06.02.2018

Das Mädchen aus dem Schlamm

Buchbesprechung: David Almond: Heaven. Fischer-Verlag, 2017 (224 S., 15 €).

Vom Verlust der Seele...

Überall auf der Welt geht die Seele verloren – und die Menschen bemerken es nicht. Sie glauben nicht an die Seele, aber sie glauben, dass sie eine haben – und verlieren sie dennoch...

Ein winziger Aspekt ist, dass wir keine Bücher mehr lesen – und wenn, dann an Bildschirmen, und dann Krimis, Horror, lässigen Humor. Alles ohne Seele. Und ein anderer Aspekt ist, dass man mit wirklich guten Büchern nichts mehr anfangen kann. Bücher mit Seele ... erschrecken dann.

Diese Gedanken hatte ich, als ich vor einigen Tagen eine Rezension las. Sie erschien auf der Seite des „Deutschlandsfunk“, eines Senders, der sich doch um Kultur bemüht. Und die Rezensentin war sogar eine Frau. Aber was hat sie über das besprochene Buch zu sagen?

Es handelte sich um ein Buch des englischen Schriftstellers David Almond. Der erste Fehler war, von einem „neuen Jugendroman“ des Autors zu sprechen, denn es handelte sich nur um eine neue Übersetzung eines bereits im Jahr 2000 geschriebenen Buches, das bereits 2001 unter dem Titel „Eine Ecke vom Paradies“ auf deutsch erschienen war. Der Titel der Neuerscheinung vom letzten Oktober, „Heaven“, lehnte sich nun an die Originalausgabe an („Heaven Eyes“). Allein an diesen Dingen kann man schon das Schnellgestrickte der Rezension erahnen, was durch und durch traurig ist. Denn was sollen Rezensionen, wenn man nur einer Fließband-Pflicht nachkommt – und wenn dies daran hindert, die wirklichen Perlen der unüberschaubaren Literatur auch nur zu sehen?

Aber hören wir, was sie über das Buch selbst schreibt:

[...] Eigentlich heißt Heaven Anna und ihr trauriges Schicksal bleibt fast bis zum Schluss ein Geheimnis. Entdeckt wird sie von drei Waisenkindern, die auf der Flucht aus ihren Heim mit einem selbst gebauten Floß, in einem ölig-schlammigen Sumpfgelände stranden, wo sie am Ufer auf das Mädchen mit den "Schwimmhäuten" und den "mondrunden, wässrig blauen Augen" treffen.
Spätestens jetzt enden alle Parallelen zu berühmten literarischen Floßfahrten, denn die Ich-Erzählerin Erin und ihre beiden Freunde sind in einem albtraumhaften, verlassenen Fabrikgelände gelandet, einem Gewirr aus zerstörten Lagerhallen, Schutt und Trümmern, an einem "ganz und gar tödlichen Ort". Engelgleich führt Heaven sie durch diese Wüstenei, sie lebt hier mit ihrem alten "Grampa", dem Bewacher des Geländes. Wer sind die beiden, das unschuldig-schöne Kind und der düstere Alte? Warum leben sie allein in dieser "Verdammnis"? Ein schreckliches Geheimnis umgibt sie, dem die drei Freunde auf den Grund gehen – auch, um Heaven zu erlösen.
David Almond hat ein modernes Märchen geschrieben: Der Lebensvogel, der Erin begleitet; Heaven, diese Mischung aus Fee und Meerjungfrau; der biestig-bärenstarke Grampa; eine Schatzsuche und eine Moorleiche, die sich als "Heiliger" entpuppt, dazu die unheimliche Düsternis des Geländes – das alles sind Motive, die einen magischen Raum schaffen sollen.
Doch David Almonds Finsternis fehlt jene Faszination, die man etwa aus den großartig-existenziellen Romanen von Astrid Lindgren wie "Die Brüder Löwenherz" kennt. Was dort wirklich gestaltet und sichtbar wird, das Böse und Unheimliche, die Angst und auch die Liebe, hier werden sie immer wieder zitiert, aber nicht spürbar.
Denn Almonds raunende Sprache voller Anspielungen und Andeutungen, seine blutroten Sonnenuntergänge und tiefschwarzen Tiefen, die unzähligen Tränen, die in diesem Roman vergossen werden und die seelischen Schmerzen, die alle Beteiligten peinigen – das wirkt zu pathetisch. Auch Heavens naive Sprache mit ihren albernen Doppelungen ("Solche wunderschön Wunderschönen") und kindlich-hilflosen Verbalkonstruktionen ("Er tut euch lieben und über euch wachen") sind auf Dauer nervig.
Statt eines Geheimnisses bietet dieser Roman Geheimniskrämerei. Er beschwört und behauptet tiefe Bedeutung, ohne sie zu gestalten. Während große Kinderliteratur gerade darum so überzeugt, weil sie Menschen und Konflikte schlicht, klar und eindringlich schildert, taucht David Almond seine Geschichte in sentimentale Gefühle, wispernde Dialoge, altkluge Sprüche und eine süßliche Atmosphäre. Das ist nicht nur schade, sondern bei diesem preisgekrönten Autor auch vollkommen unerwartet!
Sylvia Schwab: Altkluge Sprüche und viel Pathos, www.deutschlandfunkkultur.de, 22.11.2017 [o].

