24.01.2018

Der freie und der unfreie Wille

Gedanken zu einem ewigen Thema.


Inhalt
Lustvolle Anhänger des unfreien Willens
Illusion als Überlebensvorteil?
Das ich als schwebende Fee
Die falschen Fragen
Die Idee der Freiheit...
...und ihre Wirklichkeit
Liebe zur Läuterung als Weg zur Freiheit
Das heilige Wesen des Menschen und die Liebe
Der freie Wille und das Mädchen


Lustvolle Anhänger des unfreien Willens

Seit Aufkommen der neurologischen Forschung – und schon seit dem Materialismusstreit ab etwa 1850, der mit Büchern etwa des Titels „Der Mensch als Maschine“ begann – trat die Frage des freien Willens wieder in die Aufmerksamkeit des Menschen.

Die Neurologen schließlich fanden heraus, dass scheinbar freien Entscheidungen bereits Sekundenbruchteile zuvor Aktionspotentiale des Gehirns vorausgehen – wohlgemerkt nicht vor der Handlung, sondern vor dem Erlebnis des Sich-Entscheidens.

Seitdem sind Artikel über Artikel darüber geschrieben worden. Stellvertretend für diese Flut möchte ich einen Kommentar mit dem Titel „Jenseits von Gut und Böse“ aus dem Tagesspiegel vom Juli 2016 betrachten. Darin heißt es unter anderem:

Zunächst: In der Natur ist Freiheit nicht vorgesehen. Physikalische, chemische und biologische Prozesse laufen nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung. Davon kann sich selbst der Mensch nicht freimachen.
Willentliches Handeln beruht auf Gehirnaktivität, ist ihr Produkt. Das Gehirn wiederum ist ein Ergebnis der Evolution. Anhänger des freien Willens argumentieren damit, dass sich dieser im Lauf der Entwicklung ausbildete. Daran ist etwas Wahres. Natürlich stimmt es, dass der Mensch freier in seinen Entscheidungen als andere Lebewesen ist, als ein Einzeller, eine Petunie oder eine Spitzmaus. Aber diese Freiheit ist relativ, nicht absolut. Der Wille bleibt an Hirnprozesse, an die Aktivität von Nervenzellen gebunden.

An solchen Ausführungen kann unglaublich viel bemerkt werden, wenn man erst einmal aufmerksam darauf geworden ist.

Zunächst: Der Autor stellt sich auf eine ganz bestimmte Seite. Mit fast fliegenden Fahnen (und sei es, dass sie schon vor Jahren flogen) gesellt er sich zu dem Standpunkt der materialistischen Naturwissenschaft – und gibt deren „Erkenntnisse“ wieder, im Grunde das Allgemeinwissen, das heute jeder schon als Kind in der Schule lernt. Es erscheint schon fast wie ein heimlicher Genuss, die Freiheit des Willens so schnell aufzugeben – wie eine Seele, die sich willenlos in den Abgrund fallen lässt und dabei noch eine Art Genuss an ihrer eigenen Vernichtung hat. Dabei geht es nicht darum, ob das hier Angesprochene wahr ist – sondern der subtile Genuss, mit dem die angebliche Wahrheit längst akzeptiert wird. Es ist ein absolut unerkannter Genuss an der Selbstvernichtung der Seele. Die einst brennendsten und heiligsten Fragen der Seele werden so nüchtern diskutiert wie – ein Kochbuch. Und nicht einmal diskutiert. Es ist eine klassische Erörterung, aber für den nüchternen Autor ist das Ergebnis bereits klar. Das Eigentliche fand (wie bei dem berühmten „Aktionspotential“) längst vorher statt – jetzt wird der Artikel nur noch geschrieben, nüchtern, unbeteiligt, die Frage nach dem freien Willen längst verloren gegeben habend...

Das Zweite ist, dass die wesentlichen Stellen, an denen man sehr genau hinschauen und fragen müsste, in wenigen Worten abgehandelt werden und so die entscheidenden Schwachpunkte der „Argumentation“ überhaupt nicht in den Blick treten. Einmal wird gesagt, Freiheit ist in der Natur nicht vorgesehen, dann wird gesagt, der Mensch sei freier als eine Petunie. Dass hier ein grandioses Phänomen vorliegt, das die erste Behauptung gleich wieder völlig umstößt, wird nicht einmal mit einem Ansatz von Staunen registriert! So nüchtern, so blind und so selbstgefällig, so dumpf vor sich hinschreibend ist die moderne Seele bereits geworden! Sie sieht nicht, dass sie sich um Kopf und Kragen schreibt – und macht einfach weiter.

