen leiden kann – und umgekehrt. Erst die wirkliche Fähigkeit der Seele zum Leiden (lat. passio) lässt in ihr auch die wahre Liebe wachsen. Denn dieses Leiden ist ein Mit-Leiden. Es könnte der Seele ganz egal sein, was mit der Wahrheit geschieht oder wie sorglos usw. Menschen urteilen, sprechen, schreiben – Leid kann es ihr erst dann werden, wenn sie von sich selbst absieht und fühlt, was dabei ganz real in Bezug auf die in der Welt wirksamen Kräfte geschieht – und wenn sie darunter leiden kann. Liebe und Leiden hängen unmittelbar zusammen – das Leiden geht aus einer wahren Liebe hervor. Und wenn es sich vertieft, vertieft sich auch die Liebe.

Man kann die Wahrheitsliebe unmittelbar immer mehr vertiefen – oder indem die Seele lernt, immer realer an dem zu leiden, was der Wahrheit angetan wird und was an Kräften in dieser Welt wirksam ist, mit denen nie zur reinen Seele gefunden werden kann, damit aber auch nie zum Wesen der Wahrheit.

Die sanfte Seele

Die leidende Seele ist von selbst auch die sanfte Seele. Wenn der Weg zur Wahrheit aus Hingabe besteht, so ist die Frucht der Hingabe diese Sanftheit. Denn die Seele tut dann nichts von sich aus, nichts aus eigenem Geltungsstreben, aus eigener Selbstüberzeugtheit, nichts aus Hochmut, aus Spott, aus abfälligem Urteilen und so weiter – sondern immer mehr lebt in ihr nur noch das, was übrig bleibt, wenn all diese Gegenkräfte weichen müssen. Es ist immer mehr nur noch das Reine, was übrigbleibt. Und dessen Wesen ist die Sanftheit.

Man darf sich dies aber nicht einfach vorstellen. Der Weg der Läuterung – und damit der Befreiung des eigentlichen Seelenwesens und zugleich der „Rückkehr“ zu diesem – ist ein Kampf. Die Gegenmächte können nur durch wirkliche Entschlossenheit und wirklichen Einsatz von Willen überwunden werden. Auch ist es eine Willensfrage, sich ein sorgfältiges, gründliches und wahrheitsliebendes Denken real zueigen zu machen. Eine abstrakte „Wahrheitsliebe“ bleibt willensschwach – es bleibt bloße Vorstellung. Die Seele muss wirklich einen innigen Willen in sich lebendig machen – den stärksten Willen, den sie sich überhaupt vorstellen kann. Einen solchen hat sie zunächst gar nicht – aber dann muss sie ihn eben finden. Sie muss eine völlig gelähmte Kraft zur Auferweckung bringen – und dann mit inniger Liebe üben. So lange, bis sie ein vollkommener Teil ihres eigenen Wesens geworden ist und sie gar nicht mehr anders kann (und will), als sie zu entfalten.

Mit allergrößter Kraft muss sich die Seele auf den Weg der Läuterung machen – sonst wird sie keinerlei Schritte vollbringen. Wenn die Liebe zur Läuterung erst einmal da ist, braucht sie nicht mehr errungen zu werden, dann entfaltet sie ihre Kraft. Die Läuterung selbst bleibt aber noch immer ein Weg, der fortwährend Kraft braucht – und die aufrichtige Liebe zu diesem Weg.

Das Ziel dieses Weges und seine Frucht ist aber die reine Seele – und dasjenige, mit dem sich diese reine Seele vereinen kann, was schon während des Weges geheimnisvoll geschieht. Das Geheimnis der Reinheit ist aber etwas sehr Sanftes. Es ist das Gegenteil all dessen, was an Gegenkräften in der Seele wirksam ist und was diese fortwährend viel härter macht, als es ihr wahres, eigentliches Wesen ist. Diese Härte und auch Selbstverklebung führt aber gerade dazu, dass der Mensch von der Welt getrennt wird – und sogar von seinem eigenen, reinen Seelenwesen.

