15.10.2017

Wenn die Behinderung das Menschlichste offenbart

Filmbesprechung: Körper und Seele. Ildikó Enyedi (Regie), Ungarn, 2017, 116 min. | Trailer.


Der Film, der die diesjährige Berlinale gewonnen hat, ist ein Juwel – ein zutiefst verletzliches Meisterwerk über das Wunder menschlicher Begegnung und aufkeimender Liebe.

Eine wunderbare Besprechung und so auch einen Einblick in die Story gibt ein Artikel der Berliner Zeitung mit dem Titel „Ein zartes Meisterwerk“ [o].

In einem Satz geht es um die Begegnung der autistischen Qualitätskontrolleurin María und des halbseitig gelähmten Finanzdirektors Endre in einem ungarischen Schlachthaus. Durch einen Zufall werden die beiden mit der Tatsache konfrontiert, dass sie jede Nacht denselben Traum teilen: sie sind als Hirsch und Hirschkuh zusammen in einem verschneiten Wald. Diese Entdeckung verändert die Bedeutung des jeweils Anderen völlig...

Das Erste, was diesen Film wahrhaft groß macht, ist das Minimalistische, das unglaublich intensiv das Innenleben der Hauptpersonen in den Blick rückt. Die Realität der Seele wird hier sehr, sehr spürbar. Durch die unglaubliche Ruhe und die absolute Konzentration auf das Wesentliche fühlt man sich auch an den großartigen Film ,Mr. May’ erinnert. Es sind beides Filme, die tief hinführen zum wesenhaft Menschlichen.

Endre verkörpert das Menschliche, indem das Leben ihn still und zurückgezogen hat werden lassen – aber nicht verbittert. Mit Umsicht und stiller Weisheit reagiert er auf das, was das Leben von ihm fordert, er ist stets korrekt, kann aber auch einmal Sieben gerade sein lassen, wenn er spürt, dass Prinzipientreue falsch wäre. Als sein Blick kurze Zeit fast absichtslos auf den Rundungen einer externen Beamtin ruht und sie, dies bemerkend, rügt: „Und – gefällt Ihnen, was Sie sehen?“, hat er die Größe, sich in ruhiger Aufrichtigkeit für seinen Fehltritt zu entschuldigen – und es auch vollkommen so zu meinen. Letztlich hat er mit alledem längst abgeschlossen.

Daran ändert sich im Grunde nicht einmal etwas, als sich zeigt, dass ihn derselbe Traum mit der vollkommen in sich gekehrten neuen Kontrolleurin verbindet – dies ganz im Gegensatz zu ihr, die sich durch diese Entdeckung sehr zu dem deutlich älteren Mann hingezogen fühlt. Es beginnt eine äußerst scheue Annäherung, die mit verschiedenen Rückschlägen und Verletzungen verbunden ist.

Das Großartigste an diesem Film ist das Spiel der 30-jährigen Ungarin Alexandra Borbély. Sie spielt die María so zart, dass jeder Blick, jede Geste die Verletzlichkeit und zugleich die innere Sehnsucht dieser durch die Angst vor Begegnung und Berührung in sich gefangenen Seele sichtbar macht. Was ganz besonders erschüttert, ist die mit diesem Autismus einhergehende absolute Aufrichtigkeit. So verletzlich María auch ist, so sehr sagt sie immer die Wahrheit, sogar um den Preis neuer Verletzungen. Es ist oft gesagt worden, dass die ,behinderten’ Menschen eigentlich die Gesunden sind – hier wird dies so erschütternd deutlich wie kaum irgendwo anders.

Der Film ist einer der wunderbarsten Liebeserzählungen der Filmgeschichte. Und er enthält trotz aller Stille auch tief dramatische Szenen, die wiederum in ihrer Verletzlichkeit, ihrer Stille, ihrer scheinbaren Banalität zutiefst berühren. ,Körper und Seele’ ist ein absolut grandioser Film über die menschliche Einsamkeit und die Sehnsucht nach dem anderen, seelenverwandten Menschen.