Es wird einfach gesagt, „der Wille bleibt an Hirnprozesse gebunden“, ohne sich einmal zu fragen, wo dieser Wille überhaupt herkommt – sowohl in der Evolution als auch im einzelnen Menschen. Hat die Petunie mehr Wille als ein Einzeller? Oder hat sie weniger? Und die Spitzmaus? Was ist überhaupt Wille? Diese Frage wird gar nicht gestellt – dabei wäre sie doch entscheidend!

Weiter der Autor:

Hirnforscher zeigten in einer Reihe von Experimenten, dass Entscheidungen bereits gefällt werden, bevor das Bewusstsein von ihnen Kenntnis nimmt. Die Freiheit wird ihm vorgegaukelt. Zugespitzt gesagt: Wir denken uns nicht selbst. Wir werden gedacht. In die gleiche Richtung gehen Überlegungen des amerikanischen Neurowissenschaftlers und Autors Sam Harris. Er schlägt vor, man solle in sich selbst ergründen, woher ein bestimmter Gedanke, eine bestimmte Entscheidung stammen. Er ist davon überzeugt, dass die Herkunft einer Handlung oder einer in uns auftauchenden Idee mysteriös ist.

Illusion als Überlebensvorteil?

In einem früheren Aufsatz geht derselbe Autor auf einen Essay von Harris ein, wo dieser es an einem Beispiel deutlich macht. Man könne überhaupt nicht sagen, woher der Wunsch rühre, gerade an diesem Morgen einmal sein Brötchen mit Marmelade statt wie gewohnt mit Käse zu frühstücken. Soweit, so gut – und unser Autor schreibt weiter:

Wenn der freie Wille zumindest in einem absoluten Sinn eine Illusion ist, warum sind die allermeisten Menschen dann so von ihm überzeugt? Die Antwort darauf kann wieder die Evolution geben. Die Idee, „Autor“ seiner Handlungen zu sein, sie nach reiflicher Überlegung zu fällen, bedeutete vermutlich einen Überlebensvorteil gegenüber reinen Instinktwesen. Und sie bahnte womöglich den Weg zur Bildung sozialer Gemeinschaften und zum ethischen Bewerten von Handlungen in Bezug auf diese Gruppe.

Was ist hiermit gesagt? Ein völliger Unsinn! Denn die Rede ist davon, dass die eigene Autorenschaft der Handlung nur eine Idee wäre, also eine bloße Vorstellung, eine Illusion. Es wird also davon gesprochen, dass Wesen mit der Illusion freien Handelns einen Überlebensvorteil gegenüber reinen Instinktwesen hätten. Mit anderen Worten: Der Wolf, der glaubt, frei zu handeln, hätte einen Vorteil gegenüber dem Wolf, der einfach und instinktiv zubeißt... Was für ein ungeheurer Unsinn! Und wieder widerlegt sich der Autor noch im gleichen Satz selbst – denn er spricht wahrheitsgemäß von der Möglichkeit und Realität reiflicher Überlegung. Offenbar hat nur er selbst nicht reiflich überlegt, was das dann für den freien Willen heißt.

Wer reiflich überlegen kann, ist eben in seinem Willen nicht nur freier als eine Petunie oder eine Spitzmaus, sondern sogar freier als ein Wolf. Ja, er kann seine Fähigkeit des Überlegens sogar dazu anwenden, noch mehr Wolf zu werden als der bloße Wolf („homo homini lupus est“, so der vorchristliche Komödiendichter Plautus).

Es wird wiederum gesehen, dass der Mensch reiflich überlegen kann – also auch das ist in der Evolution offenbar vorgesehen! –, aber es wird nicht gesehen, dass dies etwas völlig Reales ist, nicht etwa nur die Illusion reiflicher Überlegung. Aber nun kann man sich ja für jeden einzelnen Schritt fragen, ob der Mensch ihn wirklich frei macht. Vielleicht ist ja jeder kleine Schritt „reiflicher Überlegung“ etwas Selbiges wie das plötzliche Auftauchen einer Lust auf Marmelade? Dann wäre „reifliche Überlegung“ wirklich eine Illusion, nämlich ein Prozess lauter Marionettenvorgänge, von Anfang bis Ende. – Aber diese ganze Frage wird eben nicht ... reiflich überlegt und unterschieden. Man vergleicht fortwährend Äpfel mit Birnen oder lässt es sogar ganz, springt von einem zum anderen, als wäre dem Menschen nicht das Denken gegeben, sondern nur das Hervorstottern holpriger Gedanken und das Nachbeten der „Erkenntnisse“ der „modernen Naturwissenschaft“.