Das Wiederfinden der eigentlichen Seele und auch das Wiederfinden des eigentlichen Wesens der Dinge und der Welt, das tiefere Erkennen – dieser ganze Weg führt über die Sanftheit. Denn die wahre Seele ist unendlich berührbar – und sie würde von der Welt, sowohl der irdischen als auch der seelischen und der geistigen, auch unendlich berührt werden. Und das wäre die Wiederverbindung der Seele mit dem Wesen der Dinge.

Religion – das wahre Erkennen

Wieder-verbindung, das heißt Re-ligio – und das Wiederfinden der vollen Wirklichkeit ist ein heiliges Geschehen. Das wahre Wesen der Seele und auch das wahre Wesen der Wirklichkeit ist viel heiliger, als es dasjenige, was wir heute „Seele“ nennen, sich vorstellen kann oder mag. In diesem Sinne wäre alles Religion – und würde es auch werden, wenn die Seele den hier angedeuteten Weg wirklich gehen würde.

Rudolf Steiner sprach davon, dass einst, in Zukunft, alles Sakrament werden würde – alle Arbeit, aber auch alle Begegnung. Und das geschieht, wenn die Liebe und die Selbstlosigkeit der Seele auf ihrem Weg schließlich eine heilige Tiefe erreicht. Das Denken wäre so geheiligt, dass alle Begriffe einen tiefsten Gehalt haben würden, und das Wahrnehmen wäre so rein, dass nichts zwischen der Seele und ihren Wahrnehmungen stehen würde – keine profanen Urteile, keine gewöhnlichen Anschauungen, keine unheiligen Seelenregungen. Dann wäre das Erkennen eine heilige Vermählung mit der Wirklichkeit – und das Handeln ebenso.

Erkennen ist Einswerden – die Seele erkennt in dem Maße, in dem sie innerlich lernt, mit der Welt mitzuleben. Und dieses Mitleben muss so tief verstanden werden, dass es ein „Leiden“ (passio) ist. In aktivstem inneren Einsatz verwandelt die Seele sich in ... Hingabe, also scheinbar Passivität, aber nur, um sich so in höchstem Maße berührbar zu machen. Und im Berührtwerden verwandelt die Seele sich in das, was sie berührt; noch von dem zartesten Eindruck wird sie be-ein-druckt, und in ihr lebt dasjenige auf, was den Eindruck hinterlassen hat. Es ist ein zutiefst lebendiges und wirkliches Geschehen von Verwandlung und Einswerdung. In der Seele lebt geheimnisvoll das tiefste Wesen aller Dinge auf, wenn sie in tiefstem Sinne leidens-fähig, aber das heißt berühr-bar und verwandlungs-fähig wird.

Rilke drückt dies in einem Gedicht wunderbar aus. In diesem Gedicht schreibt er, dass der Mensch dazu bestimmt ist, Geist und „Inbrunst“ „eins durch das andre lebend zu vermehren“ – das heißt Klarheit und Innigkeit, Leidenschaft im besten Sinne. Dann würden Fühlen und Wollen das Denken befeuern und begeistern, und das Denken würde Fühlen und Wollen klar und rein werden lassen. Ein reiner Läuterungswille aber würde alles durchdringen. Und dann spricht Rilke von denen, die erwählt sind, „in diesem Streit“ (also aufrichtigstem inneren Ringen) „ein Reinstes zu erreichen“, und er sagt:

       Das Leiseste darf ihnen nicht entgehen,
       sie müssen jenen Ausschlagswinkel sehen,
       zu dem der Zeiger sich kaum merklich rührt,
       und müssen gleichsam mit den Augenlidern
       des leichten Falters Flügelschlag erwidern,
       und müssen spüren, was die Blume spürt.