An einer solchen Rezension kann man viel lernen. Man kann erleben lernen, wie leicht es ist, etwas herunterzumachen, etwas mit wenigen Federstrichen völlig zu entwerten.

...und wirklicher Poesie

Wie aber, wenn es viele Wege zu einem Geheimnis gibt? Was wäre, wenn nicht immer alles „schlicht, klar und eindringlich“ geschildert werden müsste, sondern wenn die wirkliche Kunst auch sein könnte, etwas in eine schlichte Poesie zu tauchen?

Was wäre, wenn keineswegs „unzählige Tränen vergossen“ werden, sondern die Rezensentin dies nur so übertrieben wahrnimmt? Und wenn es keineswegs um „sentimentale Gefühle“ geht, sondern um wirkliche? Was also wäre, wenn die Seele heute bereits völlig unfähig geworden wäre, das Echte auch noch als echt wahrzunehmen – und Gleiches mitempfinden zu können?

Was die Rezensentin offenbart, ist nichts anderes, als dass ihr die Fähigkeit, berührt zu werden, verlorengegangen ist. Es gibt in dem Roman keine „altklugen Sprüche“ – diese gibt es in allzuvielen anderen Exemplaren der heutigen Literatur, aber nicht in diesem Roman. Und die „wispernden Dialoge“ sind in einer so wunderbaren Schlichtheit gestaltet, dass sie wirklich berühren können, wenn man sich ein Herz für die Poesie einer solchen Schlichtheit bewahrt hat.

David Almond „behauptet“ nicht nur, er schreibt mit einer leisen Meisterschaft. Auf diese Weise entsteht ein Kleinod, das an Zartheit seines Inhaltes in der heutigen Literatur seinesgleichen sucht.

Lassen wir eine völlig andere Rezension auf uns wirken, die am 1.2.2018 in der Printausgabe des „Tagesspiegel“ erschien. Nachdem der Rezensent den Hintergrund skizziert hat – eine der vielen Fluchten von drei Waisenkindern aus ihrem Heim in Whitegates und wie sie dann mit ihrem Floß im Schlamm steckenbleiben und dem seltsamen Mädchen und dem Alten begegnen –, schreibt er weiter:

