11.02.2018

Aristoteles und das Mädchen

Gedanken zu einer heiligen Ontologie.


Inhalt
Vorrede
Sein, Essenz und Wesen
Platon
Aristoteles
Das Geheimnis der Individualität
Das göttliche Geheimnis
Das Seiende im einzelnen Menschen
Vom Wesen des Mädchens
Von der heiligen Kommunion
Nachwort


Vorrede

Was ist eigentlich die Wirklichkeit und was ist wirklich? Diese Frage, die sich in der heutigen Zeit vor allem in Medienkritik, Verschwörungstheorien und Deutungen des Weltgeschehens und seiner Hintergründe („die Absichten der Russen“ etc.) ausdrückt, geht eigentlich viel tiefer. Sie wurde bereits von den großen griechischen Philosophen in einer Weise aufgeworfen, die uns auch heute noch zutiefst beschäftigen könnte, weil sie unendlich viel zu lehren hat.

Es gibt dann die Begriffe der „Platoniker“ und „Aristoteliker“, doch es würde von einer Verachtung gegenüber dem menschlichen Geist zeugen, wenn man diese salopp und ohne jegliche Gründlichkeit mal eben „in Anwendung bringen“ würde – etwa, indem man Verschwörungstheoretiker und Platons Höhlengleichnis miteinander assoziiert. So, wie Platon das Wirkliche hinter den Erscheinungen sah, so sollen die Verschwörungstheoretiker die wirklichen Ursachen verborgen hinter der täuschenden Sinneswirklichkeit vermuten. Dieser Ansatz mag mit Platon mehr zusammenstimmen als mit Aristoteles, dennoch zeugt ein solcher Vergleich von der Dekadenz des menschlichen Geistes überhaupt, denn sowohl Platon als auch Aristoteles ging es um ganz andere, viel grundlegendere, essenziellere und damit auch heiligere Fragen. Es ging ihnen um wahre Ontologie – um eine Frage nach dem Seienden überhaupt, und zwar in höchstem Sinne.

Wer auf einer derart „vulgären“ Ebene von Platonikern und Aristotelikern spricht, der hat nichts verstanden. Vor allem beweist er, dass er beide Strömungen durch die Tat verspottet – denn beide Strömungen sind Strömungen von Geistsuchern. Das ist das Gegenteil schneller, dahingeworfener Interpretationen, Assoziationen und Zuordnungen. Die Ehrfurcht vor dem Geist, als Bedingung jeder wahren Suche, beginnt mit dem Ernst. Die schnellen Deutungen verspotten den Geist jedoch, weil sie sich immer schon als „wissend“ gebärden – in ihrer schnellen, salopp dahinwerfenden Haltung jedoch nur ihr eigenes Wesen offenbaren.

Etwas mag sogar „richtig“ sein, und man kann sich im selben Moment dennoch an der Wahrheit versündigen. Möglicherweise folgen Verschwörungstheoretiker eher einer „platonischen“ Haltung – dennoch ist jede im oben angedeuteten Sinne dahingeworfene „Etikettierung“ ebenso geistfeindlich wie die umherwuchernden Verschwörungstheorien selbst. Der Geist wird in beiden Fällen mit Füßen getreten. Letztlich verbreitet der etikettierende Geistfeind auch nur eine neue Verschwörungstheorie: „Seht doch nur, diese abgedrehten Platoniker!“ Die Verschwörungstheoretiker haben mit Platon ebensowenig zu tun wie der so herablassend Etikettierende mit Aristoteles. Wäre es ihm mit dem Geist und mit der Frage von Platon und Aristoteles auch nur ansatzweise ernst, würde er viel, viel mehr Gründlichkeit und Sorgfältigkeit entfalten.

Aber wenden wir uns nun den wahrhaft grundlegenden Fragen zu, die Platon und Aristoteles wie in einem heiligen Geistesbund aufgeworfen haben – die Grundfragen des Erkennens und nach dem Sein überhaupt.

Sein, Essenz und Wesen

Platon und Aristoteles stellten die Frage nach dem, was eigentlich das wahrhaft Seiende ist. Was ist das wahrhaft Seiende? Und was ist nicht wahrhaft seiend, sondern abgeleitet, nur dank dem wahrhaft Seienden seiend? Sie suchten nach dem Geheimnis des Seienden und des Seins – und nach einem klaren Erkennen.

Wer diese Fragen nicht mehr in all ihrer Tiefe und reinen Radikalität in sich bewegen kann, ist so gesehen weder Platoniker noch Aristoteliker, höchstens etwas Abgeleitetes, ein später Nachfolgling, in dem sich diese heiligen Fragen völlig verlieren, im Sande verlaufen. Er mag sich dann sehr „wirklichkeitsnah“ vorkommen – aber vielleicht ist er dies nur deshalb, weil die äußere, sinnliche Wirklichkeit sich immer weiter von dem Essenziellen entfernt...

Der zentrale Begriff sowohl bei Platon als auch bei Aristoteles und das zentrale Ziel ihrer Suche war dasjenige, was mit dem griechischen Worte ousía (οὐσία) ausgedrückt ist. Die wörtliche Übersetzung ist „Seiendheit“, und damit gemeint ist sowohl „Sein“ als auch „Wesen“, bei Aristoteles übersetzt man es oft auch mit „Substanz“.

Was ist der Unterschied zwischen Sein, Wesen, Substanz oder auch Essenz? In solche Fragen eintauchend würde man bemerken, wie das Denken lebendig wird, regsam, beweglich. Man würde merken, dass hierin wirkliche Fragen liegen – essenzielle Fragen, ganz und gar grundlegende Fragen. Fragen die die Selbsterkenntnis und die Erkenntnis überhaupt von allem betreffen, ja sogar die nach dem Wesen von Erkenntnis und Erkennen.