Und so trifft es ein zitierter Kommentar aus der „Community“ hervorragend, in dem es heißt:

Es ist schon faszinierend: Die Evolution hat uns als einzige Lebewesen dazu befähigt, über unser eigenes Denkorgan nachzudenken und es erforschen zu können, damit man schließlich zu dem Schluss kommt, alles Denken sei vorprogrammiert.

Darin liegt wahrhaftig kein Überlebensvorteil, sondern nur nackte Sinnlosigkeit. Hätte Sam Harris es etwas ernster gemeint, hätte er sich nicht mit dem Marmeladen-Beispiel begnügt, sondern wie Rudolf Steiner wirklich über das Denken nachgedacht – und nicht nur das, sondern eben auch schließlich das Denken und seine Bedeutung mit dem Denken selbst begriffen, ja erlebt und angeschaut.

Es braucht eben wirklich eine „Philosophie der Freiheit“, um der Realität der Freiheit auf den Grund zu gehen. Um sie zu finden und im Finden zu verwirklichen – und umgekehrt, um sie in einem rein seelisch-geistigen Prozess zu verwirklichen und so zu finden. Wie kann man etwas finden, was vorher nicht da ist? Der entscheidende Punkt aber ist, dass etwas, was vorher nicht da ist, nicht schon deshalb nicht existiert, weil erst die Frage geklärt werden muss, ob es da sein könnte. Und wenn es da ist, ist dies der Gegenbeweis gegen alle anders lautenden Behauptungen.

Das ich als schwebende Fee

Aber bevor wir in diese Richtung weitergehen, noch einmal der besagte Autor, jetzt aus seinem früheren Aufsatz:

Von der befruchteten Eizelle bis zum fertigen Menschen mit seinen Billionen von Zellen, an keiner Stelle fährt ein freier Wille in den Körper ein und entscheidet von da an völlig ungebunden, was wir zu tun und zu lassen haben. Auch wenn’s der Intuition widerspricht, werden wir uns vom freien Willen, diesem erhabenen Phantom der abendländischen Geistesgeschichte, verabschieden müssen.

Und wiederum stehen wir, jetzt sogar in ironisch-spöttischer Form, vor der Tatsache eines saloppen, genussvollen Sich-Verabschiedens von der „Idee“ des freien Willens. Die erhabene, essenzielle, wahrhaft menschliche Frage wird behandelt wie die letzten Fußballergebnisse – wenn nicht noch nachlässiger! Und als ob jemals die Rede von einem ein für allemal völlig freien Willen die Rede war! Als ob die entscheidende Frage nicht schon immer war, ob der Wille überhaupt frei sein kann! Denn schon Rudolf Steiner hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Erwachsene freier ist als ein Kind, der Nüchterne freier als der Betrunkene. Aber statt an diesen Unterschieden anzusetzen und dort weiterzugehen, wird lieber über das Phantom des freien Willens gespottet, das ja „an keiner Stelle in den Körper einfahre“.

Und genüsslich belehrt uns der besagte Autor weiter:

Voraussetzung für willentliche Entscheidungen ist das Bewusstsein. Das wiederum verdankt sich der Aktivität von Nervenzellen, ihrem vielstimmigen Geflüster und Getuschel. […] Wie eine Fee scheint unser Ich über dem Räderwerk des Gehirns zu schweben […]. In Wahrheit ist’s umgekehrt, die Fee gleichsam ein Hirngespinst, abhängig von materiellen Voraussetzungen. Zum Beispiel, ganz trivial, von ausreichend Traubenzucker im Blut. Sinkt dessen Konzentration unter ein Limit, zum Beispiel durch eine Überdosis Insulin, gehen im nun unterversorgten Gehirn buchstäblich die Lichter aus. Das Bewusstsein erlischt, weil der Treibstoff fehlt.

