01.01.2018

Das Jahr des Mädchens

Oder: Es ist an der Zeit.

Indessen sagte der goldne König zum Manne: Wieviel Geheimnisse weißt du? – Drei, versetzte der Alte. – Welches ist das wichtigste? fragte der silberne König. – Das offenbare, versetzte der Alte. – Willst du es auch uns eröffnen? fragte der eherne. – Sobald ich das vierte weiß, sagte der Alte. – Was kümmerts’s mich! murmelte der zusammengesetzte König vor sich hin. – Ich weiß das vierte, sagte die Schlange, näherte sich dem Alten und zischte ihm etwas ins Ohr. – Es ist an der Zeit! rief der Alte mit gewaltiger Stimme.
(Goethe, Das Märchen).

Das Tote

Das offenbare Geheimnis unserer Zeit ist der Mangel an Liebe. Man braucht nur die Augen zu öffnen und irgendwohin schauen, egal wohin. Die Weltereignisse spiegeln einen unfassbaren Mangel an Liebe, überall. Auf dem Vormarsch sind Konflikte, nationale Egoismen, Visionslosigkeit. Seelentod. Diese Dinge sind offenbar, für jeden zu spüren, der es möchte und sich nicht völlig verschließt.

Nicht offenbar dagegen ist die Frage, woher dies kommt. Nicht offenbar ist das Geheimnis des Menschen. Nicht offenbar ist das Geheimnis des Bösen. Und das vierte Geheimnis ist, woher die Liebe wieder kommen könnte.

Im Grunde ist die Zeit der Diskussionen vorbei. Man kann noch ewig weiterdiskutieren – aber es ist fruchtlos, fruchtlos wie eine tote Ähre an einem Halm. Der tote Intellekt hat seine Fruchtlosigkeit bewiesen. Er gebärt nur noch Vakuum.

Raumsonden erforschen das Weltall bis zum Saturn. Auf der Erde ist die Frage des radioaktiven Atommülls ungelöst, und die Suche nach einem Endlager hat in Deutschland wieder ganz neu begonnen. In der Natur sterben sogar die Insekten allmählich aus. Die Klimakatastrophe ist kaum noch zu verhindern, aber der Wille dazu scheitert an den nationalen Egoismen. Der Abgasskandal offenbart das kriminelle Potenzial der Autoindustrie und die Willfährigkeit der Politik. Wir quälen und morden Tiere, um Fleisch zu essen. Wir sehen dem Morden in Kriegen weltweit zu. Wir sehen der Umverteilung zu, in der die Reichen immer reicher werden. Der Verkauf der Ware ,Arbeitskraft’ wird immer prekärer. Eine Wohnung zu haben, wird immer teurer. Alles wird zur Ware. Unser gesamtes Finanz- und Wirtschaftssystem ist eine Katastrophe, das, wenn man es Kindern erklären würde, mit Recht nur fassungslose ,Warum’-Fragen finden würde. Der Egoismus regiert die Welt – und die Menschen haben diese Welt so gestaltet. Und der tote Intellekt kann das fein säuberlich und verlogen begründen.

Vor einhundert Jahren ging der Erste Weltkrieg zu Ende. Es hätte ein Neuanfang sein können, nachdem sich in einem schrecklichen Grauen die Staaten aufeinander geworfen und Millionen Menschen sich gegenseitig umgebracht hatten. Stattdessen kam die Weimarer Republik und dann der Nationalsozialismus. Dann kam der Kalte Krieg. Dann kam die Geopolitik. Nirgendwo ein Aufatmen. Ja, die Freiheit hat sich auch entwickelt – aber sie ist von allen Seiten umzingelt, von eben jenen Entwicklungen, die oben genannt wurden, und auch das ist nur die Spitze des Eisberges.

Es ist völlig offensichtlich, dass die gesamte Frage der Zukunft der Menschheit eine Bewusstseinsfrage ist. Und immer offensichtlicher wird, dass der sterbende Intellekt das eigentliche Problem ist. Aber nicht nur der Intellekt stirbt, sondern auch die Seele selbst ist vom Sterben bedroht. Zu lange hat dieser immer hohlere Intellekt das Feld dominiert. Jetzt zeigen sich seine Früchte: eine wachsende Sterilität des ganzen Lebens, einschließlich des Seelenlebens.

Es kann keine Zukunft geben, wenn die Seele nicht ihr eigenes Wesen wiederfindet. Die entscheidende Zukunftsfrage ist eine seelische – eine Seelenfrage. Ohne die Seele des Menschen würde auch die Zukunft seelenlos sein. Er muss sie also wiederfinden – und zwar jetzt.

Der Kopf hatte Jahrhunderte lang Zeit, zu beweisen, dass er dem Menschheitsgeschehen Seele einhauchen könne. Die Zeit des Deutschen Idealismus ist eine der leuchtenden Ausnahmen. Aber gerade hier wurden Geist und Seele nicht ohne das Herz geboren. Man wird an so edlen Geistern wie Schiller oder Novalis sicher unmittelbar empfinden können, wie sehr in ihnen das Herz sprach. Nach Jahrhunderten der Kopf-Herrschaft, die heute ihren immer nüchterneren, seelenloseren Höhepunkt erreicht, ist deutlich, dass der tote Intellekt nur in die Seelenlosigkeit führen kann. Was notwendig ist, um diese Katastrophe zu verhindern, ist eine Herrschaft des Herzens.

