07.11.2017

Vom Verlust der Zartheit

Gedanken zu einer tiefen Tragik.


Inhalt
Vom Ernst der Begriffe
Unvereinbare Gegensätze
Kinder als Kollateralschaden
Verachtung und Unfähigkeit
Wehrlosigkeit als Verhandlungsmasse
Schamlosigkeit als Prinzip
Zarte Not-wendigkeit


Vom Ernst der Begriffe

Nach dem Fall Weinstein wurde und wird wieder viel diskutiert. Über das Verhältnis von Frauen und Männern. Über das, was Männer dürfen und was sie nicht dürfen. Und mitten in dieser wichtigen und notwendigen Debatte scheinen dann einige wenige kleine Sätze auf wie Lichtperlen. Im heutigen Tagesspiegel schreibt Peter von Becker unter der Überschrift ,Sex, Gewalt – und Liebe’ und dem Untertitel ,Die Geschichte zwischen Männern und Frauen bedarf einer Revolution’ [o]:

Viel eher aber fehlt in der Debatte die Frage, ob eine freie, selbstbestimmte Sexualität zwischen Männern und Frauen (oder gleichgeschlechtlichen Partnern) nicht ein Gespür wieder entwickeln müsste für Scham, Scheuzeit, Zartheit. Gar nicht zu schweigen von: Liebe. Von ihr ist bezeichnenderweise überhaupt nicht die Rede.

Selbstverständlich kann von Liebe nicht die Rede sein, wenn ein Mann Frauen belästigt und sie unter Ausnutzung ihrer Abhängigkeit zu irgendwelchen sexuellen Handlungen zu bringen versucht. Aber für das Aufwerfen dieser Frage und vor allem für den allerersten Satz muss man Peter von Becker wirklich dankbar sein. Denn das, was er hier auszusprechen wagt, ist eigentlich das alles Entscheidende. Hier sind heilige Begriffe ausgesprochen – die schon von unserer ganzen Zeit verspottet und niedergewalzt werden.

Wie ernst eine Zeit bestimmte Begriffe nimmt, das sagt unendlich viel, eigentlich alles über sie aus. Aber kann unsere Zeit – weit entfernt davon, sie ernst zu nehmen – mit solchen Begriffen wie Scham, Scheuheit oder Zartheit überhaupt noch etwas anfangen?

Und was würde dies überhaupt bedeuten: anfangen? Es bedeutet gewiss nicht, viertelherzige Zugeständnisse zu machen und beflissen zu nicken, dass man intellektuell schon noch weiß, dass diese Begriffe irgendeine Bedeutung haben, vielleicht auch eine schöne. Wahrhaftig wäre, sich einzugestehen, wie gering oder gar nichtig die Bedeutung dieser Begriffe und Realitäten im eigenen Seelenleben ist – was gleichbedeutend damit ist, dass man mit ihnen real so gut wie nichts mehr anfangen kann. Denn sonst würde man anfangen, ihre Realität in der eigenen Seele zu verwirklichen – oder zumindest eine Sehnsucht danach zu empfinden, wodurch man sie ebenfalls innerlich zu verwirklichen beginnen würde.

Scham, Scheuheit, Zartheit...

Das sind nicht einfach nur Worte oder Begriffe, nicht einmal eine ,Einstellungsfrage’. Diese Worte bezeichnen eine Seelenstimmung. Man kann mit ihnen nur dann wieder etwas anzufangen beginnen, wenn man beginnt, überhaupt seine Seele zu spüren, zu empfinden. Das wäre schon der erste Schritt zu einer neuen Zartheit. Und die Seele müsste dann beginnen, den Gehalt, das Wesen dieser Worte wieder zu spüren. Denn es ist die Seele, die eine Scham, eine Scheuheit, eine Zartheit empfinden kann. Es sind Empfindungsqualitäten, es ist eine ganz bestimmte Art, zu empfinden. Nicht schamlos, sondern mit einer Art heiliger Scham. Nicht plump und vulgär, nicht körperbetont, sondern scheu... Nicht grob und direkt, sondern zart.

Unvereinbare Gegensätze

Das Mysterium dieser Empfindungen ist nur von der Seele zu ergründen – denn sie empfindet diese Stimmungen ... oder aber nicht. Und zu diesem Mysterium dieser heiligen Empfindungen der Scheu, der Zartheit, der zarten Scham gehört, dass sie selbst schon Liebe sind. Sie sind Liebe in einer Art heiligem Keimzustand. Aber auch das kann man wieder nur empfinden.

