23.12.2017

Michael, Christus und das Mädchen

Über das heilige Wesen des Mädchens.


Inhalt
Von den Jungen
Michael und Christus
Gut und Böse und die Liebe der Engel
Ernst und Liebe
Michael und das Mädchen
Christus und das Mädchen
Das Wesen der Sanftheit
Die Erlösung des Bösen


Von den Jungen

Die heilige Gestalt des Mädchens ist es, auf die ich immer wieder hinweise. Gegen das Heilige regt sich dann oftmals Widerstand – oder aber Desinteresse. Die Frage ist, ob dies immer noch so wäre, wenn man sich denselben Gedanken aus eigener Kraft einmal hingäbe. Denn man kann sich ja auch mit dem eigenen Herzen in diese heiligen Sphären hineinbegeben.

Ein Widerstand kann sein, dass in meinen Versuchen des Hinweisens der heilige Gegenpol des Jungen oder Mannes so wenig vorkommt. Nun, auch diesen könnte jeder in sich selbst zu finden versuchen. Vielleicht wäre es, so wie ich das Buch „Von den Mädchen“ und sogar „Der Weg des Mädchens“ schrieb, gerade die Aufgabe einer Frau mit tiefem Empfinden, ein Buch „Von den Jungen“ und sogar „Der Weg des Jungen“ zu schreiben.

Kann ein Junge genauso unschuldig sein wie ein Mädchen? Denken wir einmal an Parzival. Der reine Tor – im Sinne einer absoluten Unschuld des Nicht-Wissens, des reinen Staunens, der völligen Unbeflecktheit durch Weltwissen und Welturteile. Man könnte sich eine Parzival-Seele vorstellen, die für immer staunend durch die Welt geht und sich von allem in reinem, unschuldigem Staunen berühren lässt.

Aber was geschieht mit Parzival dann weiter? Er sieht einen Ritter in blitzender Rüstung – und nun will er auch ein Ritter werden. So lebt in ihm doch dieses Begeisterungsfähige, Vorwärtsdrängende, ein Willenselement, das dem Männlichen eigen ist. Parzival ist eben doch ein „Junge“ – ein Junge will ein Ritter werden, er will hinaus in die Welt, er will Ruhm und Ehre erringen, eine strahlende Rüstung haben und sich beweisen... Das sind gewissermaßen Urbilder, die nicht unbedingt als unmittelbares Bild genommen werden wollen, sondern die ihre Wahrheit beweisen, wenn man sie als Empfindungen in die Empfindung hineinnimmt. In ihnen liegt tief wahrheitsgemäß, wie ein ewiges Geheimnis, was ein Junge ist.

Aber was ist ein Ritter dann? Ist ein Ritter jemand, der plündernd und brandschatzend durch die Lande zieht – oder ist ein Ritter jemand, der sein Tun und Leben einem edlen Ideal wie dem der Gerechtigkeit, des Großmuts, dem Beistand für die Schwachen weiht? Dem Schutz des und der Treue gegenüber dem König, der Königin?

Und wieso kann ein Ritter dies? Weil er stark ist. Mit Stärke kann er den edlen Idealen dienen. Hinzu kommt sein Mut, kommt seine Treue – aber sie ruhen auf seiner Stärke. Einen schwachen Ritter hat man noch nicht gesehen...

Nun gibt es das Gegenbild der Johanna von Orleans, die als Mädchen, als gleichsam mannhafte Jungfrau, die Franzosen von den Engländern befreite. Aber dies konnte sie nur, weil sie sich ganz der Führung Michaels hingab – seiner inneren Stimme und seinem Beistand. Man kann sagen, Michael selbst gab ihr den Mut – und auch den Auftrag. Man stelle sich ein Bauernmädchen vor, das nicht von dem Erzengel „heimgesucht“ worden wäre. Nie hätte sich ein Mädchen in den Krieg eingemischt!