Dumpf wie die Materialisten um 1850 bügelt und walzt dieser Schreiber über die Unterschiede hinweg. Mit wirklich trivialen Feststellungen meint er, die Willensfreiheit leugnen zu können. Aber geht es bei dieser Frage denn wirklich um die Marmelade auf dem Brot? Oder um die Tatsache, dass wir wohl kaum frei sind, wenn wir gerade ohnmächtig werden? Schon das Wort besagt es: ohn-mächtig. Die Macht geht verloren, damit auch der freie Wille. Ebensowenig ist er frei, wenn wir schlafen, ebensowenig, wenn wir tot sind. Aber Tod, Schlaf und Ohnmacht sind andere Zustände als das normale, klare Bewusstsein. Der freie Wille kann sich zunächst kaum aussuchen, ob er (bzw. der Leib) müde wird, ohnmächtig wird oder stirbt – aber das Leben besteht aus unendlich vielen anderen Situationen. Und die Frage des freien Willens stellt sich doch wohl hier und nirgendwo sonst.

Selbst unser Autor bekennt:

Es gibt auf der Ebene menschlichen Handelns kein unabänderliches Schicksal. Der Theorie nach sind wir unfrei, der Praxis nach aber nicht. Auch wenn absolute Freiheit und totale Unabhängigkeit illusionär sind, unsere Taten sind bedeutsam. Sie haben Konsequenzen, im besten Fall positive – auch auf das Tun der Anderen.

Die Frage ist absolut nicht geklärt – und doch kehrt er zurück zu dem, was bereits der gesunde Menschenverstand sagt. In der Praxis (der Realität) sind wir nicht unfrei. Die Unfreiheit ist eben tatsächlich – reine Theorie.

Und dieses ganze Gerede von „absolut“ und „total“ zeigt doch, dass der Mensch eine Zwischenposition einnimmt – und die Frage ist nur: wo genau verlaufen die Grenzen zwischen Freiheit und Unfreiheit?

Die falschen Fragen

Für die Neurologen verlaufen diese Grenzen nach wie vor im Gehirn. Sie sagen: Ich kann mich relativ frei entscheiden, ob ich heute Käse, Marmelade oder was auch immer esse – aber woher meine Entscheidung dann kommt, kann ich nie wissen (das große „Ignorabimus“, das ebenfalls schon 150 Jahre alt ist). Und so sei es mit allem. Warum ich mich in diesen oder jenen Mensch verliebe. Warum ich diese oder jene Entscheidung treffe, warum ich dieses oder jenes Kriterium jetzt so oder so gewichte, diesen oder jenen Wertmaßstab anlege – es gibt unzählige Warums, und ich kann sie alle nicht – oder nicht alle – wissen. Und selbst wenn ich dann handle ... meine Nervenzellen waren bereits schneller.

Aber der entscheidende Punkt ist: Diese ganzen Forscher und Kommentarspaltenschreiber haben es offenbar nie versucht! Sie haben offenbar nie versucht, herauszufinden, ob man dies nicht sehr wohl wissen kann. Die Motive seines Handelns zu durchschauen, und zwar ganz und in voller Klarheit. Die Wertmaßstäbe, ja sogar ihre Herkunft, ihren Ursprung, immer weiter, immer klarer. Diese Forscher und Schreiber haben nie beobachtet, dass man die Voraussetzungen, an denen sie ihre „Unfreiheit“ festmachen, Schritt für Schritt umstoßen und beseitigen kann, indem man die Fäden, an denen der (un)freie Wille hängt, Schritt für Schritt bis zu ihrem Ursprung verfolgt...

Keiner dieser Forscher macht auch den Unterschied zwischen Denken und Fühlen – und der Tatsache, dass der Ursprung der Empfindungen sehr wohl weit mehr im Dunkeln liegt als die Welt der Gedanken und des Denkens. Und in Bezug auf die Marmelade ist es vielleicht sogar so, dass mein Körper in diesem Moment den Zucker braucht – und also wirklich aus den Tiefen der physiologischen Vorgänge herauf etwas geschieht, was schließlich meine „Lust“ auf Marmelade „auslöst“. Es ist deutlich, dass man hier weder von freiem Willen sprechen kann noch von einem auch nur ansatzweisen Durchschauen der Ursachen meines Begehrens. Instinkt, Trieb und Begehren sind eben Formen des Willens, die noch nicht frei sind, die unterschiedlich unfrei sind, weil sie gebunden sind an physischen Leib, Lebensleib und Astral- bzw. Empfindungsleib, wie Rudolf Steiner schon so klar wie nur möglich herausgestellt hat.

