30.12.2017

Vom Wesen der Seele und ihrer Moralität

Eine Besinnung zum Jahresende inmitten der heiligen Nächte.


Inhalt
Die verlorene Tiefe des Empfindens
Das seelische Nichts
Das heilige Geheimnis


Die verlorene Tiefe des Empfindens

Ich lese manchmal alte Bücher, die als Romane eine noch ältere Zeit beschreiben. Auszüge aus einem solchen, „Größer als des Menschen Herz“ (1951) von Vinzenz Erath, habe ich vor einiger Zeit hier wiedergegeben.

Dabei berührt es mich immer wieder sehr, sehr eindrücklich, was für eine tiefe Moralität Menschen, und das heißt die Seele, damals noch hatten. Natürlich hing das alles miteinander zusammen: Ein noch ganz lebendiger Glaube (Religion), arme Lebensverhältnisse – und dann das, was wie ein gleichsam fester, unerschütterlicher Lebensbaum als Seele daraus hervorwächst.

Man kann das mit Worten heute kaum noch beschreiben, dass es auch wirklich verstanden wird, denn selbst Verstehen allein nützt ja nichts, sondern es muss empfunden werden – die völlig andere Realität des Innerlich-Seelischen, als einer Welt, die allem Tun, Wollen, Fühlen, Denken eine Färbung gibt – eine Färbung, in der fortwährend lebendige, tiefe Moralität lebt. Ein tiefes Wollen des Guten, das sozusagen das ganze, eigentliche Leben der Seele ist, aber nicht nur als flüchtig-seelisches Dahinwehen, sondern als dasselbe, was in der äußeren Welt sozusagen dieser feste, unerschütterliche, kräftige Baum ist, der noch einen Orkan aushalten würde...

Ein Beispiel für das hier Gemeinte gibt auch der Roman „Der schmale Weg zum Glück“ von Paul Ernst (1926). In diesem kommt der Sohn eines Försters zum Studium nach Berlin – und er hat noch ganz aufrichtige, lebendig-menschliche Empfindungen, etwa was so ein scheinbar Kleines wie das Trinkgeld angeht:

Den ganzen Abend quälte sich Hans mit dem Gedanken, daß er nachher der Kellnerin ein Trinkgeld geben sollte, denn das kam ihm unzart und beleidigend vor, weil es nicht mit Herzlichkeit geschehen konnte und deshalb keine Freundlichkeit war, die den Empfänger zu ihm in solche menschliche Beziehung brachte, daß dessen menschliche Würde die gleiche blieb, sondern er hatte das Gefühl, daß er das Mädchen dadurch unter sich drückte, ebenso wie am Mittag den Kellner und vorhin den Musiker. Viel Schmutz muß ein Mensch erst an seinen weißen Kleidern haben, bis er gleichmütig das Geldstück in die vorgestreckte Hand eines dienernden Menschen gleiten läßt und unbewußt jede Liebenswürdigkeit, die ihm ein Niedrigerstehender erwiesen, durch eine kleine Münze vergilt, statt durch einen einfachen Dank; und nicht nur seinen Bruder zieht er herab, sondern auch sich selbst.
Paul Ernst: Der schmale Weg zum Glück, Deutsche Buch-Gemeinschaft 1926, S. 123.

Eine solche winzige Szene macht mehr erlebbar als tausend Worte, wenn ihr innerer Gehalt wirklich empfunden wird – mit einer Seele, die sich meilenweit jeden Spottes enthalten kann, um sich nicht selbst zu belügen.

Man kann alles, so etwa auch den „naiven Christenglauben“ früherer Zeiten, natürlich verspotten, das ist ja furchtbar einfach. Tatsache aber ist, dass die heutige Menschheit und die heutigen Seelen mit einem Nichts dastehen, einem wirklichen Nichts. Und daraus geht dann all dies hervor, was sich zeigt: Dieses beliebige Herumsprechen, Herumanalysieren, dann auch Herumspotten, Beleidigen, als wenn das Herumschleudern der Worte und Herabsetzungen, Beschimpfungen und Verspottungen der Seele wieder eine neue Höhe geben könnte, die sie nicht hat. Aber weil sie eben fast gar nichts mehr hat, muss sie fortwährend nach unten treten, um sich oben zu halten – an einer Oberfläche, die selbst aber gar nichts bedeutet. Ich will damit nur sagen, dass mir all dies immer eindrücklicher vor Augen tritt.