So haben wir als zwei heilige Pole die heilige Gestalt des Mädchens – und das heilige Wesen eines Erzengels, Michaels.

Michael und Christus

Michael offenbart gleichsam alle Qualitäten, Kräfte, Wesenszüge, die das Männliche heiligen... Denken wir an das Urbild Michaels mit dem Drachen und durchdringen dieses mit erlebendem Empfinden.

Michael tötet den Drachen nicht, nicht in jenen Bildern, die in das Spirituelle gehen – etwas anderes ist der irdische Georg, der Drachentöter –, sondern er besiegt ihn nur. Er unterwirft ihn, er hält ihn „in Schach“, er lässt es nicht zu, dass der Drache einen einzigen Fußbreit setzt, den er nicht setzen darf. Michael hält das heilige Reich der Himmel frei von der Macht des Drachen.

Auch Michael kann dies nur aufgrund seiner Stärke. Der Drache würde ihm nicht freiwillig gehorchen. Am liebsten würde er Michael und seine Scharen hinwegfegen – aber er muss dem Erzengel gehorchen und sich ihm beugen, weil seine Macht nicht groß genug ist, Michaels Macht ist stärker...

Michaels Macht beruht also auf seiner Stärke. Da wir in der geistigen Welt sind, ist dies Geistesstärke – es ist ein Geisteskampf. Aber dies hat seine Entsprechung auf Erden durchaus auch in der physischen Stärke. Auf Erden braucht ein Ritter auch physische Stärke, um seinem König zu dienen und dem Bösen zu wehren. Und er ist ein Ritter, wenn er diese physische Stärke dem Guten weiht.

Ich habe mich oft gefragt, wie die Geste Michaels und das Wesen von Christus in einen Zusammenhang zu bringen sind. Michael ist der Diener Christi. Aber als Christus auf Erden wandelt, wird er selbst zum Dienenden und dadurch zum Erlöser. Christus wehrt dem Bösen nicht, er bricht sogar mit dem, der Ihn verraten wird, das Brot – und er sucht die Verlorenen auf, um mit Seiner Liebe die zu heilen, die von allen anderen gemieden und verachtet werden.

Wie geht dies zusammen?

Und auf der anderen Seite wehrt Christus eben doch manchmal dem Bösen – etwa, wenn er die Tische der Wechsler umstößt und mit aller Schärfe die Gottlosigkeit ihres Tuns geißelt.

Aber ... zum einen hätte Er gleichsam nichts tun können, wenn sie am anderen Tag ihre Tische genau so wieder aufgestellt hätten – und vielleicht haben sie das auch getan. Und zum anderen hätte auch ein Mädchen die Tische umstoßen können. Ich habe dies im „Gespräch der Seele mit dem Mädchen“ angedeutet.

Gut und Böse und die Liebe der Engel

Das Umstoßen der Tische der Wechsler war eine Zeichentat, sie sollte etwas zeigen, die Augen und die Herzen öffnen. Sie beruhte auf momentaner Stärke – und Jesus war auch durch alles Vorangegangene anerkannt und auch gefürchtet, aber eben auch durch die männliche Inkarnation. Ein Mädchen wäre gleich wieder aus dem Vorhof des Tempels hinausgejagt worden.

Die eigentliche Botschaft und das eigentliche Wesen von Christus aber ist die Liebe. Aber mit Liebe allein kann die geistige Welt nicht heilig und vom Bösen freigehalten werden, wenn dessen Entstehung erst einmal zugelassen wurde. Ihm muss dann auch mit Macht gewehrt werden, das zu tun, was es nicht darf. Und so stürzt Michael den Drachen auf die Erde – denn dort soll er wirken dürfen. Die Menschen sollen zwischen Gut und Böse wählen dürfen.