Platon und Aristoteles suchten gewissermaßen das „Eigentliche“, dasjenige, das wahrhaft Sein hat – während das, was dann noch dazukommt, nicht wahrhaftes, bleibendes, ewiges Sein hat, sondern zum Beispiel nur ein „Attribut“ oder „Akzidens“ ist, dessen Dasein oder Wegfallen für das eigentliche Sein keine Bedeutung hat.

Welche tiefgehenden Implikationen dies hat, kann man sich zum Beispiel an der Frage verdeutlichen, mit der man diese Grundfrage mit dem eigenen „Sein“ verknüpft: Was ist eigentlich an mir wahrhaft seiend, wesentlich, wesenhaft, essenziell? Man merkt, dass man hier an die Frage herankommt: Wer bin ich? Und was heißt das überhaupt? Worum geht es bei dieser Frage eigentlich...

Platon

Platon führte den Begriff der ousia in die Philosophie ein. Er stand vor der Frage, was das eigentlich Seiende ist, während die wahrnehmbaren Dinge und Wesen doch der Veränderung und Vergänglichkeit unterworfen sind. In Bezug auf diese Sinnesobjekte kam er zu der Antwort, dass ihr Seiendes die jeweilige Art ist, der sie angehören, solange sie überhaupt existieren. Platon ist ein Mensch – und das Seiende an ihm ist eben dies: Mensch. Das Wesen dieses Seienden ist für Plato unveränderlich und überzeitlich – die Idee. Diese geht dem einzelnen Sein also voraus, und die Sinnesdinge haben an der Idee nur Anteil (methexis), sind eben Einzeldinge „ihrer Art“, die nur ein vergängliches und „bezügliches“ Dasein haben, das ihnen durch ihre Beziehung zu der Idee zukommt. In ihnen ist das unteilbare, unveränderliche und ewige ousia der Idee zum teilbaren (vervielfachten), vergänglichen ousia geworden.

Eine vermittelnde Stellung hat in Platons Dialog „Timaios“ die Weltseele und letztlich auch die menschliche Seele. Letztlich ist auch sie unsterblich und gehört zum Bereich des „Intelligiblen“ (Geistigen). Individuell gedacht ist dies bei Platon jedoch noch nicht wirklich – es ist eine Vervielfältigung der Idee.

Eine Sonderstellung nimmt bei Platon die Idee des Guten ein. Nach Platon verleiht sie allen anderen Ideen deren ousia und ist selbst das höchste Prinzip. Im sechsten Buch seiner „Politeia“ (im siebten folgt dann das Höhlengleichnis) lässt Plato Sokrates die Frage nach dem Guten mit dem „Sonnengleichnis“ erläutern. Hiernach unterscheidet sich der Sehsinn von allen anderen Sinnen dadurch, dass er seinen Objekten erst über ein zusätzliches Element, das Licht, begegnen kann. Das Licht und die Sonne aber sind Abkömmlinge des Guten. Das Auge kann seine Sehkraft erst entfalten, wenn die Gegenstände vom Licht beschienen werden. Im Geistigen nun ist die Vernunft (nous) die Sehkraft, das Gute aber die Lichtquelle. Wenn die Seele sich mit dem Vergänglichen befasst, das vom Guten relativ weit entfernt ist, kann sie nicht zu richtiger Erkenntnis gelangen.

Das Auge ist zwar sonnenhaft, aber es ist nicht die Sonne. Vernunft, Erkenntnis und Wahrheit sind zwar dem Guten ähnlich, dennoch steht das Gute über ihnen und übertrifft sie an Schönheit – und verleiht erst dem Erkennbaren die Erkennbarkeit und Wahrheit und dem Erkennenden die Erkenntnisfähigkeit. Aber nicht nur das: sondern so, wie die Sonne nicht nur Sichtbarkeit, sondern auch Leben schafft, so verleiht das Gute dem Erkennbaren sogar sein Dasein und Wesen.

In seinem späten Dialog „Sophistes“ kommt Plato zu Gedanken, die das „Ewig-Unveränderliche“ der Ideen fruchtbar ergänzen. Die zentrale Rolle hat hier ein Fremder aus Elea (der Heimat von Parmenides und Zenon). Dieser Fremde entlarvt zunächst das Wesen des Sophisten als bloße Gedankengaukelei (und wir können aus heutiger Sicht sagen: als zunehmend abstraktes Begriffsturnen, das jederzeit alles „beweisen“ kann). Hier muss der Fremde also der Lehre des Parmenides widersprechen, der vertreten hatte, dass das Nichtseiende in keiner Hinsicht existiert. Die Lüge aber (und wir können hinzufügen: Fake News etc.) kann aber sehr wohl in gewisser Weise Existenz gewinnen, obwohl sie dem Nichtseienden angehört.

Ein weiteres Problem betrifft die Frage nach der Einheit oder der Vielheit des Seienden. Heraklit und Empedokles nahmen hier bereits ein Wechselspiel an, wodurch aber die Vorstellung des Werdens hinzukam.

In Bezug auf das Seiende weist der Fremde darauf hin, dass man die gemäßigten „Materialisten“, die der Seele oder einer Tugend durchaus Existenz zugestehen, darauf hinweisen kann, dass es ein immaterielles Seinsprinzip gibt, etwa die dýnamis (Kraft, Fähigkeit, Vermögen). Seiend ist alles, was auf etwas anderes einwirken oder eine solche Einwirkung erfahren kann. Die „Ideenfreunde“ wiederum trennen unveränderliche Ideenwelt und materielle Werde-Welt. Dagegen argumentiert der Fremde, dass bereits Erkennen und Erkanntwerden eine Einwirkung sei und dass das wahrhaft Seiende auch Leben, Beseeltheit und Denken habe. Das Sein umfasse also sowohl Statisches als auch Bewegung.