In dieser Hinsicht ist er zugleich eine großartige Parabel auf die heutige Zeit überhaupt – eine Zeit, in der scheinbar alles verfügbar ist, in der sich aber das menschliche Wesen immer weiter zurückzieht. Eine Zeit, in der Dating-Plattformen und Dating-Apps Hochkonjunktur haben, in der die ,Halbwertzeit’ von Beziehungen aber immer weiter abnimmt. Man kann sich fragen, woran das liegt. Dieser Film gibt eine stille, aber sehr, sehr tiefe Antwort.

Regisseurin Ildikó Enyedi – natürlich eine Frau, für den Goldenen Bären erstmals wieder seit acht Jahren – sagte: „Diesen Film kann man nur mit offenem Herzen begreifen.“ Aber sie war dann über die Reaktionen selbst überrascht [o]:

Ich hatte damit gerechnet, nur eine sehr kleine Gruppe zu erreichen. Stattdessen habe ich eine Lektion fürs Leben gelernt: Obwohl die Leute heutzutage mit audiovisuellen Reizen überflutet werden, haben sie sich offenbar ihre Sensibilität bewahrt. Erst war ich skeptisch. Heute weiß ich: Wenn man Menschen die Gelegenheit dazu bietet, sind sie feinsinnig, geduldig, offen und sensibel.

Die Szenen mit dem Hirschpaar, in denen fast nichts passiert, nur das Zusammensein dieser beiden Tiere in einem verschneiten Wald mitzuerleben ist, gehören zu den intensivsten Szenen des Films. Sie lassen das Mysterium des Zusammengehörens erleben – und geben dem ganzen Film einen geradezu spirituellen Aspekt.

Am anderen Pol stehen die gerade in ihrer Routiniertheit bestürzenden Alltagsszenen des Schlachthauses. Aber auch an ihnen könnte der Zuschauer tief empfinden, wie kostbar das Mysterium des Lebens ist, das wir so missachten, in Mensch und Tier gleichermaßen. Keineswegs aufgedrängt, aber sehr still daherkommend, ist der Film so zugleich eine Botschaft für mehr Empathie gegenüber unseren Mitgeschöpfen. Enyedi sagt [o]:

Ich weiß nicht, wie ich Seele eigentlich definieren soll. Aber eins kann ich sagen: Wenn wir Menschen eine Seele haben, dann haben auch die Tiere eine. [...] Zu den verschiedensten Kulturen gehören unlogische, beklemmende und schockierende Bräuche als wesentliche Merkmale. Unsere Kultur beinhaltet den Anspruch, Tiere töten zu dürfen.

Schließen möchte ich mit einem Zitat der Regisseurin über ihre Hauptdarstellerin [o]:

In Ungarn haben viele Menschen, die sie aus dem Theater kennen, Alexandra Borbély im Film gar nicht erkannt. Die Reaktionen lauteten typischerweise: „Wer ist diese erstaunliche junge Schauspielerin? Die habe ich noch nie gesehen!“ [...] Im wahren Leben und den meisten ihrer Rollen ist Alexandra Borbély eine ausgelassene, extrovertierte, dynamische, heiße, erotische junge Frau. Ich weiß auch nicht, wieso ich dachte, dass sie die richtige sei – vielleicht weil ich großes Vertrauen in ihr Talent habe. Ich denke, sie ist nicht einfach nur eine sehr gute Schauspielerin, sondern sie ist eine der wenigen großen Schauspielerinnen. Sie musste tief in sich hineintauchen und diese Maria aus ihrem Inneren erschaffen. Es war für mich einzigartig zu sehen, wie sie arbeitet. Ich hatte in meiner Karriere immer wieder das Glück, mit großartigen Schauspielern arbeiten zu können (beispielsweise den beiden besten Tarkovskij-Schauspielern), aber Alexandra bei der Arbeit zuzusehen war etwas, das ich noch nie erlebt hatte. Dieser scheinbar einfache Film war der schwierigste, fragilste von allen.

So einfach, so schwierig und so fragil wie das Leben selbst – und dieser Film ist eine einzige Hymne an das Leben.