Das Grobe, Vulgäre, Direkte, Schamlose – da versteht und empfindet man sehr genau, welchen Charakter dies hat. Von Liebe kann man hier nicht sprechen, allenfalls von Begierde, Trieb und Lust. Man ist in jener Sphäre, wo der Wille unterhalb des Vollmenschlichen leibgebunden wirksam ist – und daher lieblos wird, weil er sich nur um seine eigene Befriedigung kümmert, während das Gegenüber im Wesentlichen nur dieser Befriedigung dient, also zum Objekt wird. Das Seelische mag sehr wohl mitspielen, aber es ist selbst abgestumpft und pervertiert, es unterwirft sich den körperlichen Begierden, die es als solche kultiviert, wobei es eine Lust an seiner eigenen Schamlosigkeit und Vulgarität hat – oder aber diese überhaupt nicht erkennt oder aber beides.

Eine völlige Gegenbewegung der Seele ist nun jedoch diese andere. Die Scham... Die Scheuheit... Und die Zartheit... Hier findet die Seele überhaupt erst ganz zu sich selbst. Nicht die Leibesempfindungen dominieren, sondern die Empfindungen der Seele selbst. Und dies macht die Seele schön. Die Schönheit der Seele sind gerade ihre scheuen, zarten, schamhaften Empfindungen. Hier liegt eine heilige Sphäre...

Die Blickrichtung ist eine völlig andere. Und auch das muss man empfinden, um dem Mysterium dieser Seelenstimmungen auf die Spur zu kommen. Vulgäre Grobheit – zarte Scheuheit... Im ersten Fall stellt sich der Wille vulgär und grob ins Zentrum, es ist eine zutiefst selbstbezogene, ja selbstsüchtige Bewegung. Ein vulgäres, grobes In-der-Welt-Stehen. Vulgär nähert sich der Mann dann der Frau, die seine vulgäre Seele gerade begehrt. – Im anderen Fall aber stellt sich der Wille nicht etwa zart und scheu ins Zentrum, er stellt sich gar nicht ins Zentrum. Es ist umgekehrt. Diese Seelenempfindungen stellen den Umkreis ins Zentrum und wenden sich ihm scheu und zart zu. Und darum sind sie Liebe, noch bevor sie Liebe im engeren Sinne sind. Denn diese heiligen Seelenempfindungen sind von ihrem Wesen her selbstlos – und gerade das ist das Wesen von Liebe.

Man kann es sogar noch deutlicher sagen: Bevor die Seele nicht diese Empfindungen wieder kennenlernt, die der Scheu, der zarten Scham, der Zartheit überhaupt, wird sie niemals die wahre Liebe kennenlernen, sondern immer nur auf ihrer selbstbezogenen und körperbetonten Stufe stehenbleiben.

Und nun kann man vielleicht empfinden, wie wesentlich diese Worte, dieser eine Satz in dem erwähnten langen Artikel waren. Sie waren und sind das Entscheidende. Ohne diese Empfindungen wird die ganze Frage keine Fortschritte finden. Denn man wird vielleicht lernen, seine vulgären Seelenregungen nicht auszuleben, zumindest nicht ungefragt Grenzen zu überschreiten, aber es wird nichts an die Stelle dieser vulgären Empfindungen treten. Allenfalls und bestenfalls begegnet man dem anderen Geschlecht dann empfindungslos, wissend, ,dass man nichts darf’ – aber die Seele hat sich ja kaum oder gar nicht verwandelt. Die Seele verwandelt sich nur dann, wenn sich ihre ganzen Empfindungen von Grund auf verwandeln. Und die von Peter von Becker genannten Begriffe sind der heilige Schlüssel zu dieser Verwandlung...

In jedem meiner Bücher geht es eigentlich um nichts anderes als um diesen heiligen Schlüssel.

Kinder als Kollateralschaden

Die herrschende Schamlosigkeit, die heute das gesamte Weltgeschehen prägt, insbesondere aber auch die Beziehung zwischen Mann und Frau, im Hinblick etwa auch auf Werbung und Internetangebot, hat nun auch Folgen auf Kinder. Es ist doch ein Armutszeugnis für unsere Welt und unsere Bewusstseinsstufe, dass wir diese Frage völlig verdrängen, oder – wenn wir dies nicht tun –, wie vulgär und arrogant wir uns über diese Tatsache hinwegsetzen. ,So ist die Welt nun mal’. Ja, ist sie das? Dann ist vielleicht genau das das Problem...