Und nun nennt der Fremde fünf zentrale Begriffe, nämlich das Sein, Bewegung, Ruhe, das Selbe und das Verschiedene. Das Seiende und auch da Nichtseiende offenbart sich als Beziehungsgeflecht dieser. So etwa hat die Bewegung, insofern sie mit sich selbst identisch ist, nicht nur Verschiedenheit (Veränderung), sondern auch Selbigkeit. Auch hat sie Sein, aber sie ist nicht das Sein, hat insofern auch Nichtsein (Verschiedenheit vom Sein selbst). Auch das Nichtsein ist, weil es überall die Verschiedenheit gibt (also zugleich all das, was nicht ist). In einem Irrtum oder einer Lüge verbindet sich etwas Nichtseiendes mit Rede und Gedanken – wodurch es, gemeinsam mit dem Irrtum oder der Lüge zugleich etwas Seiendes wird.

Aristoteles

Aristoteles drehte nun die Anschauung Platons gewissermaßen um. Für ihn war das wahrhaft Seiende zunächst nicht die Idee sondern das sinnlich Einzelne – „dieser Mensch“, „dieses Pferd“, wie er sagt. Das Einzelne liegt diesem Sein zugrunde, ist seine Substanz. Daher wurde im Anschluss an Aristoteles ousia im Lateinischen auch mit substantia wiedergegeben, zugleich aber auch mit dem extra dafür geschaffenen Substantiv essentia (Sein, Wesen, Washeit) [o].

In seinem Buch über die Seele (Perí psychḗs, De anima) definiert Aristoteles die Seele als „Entelechie“ eines organischen Körpers. Der Körper ist potenziell lebensfähig, die Seele, von ihm nicht trennbar, ist dessen Form und verwirklicht diese Potenzialität. An Seelenvermögen unterscheidet er das vegetative (Pflanze: Fortpflanzung, Wachstum, Stoffwechsel), das sensitive (Tier: Sinneswahrnehmung) und das intellektuelle (Mensch: Vernunft). Für die Vernunft braucht es das Vermögen zur Vorstellungsbildung (phantasía), ein Strebevermögen (órexis) und dann konkret die passive, potenzielle Vernunft (nous pathētikós, intellectus possibilis) als das die Sinneseindrücke vermittelnde Vorstellungsvermögen und die aktive, wirkende Vernunft (nous poiētikós, intellectus agens) des tätigen Denkens, Schließens usw. – Aristoteles hielt diese Seele mit dem Körper für sterblich, nur der nous poietikos war für ihn unvergänglich, aber gerade nicht individuell. Deshalb sah Aristoteles im menschlichen Geist auch kein angeborenes, vorgeburtliches Wissen (anders als Sokrates und Platon, und schon das griechische aletheia, Wahrheit, ist im Grunde die Negation der lethe, des Vergessens), sondern zunächst eine „tabula rasa“.

Kehren wir jedoch zur Frage nach dem Sein zurück. Diese ist bei Aristoteles durchaus komplex – und nicht ohne Widerspruch. Eine gute Konzentration der schwierigen Fragestellung bietet eine im Internet frei zugängliche Seminararbeit, auf die ich mich im Folgenden beziehe (Katja Weber: Der Begriff von eîdos und ousía bei Aristoteles).

Für Aristoteles gab es insbesondere drei Kriterien für das Seiende der ousia: Sie soll zugrundeliegend, selbstständig und bestimmbar sein. In seinem Werk über die „Kategorien“ unterscheidet Aristoteles nun wie angedeutet das bestimmte Einzelding (dieses Pferd) als erste Substanz, demgegenüber die Art eîdos oder Gattung génos als zweite Substanz (Pferd, Lebewesen) nur sekundär ist.

In seinem späteren Hauptwerk, der „Metaphysik“, ist der Gegensatz zu Platon jedoch keineswegs mehr so eindeutig. In Abschnitt Z 3 sieht er zunächst drei Kandidaten für das „Zugrundeliegende“ (hypokeímenon) der ousia: den Stoff (hýle), die Form bzw. Art (eîdos) und das aus beiden gemeinsam Hervorgehende (sýnholon). Der bloße Stoff aber ist nicht selbstständig und auch nicht bestimmbar, er ist ousia nur „der Möglichkeit nach“. Das reine eidos wiederum kann nicht Träger der Attribute sein, und das synholon ist zusammengesetzt und vergänglich. Es ist aber nun in der „Metaphysik“ die Form eidos, die aus dem allgemeinen Substrat ein bestimmtes Einzelding hervorbringt (1033a31) und im Grunde dessen „Wesenswas“ (tí ên eînai) ist (1032b1, 1035b33). Nun bringt er das eidos mit der „ersten Substanz“ in Verbindung.

In Z 13 sagt er aber wie in den „Kategorien“, dass nichts Allgemeines Substanz sein könne, „die erste Wesenheit eines jeden Einzelnen ist diesem Einzelnen eigentümlich und findet sich nicht noch in einem anderen“ (1038b10). Sie sei das, was nicht von einem Substrat ausgesagt werde (1038b15). Es ist aber gerade das Individuelle, was nicht definierbar ist (Z 15). Am Ende von Z 8 wiederum betont er das eidos als unteilbar und dasselbe in den konkreten Dingen derselben Art, die nur dem Stoff nach verschieden sind (1034a6f). In Z 12 wieder heißt es, dass sich die Art eidos aus der Gattung und dem jeweiligen Unterschied zusammensetzt (also z.B.: Ein Mensch ist ein Lebewesen, das...). Das eidos ist aber aus den Einzeldingen lediglich begrifflich abtrennbar.