Es ist eigentlich eine Schande und ein Skandal für die heutige Wissenschaft, dass sie all diese Unterscheidungen nicht mehr macht – und dass so das Erkenntnisvermögen immer mehr degeneriert, seine eigenen Schwachpunkte und seine Wesensschwäche, seine innere Faulheit absolut nicht mehr erkennend. Die Frage ist nicht, ob der Wille frei oder unfrei ist, sondern in welcher Richtung die zunehmende und schließlich vielleicht sogar völlige Freiheit des Willens gesucht werden muss!

Die Idee der Freiheit...

Ist es denn eine derartige Tragik, dass der Mensch nicht frei entscheiden kann, ob er jetzt „Lust“ auf Marmelade haben will oder nicht, sondern dass diese Lust einfach aus dunklen Tiefen seiner Leibesprozesse aufsteigt? War dies je maßgeblich für die Frage des freien Willens? Nein – sondern die wahre Frage war immer: wie sich der Mensch dem gegenüberstellen kann. Ist er eine blinde Marionette am Faden der aufsteigenden Lüste? Ganz real gefragt: Ist der Mensch eine Marionette seiner Lüste? Das ist die entscheidende Frage nach der Willensfreiheit!

Oder kann er sich zum Herr in seinem eigenen Hause machen und sagen: Nein, ich esse jetzt keine Marmelade. Ich fühle zwar eine Lust darauf, aber ich weiß, dass Zuckerzeug ungesund ist, und ich esse etwas anderes. Nun kann man zwar immer endlos weiterfragen – aber man kann damit die Frage der Willensfreiheit auch absolut ad absurdum führen – nicht in dem Sinne, dass es keinen freien Willen gäbe, sondern in dem Sinne, dass man nur noch sophistisch herumdoktert, während man das Wesen der Frage überhaupt nicht erfasst.

Natürlich kann ich fragen: Konnte ich mich je entscheiden, so vernünftig zu sein, dass ich mir auch Gedanken mache? Konnte ich mich frei entscheiden, den Gedanken von der „Schädlichkeit des Zuckerzeugs“ aufzunehmen? Ihm dieses oder jenes Gewicht zu geben? Oder konnte ich mich frei entscheiden, welche Faulheit oder welche Disziplin ich mir in den letzten Jahren angewöhnt habe? Oder bin ich damit geboren worden, so oder so faul oder diszipliniert zu sein oder in einem bestimmten Moment meines Lebens mir diese oder jene Wende in dieser Frage zu geben? War ich darin frei? Gab es nicht vielleicht einen winzigen Moment der Unfreiheit, den ich übersehen habe, wodurch doch wiederum alles unfrei wird, in letzter Hinsicht?

Man sieht – es ist eine Idiotie. Ein solches Fragen verliert sich im Spinnennetz des Uneigentlichen wie der berühmte Forscher in seinem Fachidiotentum. Die eigentlichen Fragen sind ganz andere. Sonst müsste man fragen, denn darauf läuft es hinaus: Konnte ich je frei wählen, „reiflich zu überlegen“ oder ein bloßes Instinktwesen zu bleiben? Nein, das konnte ich nicht. Denn, und das ist das Wesentliche: Der Mensch war von vornherein dazu bestimmt, ein Freiheitswesen zu werden. Das ist die Paradoxie der menschlichen Entwicklung, auf die ich schon in meinem Aufsatz über den Begriff der Entwicklung aufmerksam machte. Der Mensch war unfrei darin, ein Mensch zu werden, bis jetzt. Er musste es werden... Aber worin er frei ist, ist, von nun an den zunehmenden Weg der Freiheit zu gehen – oder zurückzubleiben oder zurückzusinken in Stadien, die noch immer nicht wirklich frei sind oder sogar wieder immer unfreier werden.

...und ihre Wirklichkeit

Alles, was er braucht, ist – Wille.

Und es ist überhaupt nicht entscheidend, ob dieser Wille nun „völlig“ und „total“ und „absolut“ frei ist oder nicht. Entscheidend ist die Richtung, die dieser Wille sich gibt – oder die ihm gegeben wird, wenn er es (noch) nicht selber kann. In der ganzen Frage nach der Freiheit des Willens geht es immer und immer wieder um die Frage nach der Richtung. Ist es die Richtung der Freiheit – oder ist es die Richtung der Unfreiheit?

