18.07.2017

Stimme des Herzens – Liebe als Politik

aus: Holger Niederhausen: Sonnenmädchen. Books on Demand, 2016. | Bestellen.


Das Sonnenmädchen stand auf und trat an den Rand der Bühne. Sie musste nur zwei Schritte machen, die Stühle standen bereits fast ganz vorne. Er hatte sie vorher noch gefragt, was sie sagen würde. Aber sie konnte es ihm nicht sagen, sie war zu nervös dazu gewesen.
Er sah von seinem Platz aus noch ein wenig ihr Gesicht. Er sah ihre Gestalt, ihr weißes Kleid, ihre bloßen Füße, er spürte ihre Aufregung...
Im Saal wurde es nun ganz leise...

„Liebe Mitmenschen!“
Er hörte ihre Aufregung. Sie klang durch die Wärme ihrer Stimme hindurch – aber diese Wärme war stärker...
„Wir freuen uns unglaublich, dass so viele von Ihnen gekommen sind!“
„Gibt es keine Lautsprecher?“, rief jemand mitten aus dem Saal.
Auch daran hatten sie nicht gedacht!
„Nein...“, erwiderte das Sonnenmädchen etwas verunsichert und gleichzeitig entschuldigend und auch noch etwas lauter als zuvor. „Aber ich hoffe, Sie können mich alle hören! Wir haben –“
„Bitte etwas lauter!“
Das Sonnenmädchen verstummte verunsichert. Er spürte ihre ganze Unsicherheit, und sein ganzes Inneres war alarmiert und in Aufruhr. Was jetzt?
Da bemerkte er, dass Konrad aufgestanden war und, ohne weiter nach vorne zu gehen, seine Stimme erhob.
„Liebe Anwesende!“, klang seine klare Stimme ganz deutlich durch den Saal. „Es werden schon alle ganz deutlich zu verstehen sein, wenn wir alle leise genug sind. Bemühen Sie sich bitte alle nur ein wenig, dann wird es schon gehen. Solche Säle sind auch ohne Lautsprecher vollkommen ausreichend. Es werden hier regelmäßig Theaterstücke aufgeführt. Vertrauen Sie darauf, dass es ohne gehen wird, wenn wir uns alle etwas Mühe geben werden. Lautsprecher trennen die Menschen voneinander. Wir wollen einen anderen Weg gehen...“
Während Konrad sich wieder setzte, gab es deutlichen Beifall für seine letzten Worte.
Dankbar blickte sich das Sonnenmädchen einen Moment lang nach ihm um. Dann stand es wieder sicher dort vorne und wartete, bis es von neuem ganz ruhig wurde...

„Ich werde versuchen, laut genug zu sprechen!“, hörte er nun wieder ihre Stimme, die er so innig liebte. „Also...“
,Was wollte ich sagen...?’, hörte er sie leise sagen, doch sofort fiel es ihr wieder ein, und sie sprach weiter.
„Wir haben gehofft, dass so Viele kommen würden, aber wir haben nicht gewusst, ob es wirklich so werden würde. Dafür danke ich euch schon jetzt!“
Nun gab es auch für sie und ihre Worte den ersten Applaus...
„Und ich freue mich, dass diese Schule hier uns ihre Aula zur Verfügung gestellt hat. Denn kleiner hätte der Raum gar nicht sein dürfen...“
Vereinzeltes Lachen stimmte ihren Worten zu.
„Ich ... ich muss gestehen, dass ich noch nie vor so vielen Menschen gesprochen habe! Na ja ... für Sie mag es anders aussehen, aber ich sehe ja niemanden von Ihnen, wenn ich so ein Video mache...“