Allerdings ist die Problematik hier wie in den „Kategorien“ die, dass ich von „diesem Menschen“ gar nicht sprechen kann, wenn ich nicht bereits den Begriff (eidos) Mensch habe. Ohne diesen wäre auch „dieser Mensch“ nur ein unbestimmtes Etwas. Das eidos ist auch mehr als ein Attribut, denn ein weißer Mensch ist nicht das Weiß, sehr wohl aber ein Mensch. Es gibt also zumindest akzidentielle und substanzielle Prädikate. Man kann das eidos, die Art, als „subjekt-konstituierendes“ Prädikat bezeichnen – Prädikat für den Stoff, aber konstituierender Daseinsgrund für das Einzelding (ein Mensch ist immer Mensch).

Problematisch ist nun, dass Aristoteles, der die Einzeldinge in Z 8 als nur dem Stoff nach verschieden bezeichnet, das Individualisierende dem Stoff beilegt. Die unteilbare Form (eidos) sichert die Wesensbestimmung (Mensch), der Stoff die Individualität (dieser Mensch). Zwar beschreibt Aristoteles auch die Seele als die am Stoff verwirklichte Form (1037a21-b7), aber warum dies zu einem individuellen Einzelding führt, kann er nicht erklären. Das eine ist die individuelle äußere Gestalt (morphé), aber auch die Seele hat ja eine individuelle Gestalt...

Das Geheimnis der Individualität

Auch Aristoteles konnte das Geheimnis der Individualität noch nicht lösen – aber er betonte bereits das konkrete „dieses“, in allem. Es ist gleichsam wie eine Vorbereitung, wie wenn er sagen wollte: Schaut auf das Geheimnis des in der Materie wirkenden und sich offenbarenden eidos und was dies bedeutet!

Aber Aristoteles konnte dieses Geheimnis noch auf keinen Fall entschleiern, denn es war ja noch gar nicht auf Erden angekommen! Tatsächlich begann die Menschheit erst, individuell zu werden und dieses Geheimnis überleuchtete sie erst wie eine Morgenröte. Und doch ringt diese ganze große Philosophie, ringt Aristoteles um diese Frage – die Frage nach dem individuellen eidos, der erst die eigentliche Idee der Individualität zur Offenbarung bringen würde. Und die Studentin, deren Arbeit ich hier zu Hilfe nahm, formuliert diese Fragen dann am Ende – ohne sie beantworten zu können: „Was konkret ist unter ,Form’ zu verstehen, wenn weder der Artbegriff noch die sinnliche Gestalt? Und: Wie soll etwas Individuelles ewig, sowie einheits- und daseinsverursachend sein?“

Allerdings gibt sie auch einen wesentlichen Hinweis in ihrem in folgenden Worten formulierten Fazit: „In letzter Konsequenz münden so auch alle Bedeutungen und Merkmale der ousía in einem einzigen Kandidaten: dem sýnholon. Zum Schluss ist dieses somit doch die erste ousía, nicht aus dem einfachen Grund, weil es ist, sondern weil alles andere – selbst das eîdos – nur deswegen ist, damit dieses existieren und etwas Bestimmtes sein kann.“

Was sie damit zum Ausdruck bringt, ist, dass der Zweck des Urbildes (hier: des Menschen) die Erscheinung des Einzelnen und Bestimmten ist. Das Urbild hätte keinen Sinn, wenn es sich nicht in Vielfalt offenbaren würde.

Dies löst aber noch immer nicht die Frage nach dem primär Seienden. Ein Zusammengesetztes kann nicht primär sein – es kann vielleicht das ursprüngliche Ziel der Götter sein, aber selbst dann hätten zuvor, damit es einst erscheinen kann, die Urbilder (die Form) und die Materie (das Formlose) geschaffen werden müssen.

Damit etwas zur Erscheinung und Wirklichkeit kommen kann, müssen zuvor die Bedingungen da sein – andernfalls würde es aus dem Nichts erscheinen. Die Bedingungen sind einerseits, für alle „Sinnesdinge“ (Leiblichkeit) materiell – es muss die Materie geben –, andererseits ideell. Der Löwe kann nicht erscheinen ohne die Idee des Löwen – es sei denn, man geht von einer rein materialistisch-zufälligen „Entwicklung“ aus, in der irgendetwas entsteht, was die Menschen dann „Löwe“ nennen. Und das Charakteristische ergibt sich aus einer irgendwann zufällig entstandenen Möglichkeit der relativen Aufrechterhaltung der „Selbigkeit“ (DNA, Prinzip der Vererbung und Reproduktion, all dies zufällig entstanden). Ferner müssten zufällig alle weitere Lebensprozesse entstanden sein, zuletzt dann auch zufällig etwas, wodurch dasjenige, was dann der Mensch wurde, erkennen kann, Dinge einordnen, urteilen, logisch schließen, und auch Selbst-Bewusstsein entwickeln. Dies alles bräche aber mit dem Tod vollkommen zusammen, da es keine ontologische Grundlage hätte, sondern nur eine materielle.

Wenn es also nicht dieses materialistische „Wunder aus dem Nichts“ sein soll, gibt es nicht-sinnliche Bedingungen, die das Erscheinen ermöglichen – sowohl das Erscheinen der nicht-menschlichen Vielfalt als auch das Erscheinen des Menschen. Und wenn es das Geheimnis der Individualität gibt, dann muss es auch Bedingungen dafür geben, dass dieses existiert und sich ... verwirklichen kann, da durchaus nicht von vornherein gilt: „Mensch = individuell“, wie wir aus auch leidvoller historischer Erfahrung wissen.