Auch Christus ist nicht indifferent gegenüber dem Bösen. Er geht zu den Verlorenen und Gefallenen – die Liebe selbst naht denen, die nicht mehr an sie geglaubt haben. Aber nun entscheidet sich noch immer, was der Mensch dann tut. Wenn er glaubt und wenn er sich erlösen lässt, dann wird er erlöst. Wenn er aber die Liebe noch da, wo sie vor ihm steht, abwehrt, so kann selbst Christus nichts tun.

Und so gibt es also die Möglichkeit des Menschen zur völligen Abkehr – und so hat Christus trotz allem in der Apokalypse das Buch, in dem die Namen der Lebenden aufgeschrieben sind. Die Freiheit des Menschen bedeutet auch dies: die Konsequenz, dass sich der Mensch für die dauerhafte Umarmung der Widersacher entscheidet und damit für den seelisch-geistigen Tod...

Christus ist tiefste Liebe und ernste Konsequenz in einem. Er kann die Liebe bringen – aber er kann es dem Menschen nicht abnehmen, die Liebe auch anzunehmen und selbst liebend zu werden... Diese Liebe ist etwas, was nur in Freiheit aufgenommen und gleichsam entzündet werden kann. Gerade deshalb ist sie so einzigartig im ganzen Kosmos. Denn die höheren Wesenheiten hatten und haben diese Freiheit nicht. Also haben sie auch diese Liebe nicht...

Die Engel haben auch Liebe. Aber ihre Liebe ist anders. Es ist eigentlich Treue. Der Erzengel Michael glaubt an die Menschen selbst dann noch, wenn die anderen Engel längst zu „zweifeln“ beginnen, ob der Mensch denn noch zur Vernunft kommen und umkehren könne. Aber diese Liebe Michaels zu den Menschen ist ganz wesentlich Treue Michaels gegenüber Christus – denn er sieht die Liebe von Christus zu den Menschen. Die Christus-Liebe ist bedingungslos und groß wie das Weltenall, und dieses Liebe-Wesen ist jetzt mit der Erde verbunden und trägt alles (alles Erdenleid!), hofft alles und glaubt alles... Christus glaubt an die Menschen, obwohl die Menschen nicht mehr an ihn glauben! Das muss man sich einmal vorstellen und tief empfinden. Und Michael sieht dies – und ist ihm treu und glaubt auch...

Das ist die Liebe der Engel. Es ist ihre Aufgabe – weil sie sehen, was das höchste Gotteswesen tut...

Ernst und Liebe

So dient Michael also Christus, indem er das heilige Reich des Geistes von den Widersachern freihält – Michaels Aufgabe ist die Scheidung der Geister. Als Hüter der kosmischen Intelligenz verhindert er treu jede Vermischung – solange er der Hüter ist, wird sie nicht herabgezogen, nicht vergiftet, nicht geschändet. Sie bleibt heilige Sophia.

Wahrheit und Liebe sind zwei verschiedene Dinge. Erst auf ihrer höchsten Stufe werden sie eins. Man kann aus Liebe die Wahrheit verfälschen, und man kann die Wahrheit lieblos vertreten. Michael ist der Geisteskämpfer – er steht für die Treue gegenüber dem Reich der Wahrheit, auch für den vollen Ernst. Denn Ernst in der geistigen Welt bedeutet gerade Treue und Hingabe. Das ist Michaels Demut – die ganz einhergeht mit seinem Mut.

Christus kann nur erlösen, wenn die Seele zu spüren beginnt, worauf es ankommt. Und umgekehrt kann sie zu spüren beginnen, worauf es ankommt, wenn Christus sich ihr naht. Es ist ein wechselseitiges Geschehen – und dennoch hängt alles davon ab, dass die Seele den Ernst zu spüren vermag. Durch Christus kommt die Seele von selbst zu Michael – oder sie verliert auch Christus wieder. Und umgekehrt: Durch Michael kommt die Seele zu Christus.