Von neuem erhob sich wohlwollendes Lachen im Saal. Wäre es vorher noch nicht so gewesen, so hatte sie nun längst alle Herzen auf ihrer Seite...
„Und ich freue mich so sehr, Sie zu sehen – auch wenn ich Sie alle noch gar nicht kenne. Es ist aber auch schwer für mich, denn Sie glauben mir vielleicht, wenn ich sage, dass ich eigentlich gar nicht hier oben stehen möchte, überhaupt nirgendwo stehen möchte. Es sieht alles nicht so aus, aber...“
„Doch!“, rief jemand im Saal. „Aber es ist gut, dass du da stehst!“
Beifall bekräftigte die Zwischenruferin.
Verlegen drehte sie sich einmal zu Konrad um, lächelte kurz befangen – eine Geste, die ihn zutiefst rührte...
„Danke!“, sagte sie dann auf ihre innige Art in die Richtung der Frau.
„Also“, fuhr das Sonnenmädchen fort, und erleichtert hörte er, dass sich die Zuneigung der Menschen auf sie übertrug und ihr Sicherheit zu geben begann; sie so sprechen zu lassen begann, wie sie auch in ihren Videos sprach..., „wir haben Sie alle hierher eingeladen, weil wir ... mit Ihnen gemeinsam überlegen wollten, ob wir ... ja, ob wir eine Partei gründen können. Ob es genügend Menschen gibt, die das unterstützen würden, die das gut finden würden...“
„Keine Frage!“, ertönte wieder ein Zwischenruf.
„Aber auch“, fuhr sie fort, „damit Sie uns kennenlernen können. Mich und meine Freunde...“
Sie blickte sich wieder kurz um, voller Wärme lächelnd.
„Sie werden nicht alle etwas sagen. Auch die anderen haben, vielleicht bis auf Konrad, noch nie auf so einer Bühne gestanden. Aber wenigstens sehen sollen Sie uns. Es war auch mir wichtig. Denn sonst sieht man immer nur mich...
Aber vielleicht sind Sie auf den Straßen auch den Anderen schon begegnet. Denn hier in Berlin sind wir alle unterwegs, um Flyer zu verteilen, um etwas zu erreichen ... um die Herzen zu erreichen...“
Wieder ertönte bei diesen Worten großer Applaus.

Und wieder sah sich das Sonnenmädchen kurz nach Konrad um. Diesmal war ihr Blick anders, fragend...
Sie wandte sich wieder den Menschen, die im Saal saßen, zu. Dann sagte sie:
„Ich ... ich muss Ihnen noch etwas sagen...“
Ihre Stimme war anders geworden. Noch persönlicher, noch verletzlicher. Was wollte sie jetzt sagen?
„Ich weiß ... ehrlich gesagt noch nicht, wie ich damit umgehen soll ... wenn Sie klatschen.“
Im Saal wurde es noch stiller, als es ohnehin schon war. Die Aufrichtigkeit des Sonnenmädchens berührte unmittelbar die Herzen...
„Ich ... weiß ja, wie Sie ... es meinen, und ich freue mich auch darüber... Aber ich...“
Sie suchte nach Worten. Schließlich sagte sie mit deutlicher Befangenheit:
„Vielleicht können Sie ein bisschen weniger klatschen, also ... vielleicht nicht jedes Mal...“
Die schüchterne Bitte wurde mit einem brandenden Applaus beantwortet.
Er sah, wie das Sonnenmädchen errötete. Das hatte er noch nie zuvor bei ihr gesehen...
„Okay...“, sagte sie verlegen, als der Beifall wieder verstummte. „Das war jetzt mindestens für eine halbe Stunde im voraus...“
Herzliches Lachen kam ihr entgegen.
Wie sehr er das Sonnenmädchen liebte! Marlene und er sahen einander kurz an. Auch sie liebte ihre Freundin innig...