Letztlich braucht es für das volle Erfassen dieser heiligen Wirklichkeit einen neuen Bund zwischen Aristoteles und Platon. Aristoteles wies mit Macht auf das ungeheuer Wesentliche des konkreten „Dieses“ hin – aber der Blick muss genauso auf die geheimnisvollen Gründe gerichtet werden, warum es überhaupt ein solches „Dieses“ gibt. Das „Dieses“ ist keineswegs nur ein Nebenprodukt ewig waltender Ideen, die in ewigem Kreislauf in der Materie spielen, aber ebensowenig beruht es einfach so auf sich selbst, ohne dass es sich einem ungeheuren, bis in höchste, ewige Sphären reichenden Wirken verdanken müsste. Die heilige Kunst des Erkennens ist es, dies beides in einen immer heiligeren Zusammenhang zu bringen.

Das göttliche Geheimnis

Goethe schrieb: „Wär nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt es nie erblicken.“ – Natürlich hat dieser konkrete Mensch Augen – aber warum? Und warum hat der andere Mensch auch Augen? Was ist ursprünglicher? Der konkrete Mensch, der in seiner Leiblichkeit doch auch erst aus Eltern hervorging, oder der Mensch überhaupt? Wenn aber der Mensch überhaupt – wie entsteht dann das Geheimnis der Individualität, der realen Vielfalt (und nicht nur der Vervielfältigung)?

Goethe schrieb weiter: „Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft, Wie könnt uns Göttliches entzücken?“ – Das bedeutet, die Gottheit hat etwas in uns hineingelegt, wodurch in uns eine tiefe Sehnsucht danach lebt, eine tiefe Beziehung, eine tiefe Freude – das Empfinden einer Heimat und eines höchsten Zieles.

Nichts kann je entfaltet werden, was nicht bereits irgendwie als Möglichkeit veranlagt ist. Und sei es, dass man sagt, im Menschen ist das Schöpfertum selbst veranlagt! Schon dann wäre die heilige Frage: Wer hat dies veranlagt – wie kommt diese heilige Anlage in das Wesen Mensch hinein...?

Mit diesem Schöpfertum wäre aber bereits das Geheimnis der Individualität verbunden. Denn Schöpfertum bedeutet, ein Schaffen gleichsam aus dem Nichts. Dasjenige aber, was ein Mensch dann schafft, schöpferisch, unterscheidet ihn von allen anderen – denn andernfalls wäre es per Definition nicht schöpferisch gewesen, und sei es auch nur in bestimmter Hinsicht. Schöpfertum und Individualität bedingen einander. Mag Individualität noch etwas anderes sein können, Schöpfertum gebiert Individualität definitiv und setzt diese voraus. Und wenn dieses Schöpfertum in jedem Menschen veranlagt ist, würde dies bedeuten: diese Veranlagung ist gerade das Nicht-Individuelle, das allen Menschen Gemeinsame, das, was den Menschen zum Menschen macht. Was ist der Mensch? Der mögliche Schöpfer...

Und was anderes soll es bedeuten, wenn der Mensch als ein „Ebenbild Gottes“ geschaffen ist? Es kann nur bedeuten, dass dieses Wesen Mensch zum Schöpfertum berufen ist – und dass man um so mehr Mensch wird, je mehr man dieses in einen selbst und auch in alle Mitbrüder und Mitschwestern hineingelegte Geheimnis wahrmachen kann.

Der junge Steiner war vom tiefen, essenziellen Erleben der Begriffe und Ideen so ergriffen, dass er sich in diesem Erleben als eins mit dem Weltengrund empfand. Und dieses Erleben ist ein Wahres, denn man ist im Erleben der Ideen mit dem Weben der göttlich-geistigen Welt zutiefst verbunden. Sind sie doch bereits das sonnenhafte, lichte Reich dieser Welt – auf einer ersten, aber tief bedeutsamen, wesenhaften Stufe. Und doch blieb Steiner hier nicht stehen, sondern sein Erleben wuchs in die Tiefe, in die Höhe, in die Weite. Und immer mehr offenbarte sich ihm die Wesenhaftigkeit von allem. Auch die Ideen waren nur Offenbarungen noch höherer Wirklichkeiten, Wesen. Und die höchste Idee, die Idee der Idee, das ur-heilige Prinzip des Erkennens, und die andere höchste Idee, die schon Platon kannte, die Idee des Guten ... sie waren Offenbarungen eines allerhöchsten Wesens.

Und dieses Wesen war nicht ewig-unveränderlich, sondern es kam näher, kam im Laufe der Menschheitsentwicklung der Menschheit immer näher, bis es dieses allerheiligste Geheimnis mitten in die Erdenmenschheit hineinsenken konnte, zusammen mit dem heiligen Ur-Geheimnis der Freiheit. Und es senkte all dies in diese Erdenmenschheit hinein, indem es all diese Geheimnisse in höchster Wahrheit selbst wahrmachte, und zwar zugleich nicht nur Gott bleibend, sondern auch selbst Mensch werdend...

Es gäbe die Freiheit nicht, wenn sie nicht gegeben worden wäre. Es gäbe die Möglichkeit der Befreiung von allen Bindungen nicht, wenn sie nicht im Laufe der Menschheitsentwicklung in diese Menschheit hineingesenkt worden wäre. Und es gäbe weder Freiheit noch Liebe, wenn die Menschheit nicht mit einem Wesen verbunden wäre, dass der wesenhafte eidos dieses Wunders ist. Und wenn dies, Freiheit und Liebe, den Menschen ausmacht, dann ist dieses heilige Wesen DER Mensch... Der Menschensohn, wobei er aus dem Zukunftsstrom kommt, also allen vorangeht, die nach ihm kommen werden. Der Sohn wird nicht geboren, er gebiert selbst – auf dass das, was er in die Welt bringt, auch in allen anderen Menschen geboren werden könne...