Und was Rudolf Steiner nun so grandios deutlich machte, ist, dass die volle Freiheit da gefunden wird, wo sich der gesamte Prozess der Lenkung des Willens zunächst im rein Geistigen, im reinen Denken, vollzieht. Also in jenem Reich, wo alles durchschaut wird und werden kann, noch das Kleinste. Nichts bleibt außerhalb dieses reinen Denkens. Und ich weiß, welches Motiv ich mir setze, welche Intuition ich aus dem Reich der Intuitionen ergreife – und ich weiß auch, warum. Das reine Denken, von dem Rudolf Steiner spricht, ist die Verwirklichung der Freiheit. Es ist damit zugleich die „wahre Kommunion des Menschen“. Die Freiheit mag zunächst nur eine Idee sein – aber der Mensch kann dieser Idee in der Wirklichkeit begegnen und dort, in dieser Sphäre, diese Idee wahrmachen. Dann findet die Hochzeit statt ... die Vereinigung des Menschen mit seiner eigenen Idee, denn die Idee der Freiheit ist die seine. Und weil das reine Denken nur mit dem freien Willen möglich ist (da es sonst schlicht und einfach nicht geschieht und ein ganzes Leben lang versäumt werden kann), kann der Mensch diese Idee nur selbst und nur frei verwirklichen.

Das ist das Grandiose an der Idee und der Wirklichkeit der Freiheit. Es ist keine Frage des Ja oder Nein, sondern des Wenn.

Man könnte dann wieder sophistisch sagen: Also ist es Unfreiheit. Wie kann der Mensch frei sein, wenn er unter einem „Wenn“ steht. Aber das ist dasselbe wie zu sagen: Ich akzeptiere Freiheit nur, wenn ich frei geboren werden würde. – Das aber gerade wäre Unfreiheit. Der Mensch, der das Wenn der Freiheit nicht akzeptiert, ist einfach noch zu faul – um frei werden zu können. Freiheit und Faulheit vertragen sich nicht. Wenn der Mensch faul bleiben will (!), kann er nicht frei werden. Er hat auch den „freien“ Willen, faul zu bleiben und seinen wahren freien Willen nicht zu entfalten. So ist er gleich doppelt frei – und damit erst wirklich.

Liebe zur Läuterung als Weg zur Freiheit

Was aber bedeutet dies nun in der Realität? Wie kann man diese Erkenntnisse anwenden?

Zunächst einmal kann man zwischen seinem unverwandelten Seelenanteil unterscheiden – und jenem Teil der Seele, der bereits in Richtung der Freiheit unterwegs ist, als ein einsamer, heiliger Pilger.

Man kann sich fragen: In welchem Teil meiner Seele lebt die Sehnsucht nach Entwicklung? Entwicklung aber ist immer mit Freiheit verbunden, denn die Seele kann sich nicht (selbst) entwickeln, wenn sie nicht ihren Willen entfaltet. Dieser Wille kann zwar noch getrieben sein von unlauteren Motiven (Entwicklung von Macht etc.). Er wird es aber immer weniger, je mehr es ihm um die eigene, innere Entwicklung der Seele geht. Er wird immer freier, je mehr es ihm um die Läuterung geht – um die Läuterung der Seele und damit um seine eigene Läuterung.

Und warum ist das so? Weil das größte Senkblei und die größte Gefangenenkugel, an die der Wille zunächst gekettet ist, er selbst ist – die in den Menschen hineingelegte und in ihn eingezogene Selbstsucht. Sollte der Mensch theoretisch von allem frei werden können, jedoch nicht von dieser Selbstsucht, so wäre er noch immer völlig unfrei – es sei denn, er definiert dies selbstherrlich als die Freiheit schlechthin: die völlige Willkür, seinen jeweiligen Impulsen zu folgen, und seien sie noch so selbstbezogen.

Gerade im Selbstbezug kann der Mensch nicht zwischen Trieb, Begehren und rein gedanklichen Motiven unterscheiden – und er will es ja auch gar nicht. Solange der Selbstbezug herrscht, will der Mensch ja (per Definition) nichts anderes, als sich selbst zu folgen, mit allem, was da aufsteigt. Es wäre ein Widerspruch in sich, die nicht oder nur halb durchschauten Einflüsse (Trieb, Begehren etc.) theoretisch ablegen zu wollen und einen jenseits dessen liegenden „reinen“ Selbstbezug zu postulieren. Denn wenn der Mensch von diesen niederen Impulsen absehen könnte, dann wäre er in demselben Moment nicht mehr selbstbezogen, denn der Selbstbezug steigt gerade aus diesen niederen Regionen auf. Hier sitzt er gerade!

