09.02.2017

Die innere Bedingung der Toleranz

Das heutige Ich zwischen Antipathien und innerer Entwicklung.


Inhalt
Das Treiben der Seelenkräfte
Selbsterkenntnis und Seelen-Welt
Seelenruhe, Freiheit und Liebe
Toleranz und Wahrheit
Politik und Spiritualität
Mut zur Reinheit


Das Treiben der Seelenkräfte

Was ist eigentlich Toleranz?

Wenn einem an dieser Frage wirklich etwas liegt, müsste man eigentlich darüber einmal eine stille Zeit, wie lang sie dann auch sei, selbst meditieren. Toleranz ist, wenn sie wirklich real ist, eine Realität der Seele. Sie ist nicht ein Thema für abstrakte Diskussionen, sondern sie muss als Realität in der Seele gefunden und lebendig gemacht werden – erst dann könnte man auch darüber sprechen und wäre das, was man dann sagen kann, wahr, weil das Gesagte mit der in der Seele selbst lebenden Toleranz in Verbindung stehen würde.

Die Tragik der heutigen Zeit besteht darin, dass die Realität des Seelischen – die erlebte, empfundene Realität – immer mehr verloren geht. Während eine bestimmte Bewusstheit und Individualisierung voranschreitet, hält das eigentlich Seelische nicht Schritt. Es ist, wie wenn das Ich-Gefühl sich immer mehr von den Tiefen des Seelischen löst und auf einer immens sich ausbreitenden Oberfläche „dahin-surft“ – einer Oberfläche, die aus Gedanken besteht, die immer weniger mit einem stillen, ruhigen Empfinden verbunden sind.

Es ist wie eine unheilige Allianz aus Denken und Fühlen. Einerseits trennen sich diese beiden Welten immer mehr – und dadurch kommt eine Art Schwellenübertritt zustande, der auch moralischer Art ist, weil man, oft noch unterstützt durch das anonyme Internet, Gedanken bilden kann, ohne etwas zu empfinden, obwohl sie einen anderen Menschen zum Beispiel tief herabwürdigen. Andererseits kommt eine neue Allianz zwischen Denken und Fühlen zustande, weil die vom ursprünglich-menschlichen Fühlen, vom eigentlichen Seelenzusammenhang losgelösten Gedanken sich wiederum verbinden mit Gefühlen von Antipathie, Verachtung, Hass und Spott.

Die „Individualisierung“ führt oft zu einer zunehmenden Antipathie, ist sie doch gerade die Abgrenzung des Ich oder Ego von der Welt. Diese Antipathie-Kräfte wachsen. Und sie wachsen auch dadurch, dass, wie geschildert, die Seelenkräfte den Zusammenhang mit dem ursprünglichen Seelen-Sein verlieren. Sie treiben gleichsam auf eine Peripherie zu, wodurch sie immer mehr in die Hand jenes bewussten Ego kommen. Aber die Frage ist: In wessen Hand befindet sich dieses Ego, dieses heutige Ich-Bewusstsein oder Ich-Gefühl mit Bewusstseinsanteilen?

Selbsterkenntnis und Seelen-Welt

Das menschliche Wesen kommt in der Selbsterkenntnis nicht weiter, wenn es nicht streng und wahrhaftig den Blick nach innen lenkt. Und diese Wahrhaftigkeit kann nur aus einer Sehnsucht hervorgehen – einer entsprechenden Sehnsucht nach Selbsterkenntnis und innerer Entwicklung. Alle innere Entwicklung ruht auf diesen Säulen: Sehnsucht und Wahrhaftigkeit. Das aber würde von selbst nach innen führen, mitten in eine wachsende, sich entfaltende Selbsterkenntnis hinein.

Indem die Seele aber sich dieser Innen-Welt zuwendet, mit der Sehnsucht nach Selbsterkenntnis und innerer Entwicklung, kommt sie zur Ruhe. Sie löst sich von der äußeren Welt, auch von ihrem Leibesempfinden (der Grundlage für das gewöhnliche Ich-Gefühl) und gelangt in ein Reich, in dem sie mit sich und ihren Regungen allein ist. Und dies ist wirklich eine eigene Welt, und das muss erlebt werden – dass die Seelen-Welt etwas absolut Reales und Eigenes ist, das neben der äußeren irdischen Wirklichkeit besteht und zunächst nur gefunden werden kann, wenn diese äußere Welt ganz verlassen wird. Seelen-Welt... Völliges Sich-Zurückziehen aus der äußeren Welt, aber auch aus dem Leibes-Erleben, das in Bezug auf die Seele noch immer äußere Welt ist...

