04.11.2018

Der Kampf gegen das Herz

Ein Blick auf das heutige Zeitalter


Inhalt
Die Dämonen
Das reine Denken und das Herz
Der verlorene Sohn
Vom Ende der Liebe
Ahrimans Herrschaft
Die Rettung der Herzen
Idealismus oder Ahriman
Was also ist die Rettung?


Die Dämonen

Die Dämonen zeigen sich. Wir leben in einer Zeit, die über Jahrzehnte hinweg so vorbereitet wurde, dass sie sich jetzt zeigen können, ohne dass ein überwältigender Aufschrei käme – und eine ebenso überwältigende Gegenwehr, die sie hinwegfegen würde.

Heute sind es die Dämonen, die die Gegenwehr hinwegfegen. Nach Trump kommt nun in Brasilien Bolsonaro als Präsident an die Macht, der aus seinem faschistoiden Gedankengut kein Hehl macht (einige Zitate hier). Und viele Unternehmen unterstützten den Rechtsradikalen – sogar mit Kampagnen krassester Falschmeldungen über den Gegenkandidaten der Arbeiterpartei, die hunderttausendfach die WhatsApp-Accounts fluteten [o].

Der Geist der Lüge, den die Anthroposophie als „Ahriman“ kennt, verschwendet keinen Gedanken an die Wahrheit – er verbreitet, was nützt. Was seiner Herrschaft nützt.

Die Vorstufe dessen war, dass der ungeheuer beliebte ehemalige Präsident „Lula“ (Luis Inácio Lula da Silva) in einem Schauprozess, der einer reinen Farce glich, wegen Korruption verurteilt wurde, auf diese Weise unschädlich gemacht wurde und nicht wieder kandidieren konnte (siehe zum Beispiel hier). Die Herrschaft des ultrarechten Bolsonaro wird nun verheerend sein [o].

Aber es hilft nichts, diese Dinge nur festzustellen, sie anklagend anzuprangern und sich auf diese Weise im Besitz der moralischen Wahrheit zu befinden. Eine solche moralische Wahrheit wäre auch bereits von Ahriman angekränkelt, und nicht nur das, sondern sogar erobert. Der Kampf gegen Ahriman kann nur spirituell geführt werden – und diese Spiritualität hat nur zwei Wege: das Herz und lebendige, reale Gedanken, die eine spirituelle Macht geworden sind.

Beide Wege kann man nicht ernst genug nehmen. Wer sie nur halb ernst nimmt, verfällt Ahriman ebenfalls – viel mehr als er denkt, aber schon Goethe wusste: „Den Teufel spürt das Völkchen nie, selbst wenn er es am Kragen hätte.“

Das reine Denken und das Herz

Das reine Denken, das ein Kraftdenken wird, hat es nicht nur absolut nicht nötig, sich in Anklagen zu gefallen, es steht diesem Impuls des gewöhnlichen Denkens und gewöhnlichen Selbst gleichsam vollkommen entgegen. Es ist weiße Magie, die ganz und gar auf Seiten der Wahrheit steht und in der Wahrheit lebt und webt. Jedes Rechthabenwollen oder Sich-darauf-etwas-Einbilden ist dagegen luziferisch und berührt diese Sphäre des realen Kraftdenkens nicht einmal.

Im Gegenteil: Dies sind bereits die Gegenmächte in der Seele, die die Seele ganz von einem reinen Sich-Erheben zu diesem Denken abhalten wollen – und darin regelmäßig Erfolg haben. Die Seele ist immer schon erobertes Terrain, sie ist Gefangene, dies ist ihr trauriger Ausgangspunkt. Ihre erste freie Tat wäre, sich ihrer Lage bewusst zu werden. Und ihr Grad der Freiheit läge in dem Grad der Aufrichtigkeit, mit der sie dies vermögen würde.

Die zweite Macht neben dem reinen Denken, das gleichsam in das Reich der Wahrheit eintaucht, ist das Herz. Und hiermit ist nicht das Reich der Emotionen gemeint, in dem die Gegenmächte ebenfalls ihre Herrschaft aufrichten und ausdehnen – auch hier durch Befindlichkeiten, Hochmut, Gekränktheiten, Eigenliebe etc. –, sondern von neuem ein Reich der Wahrheit, nun aber auch der Liebe.