In jedem Fall führt die Durchchristung der Seele durch das Tor des Ernstes. Ernst ist nicht das Gegenteil von Freude, Ernst ist nicht Freudlosigkeit. Ernst ist das Gegenteil von Beliebigkeit, Unwichtigkeit und Oberflächlichkeit. Ernst hat etwas mit Entscheidung zu tun. Mit einem Sich-Entscheiden der Seele – und dann auch mit Hingabe. Man „bekommt“ Christus nicht ohne Michael. Nicht in Wahrheit...

Erst, wenn die Scheidung der Geister sich vollzogen hat, kann die Seele Christus ganz nachfolgen. Denn „man kann nicht zwei Herren dienen“. Die moderne Seele möchte dies gern – und so folgt sie Christus allenfalls halbherzig oder sogar viertelherzig und noch weniger, sich dennoch das Gegenteil einbildend. Michael ist in gewisser Weise hart und unerbittlich – in Wirklichkeit aber ist dies gerade seine unsägliche, unerschütterliche Treue. Treu ist er allen guten Mächten, und unerbittlich ist er gegen alle Versuche des Widersachers, seine gottlose Macht auszuweiten, um das Heilige zu vergiften und zu vernichten. Michael scheidet die Geister und weicht keinen Schritt zurück. Er bleibt seiner Aufgabe treu – und so dem, der ihn an diese Stelle gestellt hat.

Die Scheidung der Geister findet nicht nur in der geistigen Welt und auch in der äußeren Welt statt, sondern gerade auch im eigenen Wesen. Hier, in der Seele, wirken ja diese Mächte. Und solange die Gegenmächte in der Seele wirksam sind, dient die Seele eben diesen – entweder ganz unbewusst oder, wenn sie sich ehrlich befragt, oft durchaus auch sehr, sehr bewusst genug. Die Seele ist eben dann in vielem noch viel zu bequem, um sich zu entscheiden. Sie will sich eben auch dem anderen „Liebhaber“ hingeben, der ihr so angenehm ist – und will sich nicht eingestehen, wie groß dadurch ihre Untreue wird.

Die Liebe aber, die mit Christus verbunden ist, ist immer nur so groß, wie sich die Seele ihr ganz hingibt und sie ganz in sich aufnimmt – ohne bereits mit so vielem anderen angefüllt zu sein, was die heilige Liebe gerade verneint.

Michael und das Mädchen

Und nun kehre ich zurück zu dem Mädchen. Denn in dem Mädchen ist gar kein Hindernis, was die Liebe verneint. Dies gerade ist das Wunder des Mädchens – dieses reine Herz.

Selbst wenn die Liebe nicht verneint würde, müsste sie ja erst einmal da sein. Parzival hat in sich kein Hindernis für die Liebe – als reiner Tor ist er vollkommen unschuldig. Und doch ist er eben nur ... reiner Tor.

Das Mädchen aber ist wirklich ... reine Liebe. Und dies ist vielleicht der wesenhafteste Unterschied zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen: das Männliche ist noch mehr in die Indifferenz gestoßen, sei es in den Leib, sei es in den Kopf. Das Mädchen ist viel mehr Herz und Empfindung, und zwar leibfreier als der Junge. Man könnte sagen, der Junge ist vor allem Kopf und Leib oder Kopf und Hand – aber das Mädchen ist Herz und Seele...

Und so lebt in dem Mädchen das Wunder der Hingabe und das Wunder der Liebe und des Mitleids. All dies sind Offenbarungen desselben Geheimnisses. Hingabe ist Liebe, und Liebe ist Hingabe. Mitleid ist liebende Hingabe, und liebende Hingabe ist unmittelbar Mitleid. Das alles ist das Wesen des Mädchens.

Und der Junge? Er ist mehr hilfloses Herumstehen oder aber vernünftiges Handeln. Er handelt auch tatkräftig – aber er weiß viel mehr, was das Gute ist, und das Mädchen fühlt dies viel unmittelbarer. Der Junge weiß, was er fühlen sollte. Das Mädchen fühlt, was es vielleicht manchmal auch klarer wissen sollte. Und dennoch hat das Herz seinen eigenen Verstand und seine eigenen Gründe, die der Verstand nicht kennt (Blaise Pascal: „Le cœur a ses raisons que la raison ne connaît pas.“). Und es ist eine gerade michaelische Tatsache, dass das Herz auch Gedanken haben kann.