Das Seiende im einzelnen Menschen

Was also ist das Seiende im einzelnen Menschen? Das ist die Frage. Es ist eine heilige Frage. Ohne den Gedanken der Reinkarnation kann eine christlich-religiöse Anschauung immer nur dazu kommen, dass die einzelne Seele vor der Geburt von Gott geschaffen wurde – und ihr Leben lebt, bis sie schließlich stirbt und ihr Leben nach dem Tod, spätestens am Ende der Zeiten, beurteilt werden wird. In diesem einen Leben kann die Seele dann gottgefällig leben oder auch nicht. Was sie ausmacht, ist ihr Sein als gottgeschaffene Seele und sind dann ihre Taten – wandelnd auf Gottes Pfaden oder aber abirrend auf die große Straße der Gegenmächte.

Eine ungeheure Weitung dieser Frage erfährt alles, wenn der Gedanke der Reinkarnation hinzutritt. Nun erst tritt wirklich auch der Gedanke der Entwicklung in das Menschenleben hinein. Sicherlich – eine Seele kann sich in einem einzigen Leben unendlich entwickeln. Aber jahrhundertelang wurde in Anschauung dieses einen einzigen Lebens immer nur gefragt, ob die Seele gute oder schlechte Taten vollbringt, nie wirklich, ob und in welche Richtung sie sich entwickelt. Es wurde auch nicht gefragt, was diese Seele ist. Natürlich wusste man immer, dass es darauf ankommt, die Tugenden in sich aufzunehmen, die Sieben Künste zu studieren und seine Seele so zu einer möglichsten Vollkommenheit zu bringen. Und doch lag der Schwerpunkt auf diesem „Inhalt“. Es war klar, dass die Seele diesen „Inhalt“ möglichst umfassend aufzunehmen habe, um eine „gottgefällige Seele“ zu sein. Es wurde mehr als eine Aufgabe empfunden – weniger wurde empfunden, was all diese Inhalte mit der Seele machen.

Die tiefe Anschauung der Reinkarnation, die Rudolf Steiner mit den Geheimnissen des Christentums in eine unverbrüchliche Verbindung brachte, führten diese Frage in eine neue, unglaubliche Weite. Mit ihr verbunden war eine neue Erkenntnis von Geistindividualität und Seele. Und die Seele war nicht mehr nur dasjenige, was nach einem Leben vor dem Gericht Gottes stehen würde; sie war auch nicht nur das Vergängliche – sondern es tat sich neu und weltenweit die Frage auf: Was ist vergänglich ... und was gewinnt einen Anteil an der unsagbaren Unvergänglichkeit? Das Geheimnis von Seele und Geist, verschüttet und vernichtet mit dem Konzil von Konstantinopel, wurde erneut in die ahnende Erkenntnis der Menschheit geführt. Seele und Geist ... und die Frage: was in der Seele gewinnt Anteil an dem Leben und Weben, dem Sein und Werden der Ewigkeit? Was ist es...

Das Geheimnis der Individualität – in der Anthroposophie wurde es offenbart. Nun kann es in immer tieferem Erleben geahnt und begriffen, im lebendigen Begreifen und in lebendigen Begriffen erfasst werden. Das geheimnisvolle Ich ist unvergänglich. Die Seele ist vergänglich. Aber es gibt etwas in ihr, das an der Unvergänglichkeit Anteil gewinnt, am Geheimnis des Geistes. Es ist jener Anteil der Seele, die aufhört, nur Seele zu sein – und die beginnt, Geistsseele zu werden...

Aber was heißt das? Wie heilig ist diese Frage? Welch unendliche Bedeutung müsste man ihr beimessen? Was von den Tagesereignissen, was vom Weltgeschehen hat im Lichte der Ewigkeit Bedeutung? Was verwandelt die Seele von etwas Vergänglichem, einem nur in dieser einen Inkarnation angenommenen Charakter, Temperament, scheinbarem „Wesenszug“ in etwas, was wahrhaft Anteil an der Ewigkeit gewinnt?

Welche Bedeutung haben kurzfristige Analysen des Politischen? Welche Bedeutung hat das Starren in die äußere Sinneswelt? Welche Bedeutung haben kleinliche Auseinandersetzungen? Wo macht der einzelne Mensch aus seiner Seele ein Sammelbecken belangloser, absolut vergänglicher Gedanken und Empfindungen? Wo wird seine Seele dadurch etwas, was nach dem Tode vergeht, völlig, weil es vor dem Lichte der Sphäre des Ewigen nicht bestehen kann, allenfalls in karmischen Verstrickungen als Extrakt zurückbleibend, das am Ende des Weges, vor einer neuen Geburt wieder aufgenommen werden muss? Wie sehr machen wir aus unserer Seele einen Hort absoluter Vergänglichkeit?

Durchdringen wir unsere Seele mit dem Licht der Ewigkeit, wenn wir spotten? Abfällig sprechen und urteilen? Oder präparieren wir mit vulgären, gewöhnlichen Gedanken unsere Seele nicht gerade für die Vergänglichkeit, für das absolut Wesenlose? Und wann tun wir das Gegenteil? Was darf wirklich durch die heilige Pforte des Todes treten? Was wird hindurchtreten dürfen und hinter dieser Pforte nicht abgelegt werden müssen, sondern bleiben dürfen, weil es Anteil gewonnen hat an demjenigen, was hinter dieser Pforte Bestand hat, bestehen kann?

Vom Wesen des Mädchens

Die führenden Platoniker der Schule von Chartres, die die Sieben Künste pflegten, wussten gewiss in innerem Erleben, dass in dieser Pflege die Seele zugleich das Ewige pflegte, sich mit diesem durchdrang. Gleiches galt für die Tugenden. Was ist Gerechtigkeit? Was ist Besonnenheit? Wenn man diese Fragen nicht nur rein intellektuell verfolgte, sondern sich mit ihrer Essenz durchdrang, in dem heiligen Willen, sich mit diesen Tugenden zu durchdringen und ihr Wesen in sich aufzunehmen – dann durchdrang man sich mit Ewigkeitskeimen, man taufte sich mit heiligem Geist...