Das reine Denken hat eine große Liebe – die Liebe zur Wahrheit, die nicht einfach ein „Stimmen von Tatsachen“ ist, sondern die reale Harmonie der lebendigen Begriffe und ihrer Zusammenhänge und das Einssein des Ich mit ihnen, ohne dass der kleinste Raum für bloße Abstraktion oder gar Unwahrheit und Lüge bleibt. Das Reich der weißen Magie des lebendigen Denkens ist das Lichtreich des Geistes und dessen Realität – bis in die Wahrheit eines einzelnen Satzes und die Wahrhaftigkeit des ihn Denkenden, Aussprechenden, Vertretenden hinein. Eine Lüge als so real zu empfinden und zu erleben wie einen Mord – das ist der Weg in dieses Reich hinein.

Das Herz hat auch eine große Liebe – aber diese Liebe hat kein Objekt mehr, weil sie keine Grenze und keine Richtung hat, oder vielmehr alle Richtungen. Das Wesen der Liebe ist das Nicht-Ausschließende – so wie das der Sonne. Heute aber wird überall ausgeschlossen, getrennt, polarisiert.

Es geht nicht darum, den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge zu verwischen – im Gegenteil. Und doch scheint die Sonne „über Gerechte und Ungerechte“. Was bedeutet das? Das könnte man einmal tief meditieren. Ist es der Sonne etwa egal, über wen sie scheint – und was sie bescheint? Nichts wäre weniger wahr. Die Worte des Evangeliums könnten immer wieder ein helles Licht werfen – aber nur, wenn sie auf den Boden des Herzens fallen. Erst dann sieht man die Wahrheit – die immer tiefer liegt als bloßes „Verständnis“. Wahrheit in diesem Sinne ist immer ein Geschehen, eine existenzielle Umwälzung. Sie ist immer moralisch, nie bloß „gültig“.

Der verlorene Sohn

Was bedeutet zum Beispiel das Gleichnis des verlorenen Sohnes? Sieht der Vater nicht, was der Sohn für ein Lotterleben geführt hat? Warum scheint er ihn sogar mehr zu lieben als den anderen Sohn? Nun – das sind alles abstrakte Überlegungen. Am tiefsten verstehen könnte dieses Gleichnis vielleicht eine Mutter, die real um einen Sohn gelitten hat – immer wieder, Nacht für Nacht, ohne etwas tun zu können... Dieses Erleben muss man haben können, teilen können. Wenn man diesen Schritt nicht machen kann, dieses Erleben in aller Tiefe auch zu haben, wird einem dieses Gleichnis für immer verborgen bleiben.

Die Mutter leidet ja gerade, weil ihr Herz die Abgründe empfindet, in die der Sohn gerät. Und ihr Leiden wird vollkommen durch die Ohnmacht, die sie erlebt – sie kann nichts tun, obwohl sie mit vollem Bewusstsein miterlebt, was der Sohn tut und worin er sich verfängt, gefangen wird. Und ihr Herz kann das, was der Sohn tut, sogar verurteilen – aber es wird nie den Sohn verurteilen, sondern nur um so tiefer um ihn leiden... Und ihr Herz wird sich vor Schmerz zusammenziehen bei dem hilflosen Ringen mit dem Gedanken: Kann ich denn nichts tun...? Denn Mahnungen, Hinweise, Drohungen, gutes Zureden – all das hilft nichts, ja scheint den Sohn nur immer weiter in die Irre zu treiben. Machtlos steht die Mutter da, machtlos, mit leeren Händen, in einem leeren Haus, denn der Sohn ist völlig im Reich der Gegenmächte...

Der zurückkehrende Sohn aber ist eine Katharsis der Freude und der Tränen – Tränen der Freude, fassungslose Dankbarkeit... Aber das Mysterium liegt in dieser Rückkehr selbst, in der Frage: warum?