So ist gerade das Mädchen auch Michael innig verbunden, denn sein Empfinden ist in all seiner Güte ernst, tief und treu. Damit aber ist das Mädchen wie Michael selbst dasjenige Wesen, das Christus am innigsten dient – ob es dies nun weiß oder nicht. Es wäre gerade die Aufgabe des Jungen, auch noch zu „wissen“.

Das Mädchen bewahrt in seinem Herzen ein absolutes Heiligtum. Es wäre eine Anthroposophie, dieses Heiligtum zu einem Wissen zu erheben – ohne das unbeschreiblich Heilige der wesenhaften Liebe auch nur um einen Hauch zu verlieren. Das aber ist das „Männliche“ der wahren Anthroposophie – dass sie das Heilige zu einem erkannten Heiligen erhebt. Das ist nicht die Aufgabe des Mädchens. Das Mädchen ist gerade seiner wahren Aufgabe treu – das Heilige als solches zu bewahren. Das Mädchen trägt den ganzen Himmel in seinem Herzen. Als Einzige.

Die übrige Welt hat sich vom Himmel emanzipiert. So, wie Michael die Widersacher auf die Erde gestoßen hat, so haben die Seelen den Himmel aus ihrem Herzen gestoßen und dafür die Widersacher aufgenommen. Oder man kann auch sagen: sie haben die Widersacher aufgenommen und diese haben im Verein mit ihnen den Himmel ausgeschieden. Die Folge ist immer die gleiche: die Herzen und Köpfe sind nicht mehr eins mit dem Himmel – sie sind vielmehr oft eins mit den Gegenmächten: unheilig, profan, oberflächlich, spottend, unwahr, indifferent, lässlich, gelangweilt, unernst und, und, und. All das ist das Gegenteil von Michael – und weit entfernt von Christus. Es ist die moderne Seele.

Christus und das Mädchen

Christus – die Weltenliebe. Wenn man sich fragen würde: Liebt Christus eigentlich jeden Menschen? Dann müsste man antworten: Ja, das tut er – er liebt jeden Menschen. Wenn man aber fragen würde: Wen liebt Christus am meisten? Dann könnte man, vom Evangelium geführt, zunächst zu Johannes kommen, der ja der „Lieblingsjünger“ genannt wird. Bereits er kann als am wenigsten „männlich“ empfunden werden. Wenn man sich vorstellt, wie die Jünger darum stritten, wer wohl welchen Platz im Himmel habe, kann man sich vorstellen, dass Johannes hier überhaupt nicht mitdiskutiert hat. Dann aber kann man auch an Martha und Maria denken. Martha bereitet äußerlich alles zu, ist gleichsam ein Beispiel der „vita activa“, Maria aber sitzt zu Füßen von Jesus und hört ihm zu – ganz wie Johannes. Und Christus sagt, dass gerade dieses Eine notwendig sei, und Maria „den guten Teil“ erwählt habe. Es geht also um das Geheimnis der Hingabe. Nichts ist so wichtig wie die Hingabe an Christus, weil alles andere erst aus diesem einen heiligen Schritt folgen wird.

Und so sind wir wieder bei dem Mädchen. Wen liebt Christus am meisten, könnte man fragen – und fern jedes Neides, der die Jünger untereinander in einen Streit geraten ließ, könnte man antworten: Ich weiß es, es ist das Mädchen. Es ist weder eine intellektuelle Frage noch eine intellektuelle Antwort. Es ist eine Frage, deren Antwort nur empfunden werden kann. Man braucht die Frage auch nicht zu stellen – die Antwort ist auch so in das Buch des Lebens eingeschrieben.