Mit vollem Recht geht Peter von Becker auch darauf ein. Er schreibt, dass es in der jetzt neu entfachten Debatte also nicht um Scheuheit und Zartheit geht, aber sehr wohl um Respekt [o].

Ein Schlüsselbegriff ist dagegen Respekt. Doch soll Respekt nur zwischen volljährigen Sexualpartnern gelten? [...]. [V]erletzt eine ansonsten weitgehend tabulose Erwachsenenwelt nicht auch ohne direkte Übergriffe die Welt der Kindheit?

Und natürlich tut sie das, fortwährend, jeden Tag, jeden Augenblick. Sie verletzt die Kindheit. Sie ist fortwährend übergriffig, weil sie die Existenz der Kinder überhaupt nicht berücksichtigt. Eine Sintflut von Pornomaterial im Internet? Sollen sich doch die Eltern um geeigneten Schutz kümmern. Halbnackte Frauen auf Plakaten und im Fernsehen? Sollen die Eltern es ihren Kindern doch irgendwie erklären... Sobald etwas legal und normal ist, haben die Kinder keine Chance. Sie sind Kollateralschäden – allem ausgesetzt, wovor sie eben nicht richtig geschützt wurden und auch nicht geschützt werden können. Kinder müssen heute in einer übersexualisierten Welt aufwachsen – und niemand hat an sie gedacht. Gegenüber den Kindern gab es angesichts dieser ganzen Entwicklung in keinem Augenblick Respekt. Die Erwachsenen haben ihre schmutzige Entwicklung einfach immer weiter vorangetrieben. Immer unter dem Motto ,Das ist nun einmal so’ – wenn an die Kinder überhaupt einmal kurz gedacht wurde. Stattdessen werden Kinder in die sexualisierte Welt mit einbezogen – indem zum Beispiel schon vierzehnjährige Mädchen als Models durchsichtige Kleider zur Schau tragen können, mit nichts darunter.

Verachtung und Unfähigkeit

Nur ein weiterer Aspekt einer ganzen Kultur der Empfindungslosigkeit sind die brutalen Auswüchse des tatsächlichen schweren Missbrauchs – gegenüber denen dann sogar die Übergriffe eines Weinstein als bloße ,Kavaliersdelikte’ wirken.

So wurden etwa in Mittelengland über viele Jahre hinweg (und sicher immer noch) weit über eintausend Mädchen von pakistanischen ,Grooming’-Banden missbraucht, die die Mädchen systematisch abhängig gemacht haben [o].

Schon das Wort zeigt die ganze Perversion. ,Grooming’ bedeutet eigentlich Striegeln, Fellpflege, aber auch Vorbereiten, Präparieren. In Bezug auf den Missbrauch bedeutet er nun das Sich-Erschleichen des Vertrauens eines Mädchens – um es dann systematisch in eine Abhängigkeit zu führen. Hierbei muss man empfinden, dass Vertrauen die reinste und verletzlichste Empfindung ist, die eine menschliche und gerade eine junge Seele überhaupt haben kann. Eine solche heilige Empfindung kann man nur missbrauchen, wenn die eigene Seele bereits völlig degeneriert ist. Hier stehen wir wirklich vor zutiefst bösen, dunkelsten Seelenregungen.

Welche Brutalität damit einhergeht und wie schnell dies alles aber auch möglich ist, zeigt sehr beklemmend der ARD-Film ,Ich gehöre ihm’, der im Abendprogramm vom 30.08.2017 lief und in der Mediathek noch bis zum Monatsende zu sehen ist [o].

Man sollte dann aber auch einmal versuchen, tief zu empfinden, wie dieses Furchtbare nur die Spitze eines Eisberges ist – nicht etwa ein völlig isoliertes Verbrechen, sondern auch, unter anderem, Folge einer ganz erkalteten Kultur, in der noch vieles andere geschieht, was auf dem gleichen immer weiter fortschreitenden Verlust der Empfindungsfähigkeit und damit auf dem Verlust von Scheuheit und Zartheit beruht. Es geht um den Verlust eines sehr heiligen seelischen Empfindens selbst, noch deutlicher gesagt: um den Verlust des Seelischen selbst.