Und das – diese Welt, in die man dann hineinkommt, in die man sich dann hineinlebt, hat also mit der äußeren Welt nichts mehr zu tun. Es ist reine Seelen-Welt – und es ist wirklich und wahrhaftig eine Welt, ein Universum, ein Kosmos. Es ist nicht bloß das Innerlich-Psychische, wie es vom Leib umschlossen wird – das wäre noch immer die leibbezogene falsche Vorstellung. Es ist der Kosmos des eigentlichen Menschen – in einem allerersten Beginn, während alles Hinausgerissenwerden in die äußeren Ereignisse zugleich immer ein Hinweggerissenwerden von dem eigentlichen Menschenwesen ist.

Seelenruhe, Freiheit und Liebe

Die Frage ist, ob der Mensch diesen Schritt in seiner Tiefe machen kann – diesen Schritt in jene Innen-Welt, die im Grunde ein Reich reinen Schweigens ist. Die Seele ist wirklich ganz allein mit sich. Stille. Völlige Stille und völliges Mit-sich-Alleinsein.

In dieser völligen Abgeschlossenheit würde die Seele sich selbst finden – sie würde wahrhaft entdecken, was das ist: Seele zu sein, eine Seele. Sie würde entdecken, dass sie nicht Leib ist, sondern Seele – und dass sie nicht schnell gefasste Urteile ist, sondern Seele. Das ist etwas völlig anderes, es ist zum ersten Mal nicht Oberfläche, sondern Tiefe, nicht der Wellenkräuselschlag, sondern der wirkliche See. Wirkliches Seelen-Sein.

Das hat nichts Nüchtern-Waches, über den Dingen Stehendes, alles Beurteilendes, sondern es hat eine tiefe Empfindungsqualität. Das Zentrum des Seelen-Lebens, das nun wirklich (selbst)bewusst wird, besteht im Empfinden. Bisher verlief das Empfinden mehr oder weniger nur unbewusst, träumend. Jetzt bekommt es die sanfte Qualität eines eigenen Bewusstseins – und ist doch noch immer Empfinden.

Aber die Seele muss lernen, ganz zu schweigen – in diesem völligen Rückzug auf sich selbst. Erst wenn sie in dieser einsamen Stille des eigenen Innen-Seins, des völligen Innehaltens und Inneseins, alles fallenlassen kann – alle Urteile, alle gewöhnlichen Gefühle, Gedanken, sogar alle bisherige Art zu denken, also auch noch alle Reste, die vom Alltag hineinsickern mögen, kommt sie an diesen Punkt der heiligen Stille, wo ihre Empfindungsfähigkeit durch das völlige Schweigenkönnen wirklich zu einem neuen Sinn wird, geboren aus der Hingabe – der Hin-Gabe eigener Empfindungen und der Hingabe an das, was empfunden werden kann.

Das aber ist die Liebe. Die Liebe ist Hingabe. Nicht mehr reagiert die Seele auf Äußeres mit eigenen Empfindungen, sondern sie gibt sich rein hin – und lässt sich berühren, und nimmt hin, was dann an Empfindungen aufsteigt, gibt sich auch diesen hin, macht sich erst diese Empfindungen gleichsam zueigen.

Diese Liebe setzt die Freiheit voraus. Die Seele muss die völlige Ruhe kennenlernen – die völlige Freiheit von allem Urteilen. Die völlige Freiheit auch von sich selbst – und vor allem von jener Instanz, die bisher die Einzige war, mit ihren persönlichen Urteilen, an der Oberfläche lebend. Frei davon muss die Seele werden – und wird so erst frei zu sich selbst, ihrem wahren (und immer wahreren) Wesen. Diese vollkommene Stille und schweigende, weiß leuchtende Reinheit ist die Läuterung – aber es ist zugleich die Freiheit. Und hier wird die wirkliche Liebe geboren. Die Liebe lebt in der reinen Seele – und der Mensch muss diese reine Seele in der Tiefe seines eigenen Wesens wiederfinden.

Toleranz und Wahrheit

Die reine Seele lebt in der Stille, und sie lebt in der Tiefe. Sie kann gefunden werden, wenn die Sehnsucht nach dieser Reinheit wächst und in der gewordenen Seele irgendwo auflebt. Die Sehnsucht nach Läuterung ist der Weg und die treibende Kraft auf diesem Weg zu der reinen Seele – und sie ist in Wirklichkeit auch ihr sanfter Ruf. Die Sehnsucht ist nicht nur das Rufen der unrein, flach und gewöhnlich gewordenen Seele nach der reinen Seele – sie ist ebensosehr der Ruf der reinen Seele in der anderen.