Warum kehrt der Sohn zurück? Die Wahrheit ist, dass er irgendwann an einen Punkt kommt, der der Punkt der Umkehr ist. Es ist jener Punkt, wo auch sein Geist und sein Herz begreift... Wo er seine bisherige Gefangenschaft begreift, sein Abirren in die Fänge der Gegenmächte. Wo er die Wahrheit begreift, dass seine Mutter Recht hatte – nicht weil sie die Wahrheit „gepachtet“ hatte, sondern weil sie auf ihrer, der Seite der Wahrheit stand. Mit ihr, der Wahrheit, lässt sich nicht spaßen. Sie kann nur entweder in den Wind geschlagen oder aber zu leicht genommen oder aber geliebt werden. Zunächst voller Reue. Aber dies und nichts anderes ist der Punkt der Umkehr. Der Sohn wendet sich zurück ... zum Licht.

Aber die Liebe, die bedingungslose Liebe der Mutter ist nicht das Bedeutungsloseste in diesem Geschehen. Im Gegenteil. Sie, die Mutter und ihre Liebe, ist gerade das für den Sohn real existierende Licht auf Erden. Es ist, wie wenn der Sohn trotz all seiner Abwehr und seines Eigen-Sinns immer umhüllt gewesen und geblieben war – von der Liebe der Mutter, die ihm überallhin folgte, auch wenn sie äußerlich nichts, rein gar nichts tun konnte. Es ist, wie wenn auch diese Liebe mit unsichtbaren Armen eines Tages sanft nach dem Sohn griff, ihn immer wieder erinnernd – an jenen Ort, zu dem er jederzeit zurückkehren kann... Und irgendwann brauchte der Sohn diese unsichtbare Begleitung – in dem Moment, als er selbst hilflos vor der Frage stand: Und was mache ich jetzt?

Diese Krise ist ein Umschlagspunkt. Er könnte nämlich auch zu einer völligen Desillusionierung, einem radikalen Nihilismus umschlagen, oder in das real Böse. Aber das Licht der Mutter ist immer um ihn. Und er kann sich daran erinnern – an die Mutter, an ihre Liebe, an das Gute schlechthin. An die Sphäre des Moralischen, die reale Sphäre – an das Gute, das Wahre, das Schöne. Er kann sich daran erinnern, dass die Seele auch schön werden kann. Und dass sie dies wird, wenn sie das Wahre und das Gute liebt. Und das ist der Moment der Rückkehr, der Reue, einer neuen Liebe, eines neuen Lebens...

Vom Ende der Liebe

In diesen Tagen erschien das neue Buch der israelischen Soziologin Eva Illouz – „Warum Liebe endet“, das jetzt auch hier im Tagesspiegel besprochen wurde. Illouz hat schon mit anderen, durchaus bahnbrechenden Büchern auf die Tragik der modernen Seele aufmerksam gemacht: „Der Konsum der Romantik“ (2003), „Gefühle in Zeiten des Kapitalismus“ (2004), „Die Errettung der modernen Seele“ (2009), „Warum Liebe weh tut“ (2011).

Sie beschreibt, was mit der Seele und der in dieser Seele lebenden Liebe passiert, wenn diese Seele auf eine ökonomisierte Welt trifft. Wie es im Tagesspiegel heißt [o]:

Sexualität und Intimität sind zu Schauplätzen geworden, an denen „sich das ökonomische Selbst ausagiert“.

Dieses „Selbst“ und dessen Selbstwertgefühl sind auch durch einhundert Jahre Psychoanalyse und -therapie enorm gewachsen [o]:

In ihm entdeckt die Soziologin die fatale Allgegenwart des therapeutischen Diskurses, der dem Selbst nahelegt, noch mehr auf sich zu achten und die Beobachtung der Emotionen und Befindlichkeiten weiter auszudifferenzieren.

So sehr der Blick auf die Existenz des Seelischen oder zumindest Psychischen wichtig war, damit sich die Seele nicht in der äußeren Welt verliert, so sehr hat es doch auch zu einem zunehmenden Selbstbezug geführt. Und konnte dennoch den Siegeszug der Veräußerlichung nicht aufhalten – im Gegenteil, unterwarf sich diesem und unterwarf das Äußere den Genüssen des neuen Pseudo-Selbst. Auch die „sexuelle Revolution“ wurde nahtlos in den Sieg des „Konsumkapitalismus“ eingegliedert [o]:

Der durch die sexuelle Revolution befreite Körper mit seinen Gefühlen, Genüssen, Geschmäckern und seinem unersättlichen Appetit auf Freizeitvergnügungen konnte zur reinsten Konsummaschine werden.