Die Verachtung, die in diesen Taten liegt, entspricht einer Unfähigkeit, überhaupt noch reine Empfindungen zu haben. Die Grooming-Verbrecher betrachten andere Menschen, sogar die verletzlichsten, nämlich minderjährige Mädchen, nur noch als bloßes Objekt, als Geld- und Lustquelle. Aber die Degradierung der Umwelt zum Objekt ist unserem heutigen Blick und unserer gegenwärtigen (Un-)Kultur immanent.

Wehrlosigkeit als Verhandlungsmasse

Eine weitere ,Meldung’ von heute kommt aus New York. Zwei Drogenermittler der New Yorker Polizei (NYPD) sollen eine Achtzehnjährige festgenommen und danach im Dienstwagen vergewaltigt haben. Vor Gericht plädierten sie auf nicht schuldig, traten andererseits aber gestern vom Dienst zurück. In der Meldung heißt es weiter [o]:

Die Verteidiger der Männer argumentierten [...], die Staatsanwaltschaft schenke den "unbestätigten" Anschuldigungen der Frau zu viel Glauben und legten nahe, es habe sich um einverständlichen Sex gehandelt.

Ist das nicht völlig absurd und pervers – also schon das System selbst? Wir sind inzwischen dahin gekommen, dass der ,Rechtsbeistand’ eines Menschen die abseitigsten Behauptungen heranzieht, nur um den Mandanten um jeden Preis so weitgehend wie möglich zu ,verteidigen’ und zu ,entlasten’. ,Verteidigung’ wird so zu Tatsachenverdrehung bis zu lügenhaften Behauptungen. Weil es inzwischen erlaubt ist, alles zu behaupten. Und die Richter haben dann zu entscheiden, was stimmt. Es geht nicht mehr um wahrhaftige Unterschiede in der Sichtweise ein und derselben Tatsache, es geht um maximale Rechtsbeugung als Auftrag.

Auch hier ist die zarte Scham, die Scheuheit – gegenüber dem anderen Menschen und gegenüber dem Wahrheitswesen, das auch eine Realität ist – völlig verlorengegangen. Wie kann es unmittelbar nach einer Festnahme – und in dem Bericht ist sogar von Handschellen die Rede – im Polizeidienstwagen zwischen zwei weit über dreißigjährigen Beamten und einem achtzehnjährigen Mädchen zu einvernehmlichen sexuellen Handlungen kommen? Wieviel Schamlosigkeit und Kälte muss ein Rechtssystem haben, um auch nur solche Behauptungen zuzulassen, ohne zu erkennen, dass hier grundsätzlich etwas falsch läuft?

Auch die böswillige, bewusste Verdrehung von Tatsachen, der jede Scheu und jede Scham fehlt, müsste ein Straftatbestand werden. Denn was wir in dem gegenwärtigen System in Kauf nehmen, ist, dass Wahrheit und Lüge völlig ungeschützt aufeinanderprallen – und dass dadurch letztlich ungezählte Täter ohne oder mit einer viel zu geringen Strafe davonkommen, weil man ihnen nicht bis ins Letzte nachweisen kann, was aber tatsächlich passiert ist! Mit anderen Worten: weil die grobe Lüge und die schamlose Überdehnung der ,Tatsachen’ straflos geschehen kann, kommen auch ungezählte Täter straflos davon. Das ist beschämend, tief, tief beschämend. Denn dadurch werden die Opfer noch einmal gestraft und gedemütigt. Sie müssen sich gegen die Lüge verteidigen, die ganz offiziell zugelassen ist – und oft können sie es nicht...

Schamlosigkeit als Prinzip

Jeder weiß, dass Sex, Geld und Macht eng zusammenhängen. Unsere Gesellschaft ist nicht aus irgendwelchen undurchschaubaren und seltsamen Gründen derart übersexualisiert, sondern es stimmt auch sonst nichts, obwohl der zivilisatorische Lack im Moment noch hält, selbst wenn er schon überall abblättert.

Nehmen wir als weiteres Phänomen und weitere Meldung des heutigen Tages die erneute Veröffentlichung der ,Paradise Papers’ mit der neuerlichen Enthüllung gigantischer Steuerfluchten ungezählter Prominenter und weniger Prominenter, weil heute ja oft selbst die Namen der Reichen und Superreichen besser geschützt werden als die Körper unschuldiger Mädchen. Harald Schumann, ein ausgewiesener Experte im Bereich des Finanzsystems, schreibt über die neuen Enthüllungen, sie [o]

[...] dokumentieren nicht nur erneut die Verachtung, mit der die globale Wirtschaftselite den Gesellschaften begegnet, denen sie ihren Reichtum verdankt. Sie belegen auch die unerträgliche Kumpanei, mit der die demokratisch gewählten Regierungen der Wohlstandsländer des Westens dieser Verspottung des Gemeinwohls Vorschub leisten.