Das aber wird nur möglich sein, wenn in den Seelen die Herzenskräfte wieder aufblühen werden. In einem von Männern dominierten Zeitalter und System werden sie dies nicht können. Nur heimlich, in Zwischenräumen, so, wie das ,Unkraut’ den Asphalt sprengt und zwischen allen Ritzen wächst. Aber mit diesem Aufblühen der Herzenskräfte muss jetzt ein heiliger Ernst gemacht werden. Denn sonst wird es irgendwann zu spät sein. Die Möglichkeiten schließen sich. Der Intellekt hat mit den unfassbaren Möglichkeiten der Technik längst die Bahn für völlig seelenlose Systeme geebnet. Das Technokratische ist weiterhin ungebremst auf dem Vormarsch. Dieser Intellekt kann nur in toten Regeln, Verfahren und Mechanismen denken, und dies wird sich immer weiter ausweiten. Jetzt aber kann die Seele noch gerettet werden. Nur muss sie den unfassbaren Ernst der Lage voll begreifen.

Das Leben

Für mich ist deutlich, dass die Rettung von den Mädchen ausgehen wird. Was unsere Zeit braucht, ist eine völlig neue Unschuld. Das Furchtbare wird weitergehen, egal wie viele Menschen sich dagegen erheben werden. Es werden nie genug sein. Die meisten werden in ihrem gleichgültigen Selbstbezug bleiben und die Dinge über sich ergehen lassen, wie sie kommen, werden in ihr kleines persönliches Glück flüchten, wie immer, nur dass die Seelenlosigkeit immer weiter voranschreitet. Wenn aber eines Tages die Mädchen sich erheben werden, weil sie in sich selbst dasjenige finden, was den völligen Gegensatz zu dem kalten Prinzip bildet, das die Männer völlig unterworfen hat; weil sie in sich die radikale Unschuld finden werden – und den Mut zu ihr –, wird das Ende der männlichen Kultur kommen. Denn die Mädchen werden auch in den anderen Seelen ihre wahre Sehnsucht erwecken.

Die Zeit der Mädchen wird kommen. Bis dahin wird dieses Jahr das Jahr der Mädchen sein.

Ich habe in den letzten drei Jahren in über zwanzig Büchern immer wieder anders das Wesen der Mädchen erlebbar zu machen versucht. Es spielt für mich dabei keine Rolle, ob ,die’ Mädchen sich darin erkannt fühlen. Die meisten werden es sicher nicht. Aber es kommt auf die Mädchen an, die sich darin erkannt fühlen könnten. Es kommt darauf an, dass die Mädchen ihr wahres Wesen finden werden. Es ist das Wesen des Mädchens. In diesem Wesen lebt das Menschliche in einem unvergleichlichen Leuchten. Ich habe es in ,Sonnenmädchen’ und ,Engel-Mädchen’ und anderen Büchern gleichsam unverhüllt beschrieben, zuletzt dann in ,Der Weg des Mädchens’.

In diesem Jahr werde ich in jedem einzelnen Monat ein Buch veröffentlichen, das diesem heiligen Wesen gewidmet ist – dem Mädchen. Möge es den Lesern ein Weg sein, sich mit diesem Wesen zu verbinden. Es sind heilige, rettende Kräfte, die von ihm ausgehen. Das Mädchen ist eine Retterin.

Im nächsten Jahr werden sich der Dreigliederungs-Impuls Rudolf Steiners und die Begründung der Waldorfschule zum hundertsten Mal jähren, und es wird sicher viele Jubiläumsveranstaltungen, Aufsätze, Ansprachen und so weiter und so fort geben. Aber es hat keinen Sinn, fruchtlos zurückzublicken, zu gedenken und sich vielleicht noch auf die Schulter zu klopfen, was man seitdem alles erreicht und ,weiterentwickelt’ habe. In den Waldorfschulen herrscht Stagnation, es sind nur noch Einzelne, die sich Rudolf Steiner lebendig verbunden fühlen und in denen das Feuer dieser Pädagogik wahrhaft lebt. Konflikte nehmen auch hier die Überhand. Die drängenden Fragen der Zukunft sind auch hier völlig unbeantwortet. Der Dreigliederungs-Impuls ist erstorben. Was also sollen Jubiläumsreden?

Was es bräuchte, wäre eine völlig neue Kultur. Es bräuchte ein Abrechnen mit der männlich geprägten Kultur des Intellekts und ein Anbrechen einer weiblichen Kultur des Herzens. Aber nicht nur einer weiblichen Kultur – sondern einer unschuldigen Herzenskultur des Mädchens. Darüber kann man noch so sehr spotten – es wird immer Ahriman sein, der in einem spottet. Wenn dies nicht verstanden wird – dass die Welt eine völlig neue Unschuld braucht –, dann werden wir nicht mehr lange überhaupt eine Zukunft haben.

Zukunft verrinnt...
Wenn nicht die Zeit der Mädchen beginnt...

Das Jahr des Mädchens hat begonnen...