Im Zuge der „digitalen Revolution“ wurde dann ein weiterer Schritt vollzogen [o]:

Mit den Internettechnologien der Gegenwart ist der nächste Sexualpartner – genau wie die Pizza oder die Traumreise – nur einen Klick oder Wisch entfernt. Nicht nur beim Gelegenheitssex oder Pornokonsum wird das Unverbindliche zur Gewohnheit. Die Praktiken ständigen Beurteilens und Vergleichens, das Auf- und Abwerten werden zur zweiten Natur.

Was bedeutet dies? Es bedeutet, dass die Seele vollkommen Opfer Ahrimans geworden ist, ohne es zu bemerken...

Ahrimans Herrschaft

Es ist Ahriman, der fortwährend bewertet – und der kalt und selbstzentriert beurteilt, was ihm nützt und was nicht. Im Bunde mit Luzifer – Selbstliebe und Hochmut – wird die Seele so Schritt für Schritt zu jenem Selbst, das alles auf sich bezieht, wie die Spinne im Netz, die alles unter Kontrolle hat und sich dafür nicht einmal regen muss. Das Digitale mit seiner toten Abstraktheit und seiner gleichzeitig umfassenden Verfügbarkeit macht aus der Seele selbst ein Monstrum – eine letztlich gefühllose oder aber ganz und gar selbstzentrierte Ego-Spinne.

Ich habe das in meinem Buch „Erlöse uns von dem Coolen“ in großer Intensität erlebbar zu machen versucht. Der menschheits-historische Impuls der Individualisierung ist dabei, ganz und gar ein gigantischer Ego-Trip zu werden. Dabei wünschen sich die Menschen aufrichtige und reine Empfindungen – aber sie finden sie nicht mehr, sie kennen den Weg dorthin nicht mehr, sind nicht mehr fähig, ihn zu gehen...

Die Menschen verlieren die Fähigkeit der aufrichtigen Freude – und finden den bloßen Genuss. Sie verlieren die Fähigkeit der aufrichtigen Mitfreude – und finden den bloßen „gemeinsamen“ Spaß, den „Fun“. Sie verlieren das wirkliche Mitleid – und haben allenfalls noch etwas peinliches Bedauern oder peinliches Schweigen als Rest des schlechten Gewissens, weil man nicht weiß, was man sagen soll. Betroffenheit gerade darüber, dass man nicht wirklich betroffen ist...

All dies sind Zeichen dafür, dass der Mensch immer mehr „Selbst“ wird – aber nicht er selbst, sondern ein merkwürdiges Selbst. Es ist ein Selbst, das einen wie ein Schraubstock mehr und mehr von der übrigen Welt absondert. Der Mensch gelangt wie in eine Zwangsjacke – immer mehr ist er „er selbst“, aber so und auch so sehr, dass er an diesem „Selbst“ erstickt oder ertrinkt, wie auch immer man es sagen will. Er klebt in seinem eigenen Netz und kann sich nicht mehr befreien, weil er nichts anderes gelernt hat, als Spinne zu sein...

Das ist ahrimanische Gefangenschaft. Keinen Ausweg mehr zu wissen. Den Ausweg aus diesem Selbstbezug nicht mehr zu kennen. Nichts anderes mehr können als konsumieren, bewerten, verwerfen, beurteilen, konsumieren, immer schneller, immer sinnloser, immer oberflächlicher. Keine Möglichkeit mehr zu echten Empfindungen, keine Möglichkeit mehr zu wirklicher Seele... Die Seele ist tot. Sie ist verloren... Das Zeitalter Ahrimans hat begonnen...

Die Rettung der Herzen

Der einzige Weg aus Ahrimans Klauen führt über das Opfer. Es muss dasjenige geopfert werden, was sowieso nie das eigene war – jenes Ego, das immer ein Gebilde Ahrimans und seines Bundesgenossen Luzifer gewesen ist. Geopfert werden muss dasjenige Ich, das glaubt, es könne ungestraft „Spinne“ spielen und im Zentrum des Netzes auswählen, bestellen, konsumieren, beurteilen und verwerfen zu können.