Wann fangen wir an, die ganzen Zusammenhänge zu erkennen? Wann fangen wir an, dass überall die gleiche Verachtung am Werk ist? Dass nicht eine Verachtung Mädchen missbraucht und eine andere das Allgemeinwohl und die ganze Gemeinschaft? Es mag sein, dass nicht jeder Steuerflüchtling Mädchen missbraucht, aber in seinen Taten lebt dieselbe Verachtung – und Verachtung meint hier brutale Empfindungslosigkeit für das wirkliche Wesen der eigenen Taten. Und dabei spielt es wiederum keine Rolle, ob die meisten Steuerfluchten sogar legal sind, weil es Gesetzeslücken gibt, in die man brutal hineinstößt, sondern dies zeigt wieder nur, wie krank zusätzlich (!) das ganze System ist.

Scheuheit... Zarte Scham... Überall sehen wir, wie dies abgrundtief verlorengegangen ist. Und wie sich dadurch wahre Abgründe zwischen Mensch und Mensch auftun. Denn nur die Scheuheit kann wahrhaft die zarte Brücke vom einen zum anderen Menschen sein. Sobald wir vergessen, dass wir eine Seele haben; sobald wir unsere Seele verraten und verkaufen, allein schon dadurch, dass wir sie vergessen, bricht die ganze Verbindung zwischen dem eigenen Wesen und der Welt zusammen. Aber nicht nur diese, sondern auch die Verbindung zu sich selbst.

Zarte Not-wendigkeit

Die Seele stirbt lautlos. In unserer Zeit wird sie vergessen und verloren – und darum stirbt sie. Denn ihr wahres Leben ist Zartheit und Scheu. Wo diese nicht mehr existieren, existiert auch nicht mehr das Leben der Seele, existiert auch nicht mehr die Seele. Allenfalls vegetiert sie noch dahin. Mehr und mehr animalisiert. Mit diesen Begriffen deutete schon Steiner darauf hin, was geschieht, wenn die Seele ihr heiliges Leben verleugnet und verliert.

Man nimmt die Frage nicht ernst genug, wenn man sich diesen entscheidenden Punkt nicht klarmacht. Ein Wort, das sogar schon aus unserem Wortschatz völlig verschwunden ist, bezeichnet das eigentliche Leben der Seele!

Man nimmt dies alles nicht ernst genug, wenn man meint, wenn man nur empört genug über die Steuerflucht der Superreichen und über den verbrecherischen Missbrauch der Allerschlimmsten sein muss, um meinen zu können, man selbst hätte noch eine Seele. Natürlich hat man noch eine Seele – und sogar der Reichste und der Kinderschänder haben noch eine. Es ist immer nur die Frage, was man seiner Seele antut. Die Empörung mag entlasten, man mag sich durch sie auf der ,richtigen Seite’ wissen. Aber auch in der eigenen Seele ist der Seelentod im Gange. Auch in der eigenen Seele werden die heiligsten Empfindungen entheiligt, geleugnet, verspottet – und geschändet.

Wo ist die Zartheit? Wo ist die Scheuheit? Wo ist das zarte, scheue Leben der Seele? Ein Leben, das der wahre, der tiefe Keim und auch Quell der Liebe ist?

Diese unendlich heiligen Regungen der Seele, sind eine zarte Not-wendigkeit. Sie würden die Not wenden, die Not der eigenen Seele und die Not der Gegenwart überhaupt, die Not des Mitmenschen und der ganzen Mitwelt. Auch diese wird geschunden und geschändet.

In Bonn hat die Klimakonferenz begonnen. Niemand kann mehr leugnen, dass auch hier, im Bereich des Klimas, dramatische Folgen drohen. Doch wird dies die Staats- und Regierungschefs zu mehr Mut ermutigen – oder werden nur die Egoismen zunehmen, der Kampf gegeneinander, Aller gegen Alle? Tatsache ist, dass überall da, wo in der Seele Scham, Zartheit und heilige Scheu aufleben, das wahre Wesen des Verständnisses aufleben würde, die wahre Kraft der Liebe – und ein wahrer, unüberwindlicher Wille zum Guten. Dies würde die Not sofort wenden – und nur dies kann sie wenden.