Das Mädchen ist reine Hingabe und reine Liebe. Es trägt den ganzen Himmel in seinem Herzen – also auch Ihn, den Weltenschöpfer, das heilige, kosmische Liebes-Wesen, unschuldiger als jedes andere Wesen. Beide sind unschuldiger als jedes andere Wesen – Christus ... und das Mädchen. Christus, weil er der Heiler von aller Schuld ist, und das Mädchen, weil es in seinem Herzen die Unschuld mehr als jede andere Seele bewahrt hat. Und dies nicht etwa essäerhaft, sondern sich mit dieser Unschuld fortwährend allem zuwendend, weil in seinem Herzen zugleich das Geheimnis der Hingabe und Liebe lebt.

Gerade angesichts des Streites der Jünger stellte Christus ein Kind in die Mitte und sagte: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. Wer nun sich selbst erniedrigt und wird wie dieses Kind, der ist der Größte im Himmelreich. Und wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf.“ (Mt 18,3-5). Aber ein Kind ist immer unschuldig – und die Menschen sollen sicher nicht wieder kindlich werden. Aber er hätte – was in der damaligen Zeit vielleicht einfach noch nicht ging, weil die Menschen schlichtweg noch nicht so weit waren – auch ein Mädchen in die Mitte stellen können. Seine Gestalt und sein Wesen hätte offenbart, worum es in voller Wirklichkeit ging und noch immer geht.

[...] Aber das Mädchen kniete
vor der Krippe, und sie hatte
das reine Herz, das alle suchten [...].
Sie aber brauchte nicht suchen,
sondern nur fühlen, was sie fühlte,
und alles war da, denn ihr Herz
war die Schönheit, die Unschuld.

Blau-samten senkte sich die heilige
Weihnachtsnacht der Erde zu,
und ein Herz brauchte sich dafür
nicht zu bereiten, denn es war
immerwährend bereitet, es war
das Herz eines Mädchens...

Das Wesen der Sanftheit

Das Wesen des Mädchens ist Hingabe, und so ist es auch Sanftheit. Denn bereits die Hingabe ist sanft. Nicht das Ego stellt sich hart ins Zentrum – die Hingabe öffnet sich sanft dem, was sie umgibt. Hingabe ist innere Sanftheit des Sich-Öffnens – Sanftheit ist äußere Hingabe des eigenen, so sanften Wesens.

Das „Wesen“ des Mannes ist, sein Wesen einerseits viel zu sehr zurückzuhalten – und andererseits, es viel zu sehr auszubreiten. Das Mädchen dagegen ist größte Zurückhaltung und zugleich aufrichtigste Offenbarung. Das gerade ist seine Sanftheit: Äußerliche zarte Zurückhaltung und zurückhaltende Zartheit, innerlich aufrichtige Unschuld und unschuldige Aufrichtigkeit, die sich ebenfalls ganz offenbart, gerade in ihrer Zurückhaltung.

Sanftheit ist Liebe und Unschuld in zartester Zurückhaltung. Sanftheit ist die Offenbarung der Unschuld des Mädchens – sein Wesen. Man kann es auch Anmut nennen – dann empfindet man die Erscheinung dieses Geheimnisses. Ihr Wesen aber ist die unschuldige Sanftheit. Sie aber offenbart das Mädchen als unschuldigste Trägerin reiner Liebe.

Unschuld leuchtet. Es ist dieses Leuchten, was einem entgegentritt, wann immer es in Büchern, Filmen oder auch in der Realität zur Erscheinung kommt. Es ist dieses Leuchten, was in der Apokalypse mit dem „weißen Gewand“ gemeint ist. Aber all dies bleiben abstrakte Bilder, wenn es nicht mit dem Herzen empfunden, gesehen und unendlich geliebt wird.