Nie kann eine Seele dies ungestraft tun. Tut sie es, verwirft sie gleichzeitig ihr eigenes Herz und ihr eigenes Wesen...

Die „Segnungen“ des modernen Zeitalters sind vergiftete Gaben – an ihnen stirbt nicht nur das Schneewittchen, sondern auch die eigene Seele. Und alle Märchen sind Bilder für die Seele. Die Ökonomisierung und Digitalisierung aller Lebensbereiche einschließlich der Freizeit und der Liebe, wie unterschwellig auch immer, war der vergiftete Apfel der Menschheitsgeschichte – und die Seele hat angebissen...

Der Artikel im Tagesspiegel bringt diese existenzielle Frage auf den Punkt, wenn es darin – im Anschluss an Illouz’ Werk „Warum Liebe weh tut“ – heißt:

Wer verletzbar ist und riskiert, dass ihm die Liebe „weh tut“, bleibt für sie erreichbar. Ohne Schmerz gibt es keine dauerhafte Bindung. [...] Der Mensch bleibt allein mit seinem Wunsch, dauerhaften Wert zuzuschreiben und einen anderen aus allen Vergleichsrastern herauszunehmen. Eva Illouz findet eine treffende Formulierung für das, was „lieben“ und „verlieben“ in diesem Zusammenhang bedeutet: „die Einzigartigkeit zu finden, an die man sich binden wollen würde.“

Selbst diese letzte Formulierung ist schon von der therapeutischen Selbstverherrlichung des Ich angekränkelt. Als hätte das „Selbst“ eine Wahl zu wählen und als würde sich Liebe nicht ereignen. Sobald das „Sich-Binden“ eine ängstlich-narzisstische Überlegung wird (mit der die zweite: „Zur Not kann ich mich ja wieder ent-binden“ einhergeht), hat die Seele ihre essenzielle Liebesfähigkeit schon ganz verloren. Sie ist nicht mehr fähig dazu. Sie ist erst wieder dann fähig, wenn sie fähig wird, sich zu verlieren. Damit gewinnt sie die Liebe – und nicht anders. Erst das Sich-Verlieren ist das Finden des Anderen. Und anders ist keine Liebe möglich. Alles andere wäre nur Illusion der Liebe im Zeitalter des Selbst.

Idealismus oder Ahriman

Das Geheimnis der Liebe ist ihr Idealismus. Gerade er ist es, feuriges Leben der Seele, der einem anderen, dem geliebten anderen Menschen „dauerhaften Wert“ zuschreibt und ihn „aus allen Vergleichsrastern“ herausnimmt. Der reale Vorgang, der hier geschieht, ist, dass die Seele an diesem Punkt generell aufhört zu urteilen. Sie verweigert sich einfach. Sie verweigert sich der Logik Ahrimans. Und die Liebe ist nicht unlogisch, sie hat nur einfach völlig andere Kategorien, die Ahriman nie begreifen können wird. Oder, wie Pascal es ausdrückte: „Le coeur a ses raisons, que la raison ne connaît point“.

Das Herz hat seine eigenen Gründe und seinen eigenen Verstand, den der intellektuelle Verstand aber nicht versteht. Denn der Verstand steht im Ego, das Herz aber steht in der Liebe, diese ist der ewig lebendige Quell seiner Gründe... Die Liebe kann alles begründen – aber der Verstand ist so gelähmt und kurzbeinig, dass er überhaupt nicht folgen kann...

Die Liebe kann ihre Flügel erheben – der Verstand und das Ego müssen am Boden bleiben, zurückgelassen mit ihren Handys, ihrem Selbstbezug, ihren ärmlichen Kategorien, ihrem fortwährenden Urteilen und Vergleichen, ihrer Unfähigkeit, sich in die Liebe hineinzuopfern, um in ihr wie ein Phönix aufzuerstehen.

Der zur Liebe unfähige Verstand erklärt die Liebe und ihre „Idealisierungen“ für „illusionär“ – aber das Idealisieren ist das Lebenselement der Seele. Der Verstand und die in ihm gefangene Seele bemerken nicht, wie tot sie eigentlich sind. Weder die Liebe noch das Leben haben mit Abwägen oder mit bloß rationalen Urteilen zu tun. Die Tragik der Seele ist, dass sie verinnerlicht hat, dass es so sein müsste. Aber das Abwägen und fortwährende Urteilen ist Sache Ahrimans, nicht einer Seele, die menschlich bleiben möchte. Ihre Sache ist der Idealismus, der hinter allem immer wieder das Bestmögliche, das Höchste und auch das volle Entwicklungs-Lebens-Potenzial empfindet, erlebt, wahrnimmt, sieht und für möglich hält.