Der Roman „Heaven“ des vielfach preisgekrönten Autors David Almond wurde im Original bereits 2000 veröffentlicht. Nach der Ravensburger Ausgabe von 2001 („Eine Ecke vom Paradies“) liegt er nun in einer Neuübersetzung von Alexandra Ernst vor. Ihr gelingt eine eingängige Sprachregelung, deren Rhythmus den Leser bis zur letzten Zeile einfängt. Heavens bezaubernde Kindlichkeit unterstreicht sie kein Jota zu viel, wenn sie ihr kleine Silbenverdrehungen und Verdoppelungen wie „solche wunderschön Wunderschönen“ in den Mund legt.
Die Geschichte selbst ist eine Verdichtung kaum erträglicher Kinderschicksale, denen David Almond dennoch sehr glaubwürdig Silberstreifen der Hoffnung entgegenzustellen vermag. [...] Und genau daraus schlägt Almond wunderbare Funken, die dem Ganzen einen zeitlos märchenhaften Anstrich geben, für ein „so könnte“, „so sollte“ es sein.
Der Aufenthalt der drei aus Whitegates in dem Lagerhaus ist eingebettet in eine schaurige, gespenstische Atmosphäre, in der die Spannung immer stärker um die Frage kreist, was es mit Grampa und vor allem mit Heaven auf sich hat. [...]
Ulrich Karger: Ein Mädchen, das aus dem Nebel kam, Tagesspiegel, 1.2.2018 [o].

Wie ist es wohl möglich, dass sich zwei Rezensionen derart unterscheiden? Der Grund ist, dass die Seelen der Menschen vollkommen verschieden empfinden. Die eine Seele vermag die Poesie zu spüren und sich von ihr berühren zu lassen – und die andere nicht, diese spricht dann von „altklugen Sprüchen und viel Pathos“, was einfach eine Unwahrheit ist, geschuldet nur der eigenen Seelenleere, dieser traurigen Tatsache unserer Zeit.

Die drei Waisenkinder wissen sehr gut, dass ihre Heimleiterin – wie auch Ulrich Karger schreibt – noch viel „versehrter“ ist als sie selbst. Und dasselbe könnte man von den vielen heutigen, modernen Rezensenten sagen, die nicht mehr in der Lage sind, mit dem Herzen zu lesen, die Poesie mit Pathos und kindliche Reinheit mit Kitsch verwechseln und noch dazu „altkluge Sprüche“ irgendwo hineinsehen, wo nichts als fast märchenartige Schlichtheit webt.

Das „Böse“ kommt in diesem Roman von David Almond gar nicht vor, es muss also auch nicht „gestaltet“ werden. Angst und Liebe kommen aber sehr wohl vor – und sie werden keineswegs nur „zitiert“, sondern tatsächlich unmittelbar spürbar. Was geschieht nur mit den Seelen, wenn dies nicht mehr empfunden wird? Wenn gerade das Zarte ... heruntergemacht wird?

„Ich habe mir Sorgen um euch gemacht“, sagte sie. „Ich ... ich dachte, ihr wärt vielleicht wieder weggelaufen...“ Sie verstummte. Sie wischte sich über die Augen. Dann ging sie vor uns in die Hocke und nahm Heavens Hand. Lass sie in Ruhe!, wollte ich sagen. Aber ich sah, wie sich Heavens Finger sanft um Maureens Hand schlossen.
David Almond: Heaven. Fischer-Verlag, 2017, S. 208.

Am Ende dieses Romans ist es gerade die Heimleiterin, die eine berührende Wandlung durchmacht – und auch dies alles eben nur zart angedeutet, aber dafür um so berührender –, und die Welt ist um einen Engel reicher. Denn es ist gerade dieses geheimnisvolle Mädchen „Heaven Eyes“, das diese Wandlung zuwege bringt – jenes Mädchen „mit ihren schönen Augen, die durch das Leid und den Schmerz der Welt bis in den Himmel sehen konnten, der dahinterlag“ (S. 216).

Die Times schrieb: „Another beautiful book by David Almond for teenagers with yearning hearts. Surprising, perfect and mysterious all at once”. Vielleicht ist gerade dies der Punkt – dass den Herzen die Sehnsucht verlorengeht...