Das seelische Nichts

Unsere ganze Welt steht immer mehr seelisch vor einem Nichts, und Steiner hat dies ja bereits betont, wenn er zum Beispiel sagte, dass wir in der Phrase leben, dass wir nach dem Tod gleichsam wie dünne Gerippe seelisch-geistig nicht das Geringste mehr haben, weil es im Leben nicht wachsen durfte, nicht reifen oder gar blühen, sondern weil es im Gegenteil zertreten wurde – durch ein Seelenleben, das eigentlich der Tod ist und den Tod bringt.

Die Anthroposophie ist ja kein Dogmengebilde, auch wenn sie dazu gemacht wird. Eigentlich aber war sie ganz und gar der Versuch, ein neues Seelen-Geistes-Leben zu entzünden. Und eigentlich ist sie in ihrer wahren Gestalt zugleich das wahre Menschenwesen. Aber dafür muss sich die Seele zu einem völlig anderen, eben unglaublich reinen Denken und Fühlen erheben. Schon in der Sonntagshandlung für die Kinder in der Christengemeinschaft heißt es: „Wir erheben jetzt die Gedanken und Empfindungen...“
Das liegt viel näher, als man denkt, und es ist wiederum völlig undogmatisch – und jede Seele hat einen Ort in sich, wo die Sehnsucht nach diesem lebt. Man wird nur nicht darauf aufmerksam, man lebt so dahin und kümmert sich um das Schicksal seiner Seele kaum, weil auch nirgendwo in der Welt mehr gesagt wird, dass das wichtig sei – in viel, viel tieferer Hinsicht als irgendein „Ethikunterricht“ oder die ganz „normale“ Höflichkeit. Das Bewusstsein davon, was eigentlich die Seele ist, kann wirklich völlig verlorengehen!

Alles, was wir in der Welt an Schlimmem haben, geht hervor aus den verschiedensten Arten der Unmenschlichkeit. Aber die Anthroposophie wollte gerade das wirkliche Geheimnis der Menschlichkeit bringen – einen Weg, dieses Geheimnis immer tiefer zu verstehen, zu erleben ... und zu entfalten. Bei den „Egoisten“ wird daraus, wenn es überhaupt noch einmal um die Anthroposophie geht, ein Herumreiten auf den Stellen, in denen Steiner etwas sagte, was er heute längst anders sagen würde, und das wird dann genüsslich ausgebreitet, denn man ist ja „selbstständig“ und nicht „hörig“, und man kann so recht auf dem herumtrampeln, was man in völlig anderer Weise verwenden sollte. Es ist, wie wenn man auf nährendem Brot herumtrampelt, weil einen ein nicht ganz gebackener Mehlfleck stört, der natürlich, weil er weiß ist, mit dem Ku-Klux-Klan zu tun haben muss. Die ach so selbstständige Seele kann nur noch zerstören, weil sie selbst auf dem Nichts steht und nur wieder etwas hervorbringen könnte, wenn sie sich selbst wandelte. Gerade das aber will diese moderne Seele um keinen Preis. Lieber will sie weiter sinken, mit ihrem Gift um sich spritzend.

Die „Welt da draußen“ mag auch böse sein, in Putins Russland mag viel Unmenschliches geschehen und Freiheit des Gedankens nicht geduldet werden, es mag Bereicherung, Korruption und Mord geben. Das ändert alles nichts daran, dass bei den „Egoisten“ auch keine Aufgangskräfte zu finden sind – eben im Gegenteil. Und in der seelischen Welt ist jede Beleidigung eine Art Mord oder Mordversuch. Mit Seelenaugen geschaut ist das Geschehen, das sich in dieser Welt abspielt, unglaublich hässlich und furchtbar. Und hier, in ihrer eigenen Welt, kann die Seele unglaublich schnell und tief sinken.

Man kann nicht glauben, ein edles Seelenwesen zu haben, wenn man mit Beleidigungen und spottendem Gift um sich wirft. Man kann nicht glauben, ein moralisches Seelenwesen zu haben, wenn man das Geheimnis des reinen Denkens und Fühlens verschweigt und sich nicht darum kehrt. Die moderne Seele lebt auf dünnen, brüchigen Beinchen – und immer mehr wird das ursprünglich wahrhaft Gute nur noch Lack, Behauptung, schöne Zutat. Es wird bloßer Gedanke, Konvention, Routine – aber trägt keinerlei Leben, keinerlei aufrichtige Empfindung mehr in sich. Wie eine wächserne Totenmaske behauptet es noch immer seine Anwesenheit, die aber längst eine bloße Lüge ist.

Das heilige Geheimnis

Erkenne Dich selbst! Jede Seelenwandlung besteht aus Erkennen – und Umkehr... Und inmitten dessen lebt dann das Geheimnis der Wandlung...