Und gegenüber dem geliebten Wesen wird dies so radikal wie nur möglich verwirklicht. Gegenüber dem geliebten Wesen weigert sich die Seele am allermeisten, sich mit Ahriman gemein zu machen und sich in seine Fänger zu begeben. Hier schlägt sie Ahriman seine Waffen schlicht aus der Hand und schleudert ihm entgegen: Hier hast du nicht zu urteilen! Hier hat niemand zu urteilen.

Der idealisierte Blick ist am wahrsten, weil jeder andere Blick bereits mit Ahriman guckt...

Noch immer ist die Sehnsucht der Menschen unverändert: Sie wollen sich verlieben – und sie wollen geliebt werden. Der Irrglaube jedoch, sich aus einem unüberschaubaren „Angebot“ „bedienen“ zu können, macht beides unmöglich. Denn wer mit dem Konsum-Blick schaut, hat in demselben Augenblick die Möglichkeit verloren, sich wahrhaft zu verlieben. Und er hat auch in demselben Augenblick die Eigenschaft verloren, liebenswert zu sein. Denn Ahriman ist nicht liebenswert.

Was also ist die Rettung?

Die Moderne hat nicht zu einer Befreiung des Individuums geführt – sondern, zugleich mit seiner Geburt, zu seiner Gefangenschaft. Das Individuum fühlt sich frei – aber gerade das ist Teil seiner Gefangenschaft. Denn es wird gleichsam in den Selbstbezug hineingeboren.

Und dennoch ist es ein Mysterium, eine wirkliche Gnade, dass jede Seele trotz allem diese Sehnsucht behält, sich zu verlieben – und damit die Trennung zu einem anderen Menschen radikal aufzuheben. Es ist die Sehnsucht nach einem Wegfall des Trennenden, nach einem Ende des (vielleicht ganz unbemerkten) Ego-Kultes und der Einsamkeit des Selbstbezugs.

Der Gegenpol der Selbstliebe ist die innere Bewegung der Hingabe. Die auf die Haltung der „Spinne“ geeichte Seele kann diese Bewegung nur fürchten und sie niemals wagen, weil dieses viel zu narzisstisch gewordene Ego als Identität empfunden wird. Doch erst der sich ins Meer Stürzende oder der Fliegende weiß, dass er keinen Boden braucht – sondern dass die Liebe ihren eigenen Boden hat.

Selbst die Hingabe hat ein Subjekt – denn es ist immer jemand, der sich hingibt. Liebe ist etwas, was zum geliebten Menschen hinströmt, aber selbst dafür muss es eine Quelle geben. Und die Seele kann diese Quelle werden, sobald sie aufhört, dieses Ego zu sein, das sie im Zeitalter von Kommerzialisierung, Digitalisierung, Konsum und Freizeit viel zu sehr geworden ist.

Alles wird in der Schule gelernt – bis hin zur Selbstoptimierung. Nicht aber das Gegenteil – das Schwimmen, der Flug, die Liebe...

Doch nur dies kann die Menschheit retten – aus einem sonst nur immer größer werdenden Spinnennetz. Nicht mehr gerettet werden kann die Menschheit durch Postings, Blogs, Likes und dergleichen mehr – auch nicht durch Flashmobs, Shitstorms, nicht durch Empörungen, Analysen, Rechthaben, Patentrezepte.

Zuerst muss die Seele wieder lernen, zu leiden – tief zu leiden an allem, was um sie ist. Sie muss sich bis zum Grund verletzlich machen. Berührbar von allem um sie herum. Und das, was dann wehtut ... das ist das wirkliche Herz. Und diese Herzen, die auf diese Weise geboren werden – sie können die Welt retten. Denn sie kennen das Geheimnis der Hingabe. Eine Lehrerin aber gibt es, die dies alles die Herzen wieder lehren kann. Wer ist sie? Es ist das Mädchen...