Man würde über solche Worte nur dann nicht hinweglesen, wenn man sie einmal tief meditieren würde. Was hier in Worten ausgedrückt ist, ist eine vollkommene Reinheit der Seele – einer Seele, die so sanft und empfindsam und hingebungsvoll geworden ist, dass sie alles bis in seine tiefsten Tiefen mitmachen kann. Dass sie gleichsam gar nicht anders kann, als noch des leichten Falters Flügelschlag zu empfinden und unbewusst zu erwidern; als sogar zu spüren, was die Blume spürt. Was spürt die Blume...? Das wird die Seele nur mitempfinden können, wenn auch sie Blume wird.

Neugottesgrund

Jede Seele muss den Weg der Läuterung und damit den Weg zur Wahrheit allein gehen – denn dieser Weg urständet in ihrem ureigenen Willen. Das ist ihr Eigenes – der Wille, mit dem sie sich auf dem Weg macht. Und das andere Eigene ist das, was sie auf diesem Weg wiederfindet: das wahre, das heilige Wesen der Seele selbst. Und noch viel mehr – denn erst dieses heilige Wesen ist würdig, diese heilige Kommunion mit der übrigen Wirklichkeit zu erleben, zu empfangen.

Das Wesen der Blume und was sie spürt, das schenkt sich nur einer reinen Seele. Der Flügelschlag des leichten Falters, er kann von außen beobachtet und registriert werden – doch bis ins Innerste empfunden werden kann er nur von einer reinen Seele. Sie ist auf wunderbare, heilige Weise eins noch mit dem kleinen Falter und der unscheinbaren Blume – und um wieviel mehr mit allem anderen!

Morgensterns wunderbares Gedicht betont auch in der zweiten Strophe noch die Einsamkeit: „Eine Spanne gehn wir, scheint es, im Chor ... bis zuletzt sich, sehn wir, jeder verlor.“ Hier wird das Einsamkeitserleben vollständig, und sogar noch in der dritten Strophe: „Selbst der Liebste ringet irgendwo fern“ – warum? Warum diese Einsamkeit? Wie leidvoll ist diese! Aber es ist ein Notwendiges, denn in dieser Einsamkeit liegt das Mysterium des Ur-eigen-Werdens.

Und in der dritten Strophe geschieht dann der Umschlag, denn sie setzt sich fort: „doch wer's ganz vollbringet, siegt sich zum Stern“, und dann endet die vierte Strophe mit folgenden Worten:

       schafft, sein selbst Durchchrister,
       Neugottesgrund –
       und ihn grüßt Geschwister
       Ewiger Bund.

Am Ende des Weges findet also auch die Einsamkeit ein Ende. Es ist der Weg zum ewigen geschwisterlichen Bund. Und was ist dieser Weg? Es ist der Weg der Durchchristung – ein Durchdringen des eigenen Selbst mit jenem heiligsten Wesen der Wahrheit und der Liebe. Und auf diesem Weg geschieht ein Allerhöchstes, denn die Seele, indem sie diese Tat vollbringt, schafft Neugottesgrund. – Morgensterns Wortschöpfungskraft ist wunderbar. Es ist, wie wenn in diesen Zeilen ein stiller, heiliger Jubel liegt, und man müsste allein dieses eine Wort ebenfalls einmal lange, lange meditieren, um auch hier überhaupt zu empfinden, wie groß dieses Wort ist und was es wirklich bedeutet.

Am Ende des Weges findet die Seele nicht nur die Wahrheit, sondern sie findet ein Wesen – jenes Wesen, mit dem sie sich im Laufe des Weges immer mehr durchdrungen hat. Und weil dieses Wesen zugleich das Wesen der Liebe ist, findet sie am Ende des Weges alles – einschließlich den geschwisterlichen Bund aller übrigen Seelen. Die Reben am wahren Weinstock sind nicht voneinander getrennt...

Auf dem Weg zur Wahrheit findet die Seele nicht nur ihr eigenes wahres Wesen, dieses Wesen erwacht auch zu einem bewussten, wirklichen Leben – und sie findet die Wahrheit aller Dinge, das heilige Wesen auch alles Übrigen, denn alles hat ein und denselben Schöpfer, das Wesen der Wahrheit selbst, das heilige Logos-Wesen, das zugleich das Wesen der Liebe ist.

„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ (Joh. 14,6)