„Eine Partei kann man nur zusammen gründen. Man braucht viele Menschen. Aber man braucht auch wirklich das gleiche Ziel. – Sie wissen, was unsere Ziele sind. Wir wollen keine Kriege. Wir wollen auch keinen Krieg mehr gegen die Tiere.“
Applaus unterbrach sie, ebbte dann schnell wieder ab – die Menschen erinnerten sich an ihre Bitte...
„Wir wollen dass die Massentierhaltung aufhört, diese unglaubliche Tierquälerei... Wir wollen die Bienen retten, die Gentechnik in der Landwirtschaft und woanders beenden. Wir wollen die Erderwärmung aufhalten, die Naturzerstörung... Man weiß nicht, wo man anfangen soll – und man weiß nicht, wo man aufhören kann... Wir wollen keine Armut. Wir wollen kein Hartz IV. Wir wollen Gerechtigkeit. Wir wollen Menschlichkeit. Das ist es, was wir wollen.“
Einen Moment lang schwieg das Sonnenmädchen – und schwieg auch der Saal.
„Wir wollen Menschlichkeit“, wiederholte sie. „Aber wir wissen auch, was das ist... Ich spreche von einer Menschlichkeit, die nicht im Kopf sitzt, sondern hier.“
Sie legte die Hand auf ihr Herz.
Diese Menschlichkeit muss nicht erst überlegen, was gut ist. Sie weiß es. Sie weiß es, weil sie es fühlt. Und sie fühlt es, weil sie aus dem Herzen kommt. Weil das Herz nicht schweigt, sondern wieder spricht. Wir wollen eine Vereinigung von Menschen sein, deren Herzen sprechen! Wir –“
Hier unterbrach sie der Beifall ungezählter Menschen...

„Wir wollen“, fuhr sie schließlich mit deutlicher Berührung fort, „das wirklich sein... Und das ist ... meine große, große Bitte an Sie, wenn Sie das wirklich auch wollen – dass eine solche Vereinigung entsteht, als Partei, als eine Partei, die gewählt werden kann und gewählt werden wird...“
Wieder schwieg sie für eine Sekunde, um dann innig weiterzusprechen:
„Dass wir es alle ernst meinen... Dass wir ernst machen mit unserer Sehnsucht nach dieser einen Stimme... Dieser einen Stimme, die tief im Herzen wohnt. Es ... fällt mir schwer, Ihnen das zu sagen, weil Sie alle ja schon das Gleiche wollen. Aber ... verstehen Sie ... wenn wir uns nicht anstrengen, ich meine selbst, dann werden wir es nicht schaffen. Dann wird man uns nicht glauben! Wir dürfen nicht selbst glauben, dass wir diese Stimme des Herzens schon hätten... Ein bisschen vielleicht. Aber unser Herz! Unser Herz ist noch viel, viel mehr als das – viel, viel mehr als das, was wir jetzt schon haben. Wir dürfen unser Herz, das Geheimnis unseres Herzens, nicht so geringschätzen, dass wir meinen, wir hätten es schon und unser Herz würde schon sprechen.
Verstehen Sie, warum es mir schwer fällt, das zu sagen? Niemand möchte so etwas hören. Aber wir müssen das hören wollen! Wir dürfen nicht von uns viel halten und von dem Nächsten, der weniger Liebe hat als wir, wenig – sondern wir müssen von uns selbst wenig halten, in dem Sinne, dass wir wissen, dass unser wahres Herz noch viel, viel schöner ist, als wir es jetzt sind...
Das wünsche ich mir! Dass wir Vorbilder werden – Vorbilder für die ganze Welt. Vorbilder, die sich selbst darauf nichts einbilden ... weil sie wissen, wie weit auch sie noch gehen können und gehen müssen... Dieses Eine, nur dieses Eine müssen wir verstehen. Dass die Stimme des Herzens kein Schlagwort ist. Nichts, womit wir uns besser fühlen können, weil wir es ,haben’ und die anderen nicht. Sondern wir haben es auch nicht! Wir haben nur eine unendliche Sehnsucht danach ... und wir fühlen, wonach wir Sehnsucht haben. Und wir bemühen uns, wir geben uns Mühe, jeden Tag, wir –“
Das Sonnenmädchen wurde von einer tiefen Rührung überwältigt. Sie brauchte einen Moment, um weitersprechen zu können. Der Saal hielt den Atem an...
Dann fasste sie sich und begann neu.
„Wir suchen die Liebe. Wir haben sie nicht. Wir wissen nur, wo wir sie suchen müssen. Aber wir dürfen nicht uns lieben, wir müssen uns nach der Liebe sehnen. Nach der Liebe, die wir selbst in unserem Herzen finden werden – nach der Liebe, die wir dann der Welt schenken können, sie liebend, alles Einzelne... Diese Sehnsucht brauchen wir. Dass wir immer mehr lieben können. Wir können es noch nicht... Unsere Sehnsucht muss immer stärker sein als der Glaube, dass wir es schon gut könnten... Die Liebe weiß immer nur, wieviel mehr sie tun könnte – und selbst wenn sie nicht mehr tun kann, so möchte sie es. Das ist die Liebe...
Wenn wir das fühlen ... und wenn wir danach eine Sehnsucht haben ... dann können wir eine Partei gründen...“