Und dann gibt es einen Vortrag von Rudolf Steiner, wo er davon spricht, dass es nicht reicht, selbst Ideale nur abstrakt lebendig in sich aufzunehmen, sondern dass das wirklich christliche Erleben erst dann anbrechen wird, wenn die Ideale in wahrhaft individueller Weise in der Seele Leben gewinnen, wenn also bis in das geistige Leben hinein das tiefe, heilige Geheimnis der Individualität einziehen wird. Selbst die Ideale werden dann durchchristet werden – weil in ihnen das Geheimnis der Individualität aufleuchten wird.

Aber wie lahm sind die Flügel der modernen Seele überhaupt schon geworden! Wo strebt sie denn überhaupt noch nach einer Durchdringung ihres Wesens mit einem einzigen Ideal? Mit einer einzigen Tugend? Welche Tugenden oder Ideale liegen ihr denn überhaupt noch ... am Herzen? So sehr, dass sie sie in sich Leben gewinnen lässt?

Wie sehr steht im Gegensatz dazu das Mädchen! Jenes urbildhafte Geschöpf, dessen Seele nicht müde wird, nicht einmal mit einem Hauch seines Wesens, das Gute zu wollen – und auch zu tun. Mögen seine physischen Kräfte auch schwach sein, so ist sein Herz doch von einer Kraft, die zu jenen Bergen dort sprechen könnte: Hebet euch ins Meer, und sie würden es tun! Im Herzen des Mädchens lebt eine ur-sanfte und zugleich unbesiegbare Hoffnung auf das Gute, und zugleich selbst der ur-gute Wille. Und dieser Wille ist nichts anderes als sanfte Liebe, liebende Sanftheit, aber von einer heiligen Kraft, die Tausende, ja Millionen anderer lauer Herzen und Seelen aufwiegen würde...

Wie könnte man je etwas anderes annehmen, als dass, wo eine solche heilige Kraft des Guten lebt, in dem aufrichtigen Herzen des Mädchens, diese Kraft nicht vollkommen individualisiert wäre? Sie ist es. Das Mädchen macht gerade wahr, was das christliche Zukunftsideal ist: das bedingungslose Sich-zueigen-Machen des Guten... Das Mädchen tut nichts, weil es muss – es tut alles nur, weil es will. Das ist das Geheimnis der Individualität.

Man möchte an den Johannes-Prolog denken: „Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf.“ Allen aber, die Ihn aufnahmen, gab er die freie Kraft, Gotteskinder zu werden. – Man kann sagen: Das Mädchen ist in voller Wahrheit ein Gotteskind. Denn in seinem Herzen lebt Gott selbst, als in seinem Eigentum, und das Herz des Mädchens hat ihn aufgenommen. Und mit ihm lebt im Herzen des Mädchens die Liebe, die Sanftmut, die Ehrfurcht, die Hoffnung, der Glaube, die Liebe ... mit ihm lebt im Herzen des Mädchens alles, was die Seele zu einem Gotteskind werden lässt. Und es ist Gott selbst, und es ist zugleich das Mädchen. Es ist das Mädchen, das dem Gotteslicht in seinem Herzen immer wieder neu Wohnung gibt, in jedem Moment. Dies ist das tiefste Geheimnis des Christentums – das individualisierte Wunder. Das Sich-zur-Braut-Machen der Seele ... und das vollkommene Sich-Durchdringen mit dem heiligen Geheimnis des Guten durch die bedingungslose Liebe zum Guten...

Von der heiligen Kommunion

Wenn ich in einem Moment der Gerechtigkeit zuneige und im nächsten Moment wieder ungerecht bin, hat die Gerechtigkeit an mir keinen wahren Anteil. Sie ist ein vergängliches Attribut und gehört nicht zur Substanz, zum  wahrhaft Seienden (ousia) meiner Seele. Ich habe sie nicht mit mir vereint. Vielleicht übe ich sie, vielleicht spiele ich auch nur mit ihr – vielleicht gefällt sie mir in einem Moment, oder ich gefalle mich in ihr, übe sie selbstgefällig, um meines Selbstbildes willen. Ich schmücke mich mit ihr, obwohl sie nicht zu meinem Wesen und eidos gehört. Sie bleibt mir äußerlich. Ich mag von Moment zu Moment bisweilen Gerechtigkeit üben, aber ich bin kein Gerechter.

So ist es mit allen Tugenden. So ist es mit den heiligen Dingen. Sie werden erst dann wesenhaft und essenziell, wenn es einem mit ihnen ernst wird. Erst dann können sie beginnen, in das eigene Wesen überzugehen. Eine Idee wird nur dann zu einem Ideal, wenn man sich mit ihr bis in seinen Willen hinein durchdringt. Mit dem Willen ist aber das Geheimnis der Individualität verbunden – diese lebt geheimnisvoll in dem tiefsten Willen des Menschen. Ein Ideal gewinnt also Anteil an der Wesenssphäre des Unvergänglichen. Und es tut dies um so mehr, je mehr es wahrhaft individualisiert wird, alle Abstraktheit ablegen kann, wirklich innig eintaucht in den individuellen Willen dieses bestimmten Menschen...

Aber so, wie ein Ideal durch die wahrhaftige Aufnahme in den Willen gleichsam in die Individualität hinein getauft wird, so ist es auch umgekehrt: Erst durch die heilige Durchdringung des Willens mit etwas, was aus der Sphäre des Unvergänglichen kommt, wird dieser Wille ... mit Individualität getauft. Er wird erst individuell, indem er individuell etwas Unvergängliches aufnimmt. Vorher, ausgefüllt mit dem Vergänglichen, befindet er sich ja noch im Reiche der Gegenmächte – und ist also gerade nicht individuell. Die Geisteswelt ist für das Geheimnis der Individualität nicht weniger wichtig als die Tatsache der Vereinzelung in einzelne Leiber. In dieser Vereinzelung muss der einzelne Mensch wieder zu einer heiligen Welt zurückfinden – oder er wird das Geheimnis der Individualität noch immer versäumen. Das Geheimnis ist, das Ewige zu individualisieren – und die Seele auf zutiefst individuelle Weise mit dem Ewigen zu durchdringen.