Die reine Seele ist der Ursprung aller Liebe – und damit auch aller Toleranz. Die wirkliche Toleranz entströmt aus einem Quellort, zu dem die Gegenmächte keinen Zutritt haben. Frei von allen Urteilen kann die Seele tolerant sein, weil sie liebt.

Das wahre, reale Wesen der Toleranz bezieht sich nicht nur auf Meinungen und Ansichten, es bezieht sich auf das Menschenwesen selbst. Es bedeutet nicht nur ein Zulassen anderer Meinungen, sondern es bedeutet eine Liebe zum Menschenwesen an sich – das verschiedenste Ansichten haben kann, aber auch ein sehr verschiedenes Verhältnis zur Wahrheit. Die Liebe zum Menschen kann sehr real werden – und die Liebe zur Wahrheit auch. Man kann tief empfinden, was geschieht, wenn entweder das eine oder das andere fehlt. Aber das Wunder ist, dass das reale Wesen der Wahrheit zugleich das Wesen der Liebe ist – und so die Seele durch sein eigenes Wesen nicht nur die Liebe zur Wahrheit „lehrt“, sondern zugleich die Liebe überhaupt.

Aber es lässt in der reinen Seele eben auch eine reine Liebe zur Wahrheit aufleben. Und das bedeutet, man kann für die Wahrheit eintreten, auch „leidenschaftlich“ (aber noch immer im besten Sinne, man denke etwa an die Engel) – und kann den anderen Menschen dennoch vollkommen achten.

Das, was die Liebe liebt, heiligt sie auch – und weil die Liebe zugleich erkennend ist, erkennt sie die Heiligkeit dessen, was sie liebt. Und so liebt sie die Wahrheit, liebt sie die geistige Welt (als Quellort von allem: Wahrheit, Erkenntnis, Läuterung, das Menschenwesen, die irdische Welt), die irdische Welt und das Menschenwesen.

Toleranz bedeutet, das Wesen des Menschen zu heiligen. Und diese Ehrfurcht vor dem eigentlichen Menschenwesen führt dazu, dass man Gedanken entgegentreten kann, ohne den Menschen selbst anzugreifen. Dann ist es diese Ehrfurcht und auch die Liebe zum Guten selbst, die die Seele einen absoluten Widerstand gegen Beleidigung, Spott oder Herabwürdigung empfinden lässt. Sie möchte dies gar nicht. Die Liebe zur Wahrheit lässt die Seele dann in reinen Gedanken für diese Wahrheit eintreten – vielleicht auch einmal in scharfer Form, aber ohne auf die Person und ihre Verspottung oder Herabwürdigung zu zielen.

Politik und Spiritualität

Die heutige Welt kann den Menschen sehr „desillusionieren“. Aber sie beruht selbst auf einer Illusion. Es ist eine Illusion, dass durch Macht oder Kälte je etwas gefunden werden könnte, was Glück oder Sinn gibt. Je mehr die Welt in diese Kräfte hineinsegelt, desto mehr verliert sie allen Sinn. Auch derjenige, der sich „desillusionieren“ lässt, tritt den Rückzug in den „kleinen Sinn“ an – in welche innere und äußere Nische auch immer.

Wer aber etwas von jenem heiligen Mysterium erkennt, was in diesem Aufsatz angedeutet werden sollte, und wer hier im Suchen, in der Sehnsucht, im Streben und in der Liebe der Seele nicht aufhört, sondern gerade dies lebendig hält, der wird immer mehr erkennen, dass jeder äußere Kampf zugleich ein über-sinnlicher Kampf ist, nämlich der Kampf um die auf Erden wirklich wirksamen Mächte (rein innerlich verstanden). Es reicht nicht, äußere Verhältnisse herzustellen, in denen halbwegs „Frieden“ herrscht, zumindest in Mitteleuropa, während in Wirklichkeit auch an den „friedlichsten“ Orten der Welt der innere und äußere Zusammenhalt erodiert, weil die Seele selbst erodiert. Es ist kurzsichtig und verkennt, was auch an diesen „friedlichsten Orten“ in Zukunft geschehen würde.

Wer das Mysterium der Seele innerlich erlebt, für den ist die spirituelle Frage der inneren Entwicklung die wichtigste Menschheits-Frage. Sie ist dann nicht mehr eine bloß private Frage („Selbstverwirklichung“ o.ä.), keine Frage mehr, die neben dem Leben herlaufen könnte, sondern die menschheitlich allerwichtigste Frage überhaupt. Unabhängig davon, dass man keinen einzigen Menschen dazu zwingen kann. Denn auch zur Demokratie kann man niemanden zwingen. Das genau ist der Punkt. Selbst alles Politische ist ganz und gar eine Frage der seelischen Realität in einem Menschen.