Die warme Stimme des Sonnenmädchens verklang in einen atemlos lauschenden Saal hinein.
Dann brandete der Beifall auf. Einzelne Menschen standen auf. Andere folgten ihrem Beispiel.
Sie lächelte fast schüchtern. Dann kam sie zu ihnen und setzte sich auf ihren Platz. Der Beifall hielt noch immer an und hörte nur langsam auf...

[...]

Als der Beifall wieder abklang, nahm Liam eine alte Frau dran, die ziemlich weit hinten saß.
Als sie aufstand und zu sprechen begann, wurde sie erst einmal von Rufen unterbrochen, die sie aufforderten, lauter zu sprechen. Sie gab sich Mühe, und als der Saal daraufhin vollkommen leise wurde, konnte man sie verstehen.
„Ich bin“, sagte sie mit einer Stimme, der man ihr Alter unmittelbar anhörte, „von Frankfurt hierhergekommen. Frankfurt am Main. Ich bin seit Jahren nicht Zug gefahren. Ich wusste gar nicht, wie man ein Hotel bucht. Aber ich habe das alles gemacht, um dieses Mädchen zu erleben. Mein Enkel hat mir ihre Videos gezeigt. Ich habe ja keinen Computer und diese Dinge... Aber ich sagte mir: Du kannst nicht sterben, ohne dieses Mädchen erlebt zu haben! Du musst noch einmal nach Berlin kommen. Bevor die Mauer gebaut wurde, war ich einmal hier gewesen...
Ich kann nur wiederholen, was Herr Neumann vorhin gesagt hat. Ich bin noch nie einem so beeindruckenden Menschen begegnet... Ich habe Kennedy im Fernsehen gesehen, Willy Brandt, wen noch alles? Aber so ein junger Mensch...! Und selbst wenn du nicht so jung wärst, Mädchen... Was sagte Herr Neumann? Bei diesen jungen Menschen kann man Hoffnung haben... Ach, ich hoffe wirklich, dass sie alle so sind wie du, deine Freunde!“
Die Stimme der alten Frau begann etwas zu zittern.
„Ich habe mich seit vielen, vielen Jahren fremd in dieser Welt gefühlt. Ich glaube, spätestens seit der Mondlandung...“
Einige Menschen im Saal lachten. Der Rest schwieg tief beeindruckt von den Worten dieser alten Frau.
„Es ist so, Mädchen... Mit dir beginnt wieder eine neue Hoffnung. Es ist, wie wenn du ... wie wenn du eine neue Zukunft bringst... Mach weiter so! Geh deinen Weg – und nimm viele, viele mit... Mögen die Engel deinen Weg begleiten, Mädchen!“
Die alte Frau setzte sich wieder.

Er hörte ein Aufschluchzen. Es war das Sonnenmädchen... Nun sah er ihre Schultern zittern, nun nahm sie die Hände vor ihr Gesicht... Konrad stand ihr bei – und sie warf sich an seine Brust...
Er sah, wie die alte Frau voller Bestürzung wieder aufstand und stehenblieb...