Das Leuchten der Unschuld entzündet die Liebe ... sogar noch der Schuld und des Bösen. Das ist das Geheimnis des Mädchens. Und vielleicht haben seit jeher die Drachen die Jungfrauen geraubt, nicht um böse zu sein, sondern um gut zu werden – auch wenn sie diese innerste Sehnsucht niemals verstanden haben.

Das Böse will das Gute nur deshalb vernichten, weil es ... sich selbst hasst. Es bekämpft das Gute, weil es in ihm sieht, was es nicht mehr ist. Aber es mag der Punkt kommen, wo ihm etwas so zutiefst Unschuldiges gegenübertritt, dass noch sein dunkelstes Innerstes ... berührt wird. Dass in ihm eine Sehnsucht wach wird, die seit Ewigkeiten geschlafen haben mag und begraben worden war. Eine Ahnung davon habe ich in meinem Märchen „Der Drache und das Mädchen“ einzufangen versucht. Am Ende dieses Märchens stehen die Worte:

In tiefer Überwältigung senkte er sein Haupt und legte sich ihr zu Füßen... Ergebung floss in seinen Adern, reine Hingabe, eine Hoffnung, die keine Worte hatte. Und das Mädchen hob zögernd seinen Arm und berührte ihn sanft. Die schuppige Haut blieb gefühllos gegen die Pfeile hunderter Ritter – doch die Hand eines Mädchens durchschlug alle Abwehr und ließ das mächtige Wesen des Drachen bis ins Innerste erzittern...

Die Erlösung des Bösen

Der Buddhismus ist eine ausgesprochen weibliche „Religion“. Denn er führt auf den Weg der Sanftheit. Die Seele läutert sich von aller Selbst-Sucht und allem Macht-Trieb und wird so rein, frei von den Gegenmächten.

Ist schon die Seele selbst weiblich – anima –, so treffen in dem Mädchen mit dem reinen Herzen die innere und die äußere Unschuld in einzigartiger Einheit zusammen. Es offenbart keinerlei Stärke – jeder Knabe könnte es überwinden. Es offenbart nur eines – eine Unschuld, die „zum Himmel schreit“.

Die Unschuld des Mädchens ist ein Wunder des Herzens, das niemand sonst hat, der nicht selbst mit bis zum Himmel reichendem allertiefstem Ernst und entschlossenstem Kampf alle Widersacher in sich überwunden hat. Aber wie gewinnt man – selbst dann – wieder diese Unschuld?

Das Wesen des Mädchens offenbart eine ferne Zukunft – aber wenn dies nicht erkannt wird; wenn diese Unschuld nicht ersehnt und geliebt wird, wird es diese Zukunft niemals geben. Dann aber wird es keine Zukunft geben.

Wenn es aber diese Zukunft gibt – eine Zukunft, in der die Seelen den „Weg des Mädchens“ gehen werden, auf dem sie eine Unschuld wiederfinden, die die Herzen in unvorstellbarer Tiefe rein und liebend und die Seelen in ebenjener unvorstellbaren Tiefe leuchtend machen wird –, dann wird dasjenige möglich werden, von dem nicht einmal die Märchen sprechen: die Erlösung des Bösen selbst.

Und das Mädchen wird die reinen Herzen führen, hin zu der Höhle des Drachen, und das Mädchen wird Angst haben und doch keine Angst haben, denn es wird wissen, dass die Zeit gekommen ist. Das Böse aber wird Angst haben, denn es wird ebenfalls wissen, dass die Zeit gekommen ist. Aber das Mädchen wird selbst dem Bösen die Angst nehmen, denn es ist das Mädchen – und das Böse hat keine Angst vor dem Mädchen, nur vor seiner Erlösung... Aber wegen ihr ist das Mädchen gekommen. Und dann, wenn die Zukunft sich also erfüllt hat, erfüllt mit Kraft und unschuldigster Liebe zum Guten, dann wird sich ereignen, was jenseits aller Vorstellung liegt...

Und die Heilige Nacht ist auch ein Bild und ein Keim für diese ferne, heiligste Zukunft.