Alle Politik beruht einerseits auf unausgesprochenen Idealen, andererseits aber auch auf Interessenverfolgung und oft kaum mehr hinterfragten Prämissen und Grundüberzeugungen. Und global gesehen wird Politik und auch Wirtschaft sehr oft Geopolitik, Kampf um Einfluss, im Grunde also Krieg – wenn auch vielleicht noch ohne militärische Waffen.

Gegen den Dämon selbst schließen sich sogar Feinde zusammen. Aber es wäre kurzsichtig, sich von den Ereignissen in dieser Weise gegeneinander ausspielen zu lassen. Für den, der die essentielle Notwendigkeit innerer Entwicklung erkennt, gibt es nicht nur die Wahl zwischen den schlechteren oder „besseren“ Übeln. Sondern es gilt, in der Welt ein Bewusstsein dafür zu erwecken, dass es unmittelbar um die Frage geht, welche Kräfte im Menschen wirksam werden und was das wahrhaft Menschliche ist. Diese Frage hatte auch jede wahre Linke immer gehabt – aber es gilt, sie ganz in ein bewusstes Ergreifen der Ur-Frage hinaufzuheben: Was ist der Mensch überhaupt? Was ist der Ursprung von Idealen? Was ist der Ursprung dieser Kraft der Liebe? Und der Toleranz?

Mut zur Reinheit

Die meisten Menschen haben nicht mehr den Mut zu diesen Grund-Fragen – und erst recht nicht für den vielleicht langen Weg zu den Antworten. Lieber gehen sie den „langen Weg durch die Institutionen“ – und verlieren dabei sogar den Zustand, den sie hatten. Das wird der Menschheit aber nicht mehr helfen – weil die Gegenkräfte zu stark geworden sind. Dies gilt auch für die linke Bewegung selbst und sogar auch für die spirituellen Bewegungen. Die auseinandertreibenden Kräfte sind überall zu stark geworden – aber immer wieder hat dies eine Ursache. Zu wenig wird der Weg nach innen gesucht – zu wenig und zu unwahrhaftig.

Wer es mit irgendwelchen Idealen in Bezug auf die Menschheit ernst meint, muss es auch mit der Läuterung seines eigenen Wesens ernst meinen. Die Sehnsucht nach dem verloren gegangenen reinen Wesen der Seele muss wiedergefunden werden. Anders ist auf Heilendes gar nicht zu hoffen. Anders könnte man höchstens noch eine gewisse Zeit die „Gnade der Geburt“ genießen und sich in der Wohlstandsinsel Mitteleuropa einbilden, es wäre doch alles so schön, wenn alle so friedlich und vernünftig wären wie man selbst. Das ist Blindheit in Bezug auf die wahren Verhältnisse, sowohl äußerlich als auch innerlich.

Es geht darum, sich nicht ausspielen zu lassen. Für eine menschliche Welt müssen längst andere Lösungen gefunden werden, als sie irgendein regierender Politiker hat. Putin hat nicht hunderttausende tote Iraker auf dem Gewissen. Auch war es immer der Westen gewesen, der sein Angebot einer neuen europäischen „Sicherheitsarchitektur“ wiederholt abgelehnt hat. Ich führe das nur an, um das Schwarz-Weiß-Denken aufzubrechen. Nicht um ein Relativieren geht es – aber eben auch nach keiner Seite. Es geht darum, immer tiefer zu erleben, dass die Wahrheit viel komplexer ist, als man es gerne möchte. Und vor allem darum, dass im bloß Politischen die Lösung längst nicht mehr zu finden ist. Die Menschen müssen innerlich andere werden – nur das kann noch heilsam sein.

Solange einem dies dann als „Schwelgen“ im Idealismus oder im „Elfenbeinturm“ oder als „Überzeugtsein von der eigenen Reinheit“ oder als was auch immer vorgeworfen wird, kann es keinen einzigen Schritt vorwärts geben. Aber all diese Vorwürfe sagen stets viel mehr über den Vorwerfenden.

Die Wahrheit in Bezug auf all diese Fragen kann jede einzelne Seele nur selbst finden. Aber sie muss auch nach sich selbst auf die Suche gehen. Die eigentliche Seele ist nicht dasjenige, was so sehr im Außen lebt, wie wir alle es heute tun. Da beginnt die Schwierigkeit schon.

Alles – die wahre Toleranz, aber auch die Liebe zur Wahrheit und die ganze menschliche Zukunft überhaupt – beginnt mit diesem einen Schritt: Mut zur Reinheit, Mut zur Läuterung, Liebe dazu... Sich damit immer tiefer zu durchdringen – das ist Menschheits-Zukunft.