Könnte der Mensch selbstlos, nicht gelenkt von seinen selbstbezogenen Empfindungen, um sich schauen, wäre er wahrhaft frei – aber dann befände er sich eben gerade in einem reinen Denken, einem reinen Fühlen, einem reinen Wollen, vollkommen ungebunden, nicht gebunden an sich selbst. Das gewöhnliche Leben besteht aber gerade aus starken Ketten des Selbstbezuges – und diese zu durchschauen wäre der erste Schritt hin zur wachsenden Freiheit ... und wachsenden Läuterung. Ohne Läuterung keine Freiheit, denn jede Freiheit ist eine Folge von Läuterung. Freiheit ohne Läuterung ist noch immer bloße Willkür und Selbstherrlichkeit, nichts weiter. Der Hochmut etwa kann sich ja exzellent als Freiheit verkleiden, nicht zuletzt vor sich selbst. Wahre Freiheit aber ist immer Frucht wahrer Läuterung. Sie existiert nur in dieser Sphäre.

Solange die Seele also zum Beispiel gezwungen ist, zu spotten, ist sie an diesem Punkt absolut unfrei. Sie kann dies noch so sehr damit verbrämen, dass sich ihr gewisse „Imaginationen“ aufdrängen, die sie nur so wiedergibt, wie sie sie erlebt – sie sollte lieber Innenschau betreiben, als ihr unverwandeltes Innenleben aus sich herauszusetzen. Denn nur die wirklich mit tiefem Willen vorangetriebene Innenschau kann die Seele zur Läuterung führen. Sie muss eine Sehnsucht nach diesen Prozessen bekommen. Solange sie sie noch ablehnt, lehnt sie ihren eigenen Weg zur Freiheit, zur Befreiung ab.

Die Liebe der Seele zur Läuterung, zur Heiligung, ist die Liebe der Seele zu ihrer wahren Freiheit. Alles Andere bleibt Selbstliebe.

Das heilige Wesen des Menschen und die Liebe

Deshalb ist die wesentlichste Frage in Bezug auf den freien Willen vielleicht diese: Was hindert mich an einer Liebe zur Läuterung? Diese Frage führt vollkommen sicher an jene Punkte, wo dem Mysterium des freien Willens die entscheidenden Hindernisse im Wege stehen, um hässlich grinsend die Seele an dem Punkt zu halten, wo sie im Moment steht. Aber genau hier liegt auch der Tempel der Selbsterkenntnis. Die Seele kann ihn betreten, niederknien, und in Auseinandersetzung mit sich selbst auch mehr und mehr das heilige Mysterium des freien Willens erkennen.

Hier liegt die wahre Richtung der Frage der Willensfreiheit. Sie hat mit Nervenzellen nicht das Geringste zu tun. Der Weg geht in ganz anderer Weise „nach innen“ (Novalis). Es geht um die Erkenntnis des heiligen Menschenwesens und des heiligen Wesens der Seele selbst. Hier findet der Mensch den freiesten Willen, der überhaupt möglich ist.

Und so hat Plautus noch in anderer Weise Recht. Denn sein Satz geht noch weiter:

Lupus est homo homini, non homo, quom qualis sit non novit.

Normalerweise wird dieser Satz so übersetzt: „Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen, kein Mensch, solange er nicht weiß, welcher Art der andere ist.“ Aber das „der andere“ steht nicht da. Es steht nur da: „solange er das Qualis nicht kennt“. Man sollte es einmal ganz allgemein verstehen – ganz allgemein bezogen auf den Menschen. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, solange er sein eigenes wahres Wesen nicht begreift.

Je mehr er sein wahres Wesen begreifen würde, desto mehr würde er den Weg der Freiheit gehen. Dieser Weg ist aber mit der Liebe verbunden, denn es ist ein Weg der Befreiung von dem, was die Widersacher in den Menschen gelegt haben, um ihn von seinem wahren Wesen zu entfremden. Dazu gehören Dumpfheit und Selbstbezug. Je mehr der Mensch für seine Umgebung aufwacht, in der Tiefe, in Sanftheit, in zunehmender Empfindsamkeit, und je mehr er seinen Selbstbezug auflösen kann, was zugleich die Voraussetzung und die Folge des Ersteren ist – desto freier wird seine Seele ... und desto liebender.