Es mag sein, dass eine Seele, auf diese Wahrheit ihrer Nichtigkeit gestoßen, zunächst erst recht in spottendem Hass auflodert – ihr Dunkles so noch größer und hässlicher machend. Sie mag vor (und sei es lässig unterdrücktem) Hass geradezu zerspringen, aber zerspringen würde nur ihre falsche Schale. Unter dem düsteren Feuer aber lebt in jeder Seele ein reiner Ort. Und mag das Dunkle noch so lange lodern – irgendwann wird es unter seiner eigenen Nichtigkeit zusammenbrechen, in sich selbst zusammenfallen, und unter der Asche würde noch immer der gute Kern leben, und dieser könnte nun, nach der ganzen Krisis, hervortreten. Wie klein auch immer – so klein sicherlich nicht, und nach dem Abfallen des Dunklen kann er ja nun wieder sich zu dem entfalten, was er eigentlich ist. Auch das „Kleine“ ist ja nur eine Illusion, solange der dunkle Teil sich so sehr ermächtigt. Ist das Dunkle besiegt oder gewandelt, ist das Kleine gar nicht mehr so klein. Und aus den tausend Scherben zersprungener Illusionen würde eine einzige reichen, die von wahrem Wert ist, um wieder ein neues Ganzes zu ergeben.

Gegen die Selbstlüge und den Hochmut hilft nichts so sehr wie die Demut eines völligen Neuanfangs. Wenn dieser wirklich gemacht wird, stellt sich oft heraus, dass das Nichts, bei dem man beginnt, gar nicht so nichtig ist, wie man nach dem völligen Zurücklassen der bisherigen Nichtigkeit meinen könnte. Ist nicht auch eine Perle winzig? Und dennoch ist es eine Perle – und diese zählt vor Gott und allen Wesen, die das wahrhaft Moralische tragen, mehr als eine Unendlichkeit von Nichtigkeiten und als ein Berg dunkler Seelenregungen. Diese Perle ist sozusagen selbst das Gottesreich. In diesem geht es nicht mehr um Größe oder Kleinheit, sondern nur noch um inneren Wert...

Wir sind nicht in der Welt, um uns zu hassen, zu beleidigen oder zu verspotten. Und doch kann es unendlich wichtig sein, die damit einhergehenden Empfindungen einmal als eigenes Gefühl in sich erlebt zu haben. Warum? Um daran tief zu erschrecken – und noch tiefer als vorher zu spüren, was eigentlich das Wesen der Unmenschlichkeit ist ... und zugleich noch tiefer die Liebe zum Menschlichen in sich zu entzünden. Denn nicht umsonst sagte Rudolf Steiner, dass die Begegnung mit dem Bösen in unserer Zeit, dem Bewusstseinsseelenzeitalter, notwendig ist. Das Böse hat sehr wohl eine Mission. Die Liebe zum Guten in den Seelen der Menschen soll nicht verlöschen, sie soll, im Gegenteil, noch viel tiefer werden – sogar noch tiefer als die Liebe vergangener Zeiten.

Aber wenn dort diese Liebe und die Seele schon ein unerschütterlicher Baum war, was heißt das dann für die Zukunft!? Der menschlichen Seele wird unendlich viel zu-getraut. Aber ist das nicht ein wunderbares Wort? Es geht auch um den heiligen Begriff der Hochzeit, wenn es heißt zu-ge-traut... Die heilige, allerheiligste Liebe zum Guten ist der Seele an-vertraut. Als heilige Braut – oder die Seele soll selbst Braut werden. Aber die Seele muss es selbst wollen – sie muss sich trauen wollen... Sie muss das ihr Anvertraute mit ganzem Herzen lieben, achten und ehren wollen.

Wenn die Seele wieder dahin kommen könnte, diese Liebe zum Guten, zum Moralischen, auch in der eigenen Seele, in größter Tiefe zu spüren, würde sie eine „Geradheit“, eine „Rechtschaffenheit“ finden, die ihr wirklich Richtung gibt, in allen Lebensfragen. Was ich meine, schließt dann auch die Kraft ein, sich von unguten Einflüssen unbeirrbar wieder zu lösen, weil man sehr, sehr früh spürt, was diese mit der eigenen Seele machen, machen wollen oder machen würden – und die eigene Seele wehrt sich durch ihre eigene Rechtschaffenheit dann unmittelbar. So würde sie jede Versuchung, zu spotten, zu beleidigen oder auch nur eine abfällige, niedrige, gewöhnliche Sprache zu benutzen, sanft, aber bestimmt von sich weisen. Das ist das edle Wesen der Seele – die in ihr unmittelbar lebende, reale Moralität. Das ist die wirkliche, bräutliche Liebe zum Guten, eine Liebe von allertiefster Treue und Aufrichtigkeit...