Dann aber ist jede wahrhafte Intuition Begegnung – die wahre Kommunion des Menschen. Nicht nur das Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit, sondern überhaupt das Gewahrwerden der Wirklichkeit der Ideen, und das Sich-Durchdringen mit diesen Ideen in moralischen Intuitionen, die zugleich Kommunionserlebnisse sind, heilige Taufen.

In der Wirklichkeit des Menschen, in seiner Seele, können die Ideen erst wahrhaft wirksam werden, wenn er sich mit ihnen bewusst durchdringt. Überall sonst wirken die Ideen auch ohne ihn in den Dingen (Aristoteles). In ihm wirken sie erst wahrhaft, wenn er sie in sich wirken lässt. Dafür aber muss er sich ihnen in ihrer reinen Heimat nähern können (Platon). Erst das Eintauchen in die Welt der Ideen kann den Himmel der Idee wahrhaft auf die Erde tragen, und dazu gehört auch der fruchtbare Boden der eigenen Seele. Sie braucht zuallererst die Befruchtung durch das Himmelsbrot, durch den heiligen Geist, durch das, dem sie sich in moralischen Intuitionen vermählt.

Aber auch das Mädchen ist ein heiliges eidos-Wesen, eine „Idee“, wenn man so will. Nur muss man diese Wesen, die sich „Ideen“ nennen, recht verstehen. Man kann sagen, jede Idee ist ein Gedanke der Engel. Niemand wird seine Seele wahrhaft mit der Idee der Gerechtigkeit durchdringen können, der zu dieser Idee nicht gleichsam ein tiefes Liebesverhältnis entwickelt. Erst hier beginnt die Individualisierung eines Ideals. Es ist eine heilige Vertiefung des Willens. Das Mädchen aber ist gleichsam ein heiliger Organismus, es vereinigt in lebendiger Weise verschiedene Ideen in sich: die Idee des Weiblichen, die Idee der Jugend und auch ihrer Bedingungslosigkeit, die Idee einer reinen, tiefen Liebe zum Guten – und dann auch noch die Idee der Individualität...

Begegnet die Seele dann diesem heiligen Urbild, dann durchdringt dieses Urbild sie in einer Kommunion, einer lebendigen Intuition, die zugleich Kommunion ist. Die Begegnung mit diesem heiligen eidos-Wesen, das das Mädchen ist, lässt die Seele nicht unverwandelt zurück, sondern verwandelt – immer wieder. Es ist ein heiliger Weg der Wandlung – der Weg der Kommunion mit dem Mädchen.

Nachwort

Wer über den hier angedeuteten Weg spotten möchte, möge das tun. Nur möge er nicht vergessen, dass wir auf Erden sind, um das Unvergängliche zu finden – und was zu dem am meisten Vergänglichen gehört, ist der Spott. Er zieht nur eine unvergängliche Spur nach sich: die Selbsterniedrigung des eigenen Seelenwesens, die auf andere Weise wieder geheilt werden muss.

Wer darauf hinweist, dass es in der geistigen Welt etwa kein „weiblich“ und „männlich“ gibt, weil dieses erst durch das Wirken der Widersacher entstanden ist, der kann sich einmal fragen, wie dies möglich gewesen sein soll, wenn es nicht auch dafür die lebendige Idee in den geistigen Welten gegeben hätte. Und wenn die Elohim den Menschen männlich-weiblich geschaffen haben, hatten sie bereits ein göttliches Bewusstsein vom Wesen des Männlichen und des Weiblichen.

Wenn man den Realismus der Idee erst nimmt, dann sind die Begriffe des Weiblichen und des Männlichen niemals leere Begriffe, sondern dann enthalten sie etwas – etwa das gegenseitig sich Ergänzende von Sanftheit und Kontur, Milde und Klarheit, ein ganz spezifisches Verhältnis auch zu Verstand und Herz, Erkenntnis und Liebe. Und wenn im Menschenwesen all dies zu einer höheren Einheit geführt werden soll, so kann diese „Polarität“ urbildlich dennoch existieren – damit die Vereinigung überhaupt möglich ist. Wäre das Menschenwesen nicht ursprünglich männlich-weiblich geschaffen, hätte es auch nie „auseinanderfallen“ können, nicht einmal auf Erden.

Würde aber das Mädchen als heiliges Urbildwesen nicht existieren, so müsste man es „erfinden“. Die Märchen aber sind zum Beispiel eben nicht erfunden, sondern es sind erlebte Realitäten gewesen. Man kann nun sagen, da sei das Mädchen mit der reinen Seele „nur“ Urbild für die reine Seele selbst. Aber es ist egal, „wofür“ es Urbild ist oder nicht ist – es ist Urbild. Und es ist nicht nur Urbild, es ist wie jedes Urbild wirkendes Urbild. Es ist nicht nur Urbild für die reine Seele, sondern es bringt auch die reine Seele – weil es sie selbst hat und weil es sie bringt. Jedes heilige eidos-Wesen bringt immer sich selbst. Das Mädchen also auch...

Das Einzige, was die Seele tun muss, ist, ein solches eidos-Wesen aufzunehmen... Dann geht Platonismus in Aristotelismus über, verbindet sich das eine mit dem anderen. All dies aber geschieht im Zeichen Christi, denn es geht um nichts anderes als um das Geheimnis der Wandlung...