So ist die Liebe, die wahre Liebe, der Beweis für die Freiheit – in allem Einzelnen.

Der freie Wille und das Mädchen

Die entscheidende Frage des Weges zur Freiheit des Willens ist die Liebe zur Läuterung. Die Frage ist nicht, wo diese herkommen soll, denn die Seele kann diese selbst in sich entfachen. Das ist bereits ihre vielleicht erste wahrhaft freie Tat: das Entfachen einer wahrhaften Liebe zur Läuterung. Wer soll ihr dies denn abnehmen? Es kann ihr niemand abnehmen.

Was aber ist die Folge der Läuterung der Seele? Die Folge ist, dass sie als eine Verwandelte aus diesem heiligen Prozess hervorgeht. Und was bedeutet das? Es bedeutet, dass sie hinterher anders handelt als vorher. Und warum? Weil ihr Wesen ein anderes geworden ist.

Die Frage nach der Willensfreiheit greift viel, viel zu kurz, wenn dies nicht gesehen wird. Die Freiheit liegt bereits an dem Punkt, wo die Verwandlung mehr und mehr lieben gelernt wird. Es ist ein geheimnisvoller Prozess, in dem das geliebt wird, was noch in der Zukunft liegt. Aber in diesem Prozess wird dieses Heilige mit dem eigenen Wesen verbunden. Die Seele verwandelt ihren ganzen Willen – dieser Wille wird ein ganz, ganz anderer, immer mehr. Und es ist dies etwas, was die Seele (oder das Ich gemeinsam mit der Seele) selbst tut. Es ist ein freier Prozess heiliger, tiefgreifender Verwandlung.

Was ist dann die Folge? Die Seele, die zum Beispiel vorher einfach herausplapperte, was sie dachte, fühlte und wollte, wird eine, die gelernt hat, die Wahrheit zu lieben. Das bedeutet zugleich, dass sie immer weniger die Unwahrheit sagen kann. Abstrakt gedacht könnte man sie dann für unfreier als vorher halten, denn vorher konnte sie plappern, spotten, lügen, was sie „wollte“, sogar ohne es zu merken. Jetzt hat sie ein tiefes Empfinden für dies alles – und kann dies alles nicht mehr. Aber das Mysterium ist: Sie will es auch nicht mehr und hat sich von Anfang an diese neue, heilige Richtung des Willens selbst gegeben. Sie hat ihr ganzes Wesen verwandelt, und es war ihr freier Wille. Es war auch fortwährend ihr freier Wille, immer mehr die Wahrheit zu lieben und immer weniger lügen zu können. Sie hat ihren (heiligen) Willen entfaltet – die faule Seele dagegen ist bei dem geblieben, was sie ohnehin schon immer getan hat. Die faule Seele ist unfrei geblieben, obwohl sie sich frei dünkt. Die andere Seele ist frei geworden, obwohl sie immer mehr nur noch die Wahrheit lieben kann und nicht mehr lügen kann – aber nichts anderes hat sie gewollt!

Man kann nicht zwei Herren dienen. Wer die Wahrheit nicht glühend liebt, liebt sie eben weniger – und er kann es auch nicht mehr, ob er will oder nicht. Er müsste erst seine ganze Willensrichtung tiefgreifend ändern, bevor sich ... etwas ändern würde.

Was hat dies nun mit dem Mädchen zu tun? Das Mädchen als heilige Gestalt hat eine Seele, die reiner ist als alle anderen, reiner und unschuldiger, in aller Tiefe. So ist das Mädchen wahrhaft frei – denn im Gegensatz zu allen anderen Seelen ist es völlig ungebunden an diese kettende, herabziehende Liebe zu sich selbst, an das entwürdigende, flache Herumposaunen der eigenen Innenwelt, frei dagegen für eine wirkliche, reale Liebe zur Wahrheit, zum Guten, zu allem, was es umgibt; frei für alles, was mit dieser Freiheit verbunden ist – und das Mädchen will auch nichts anderes. Das Mädchen hat den freiesten Willen von allen. Und es trägt mit diesem freien Willen auch die reinste Liebe in sich.

Siehe – das Mädchen... „Was das Mädchen von einer heiligen Natur aus ist, sei Du es wollend – das ist’s...“