04.12.2018

Das Jahr des Mädchens – und die Welt am Abgrund

Gedanken in der Adventzeit.


Wir leben in der Adventzeit. Aber in wem lebt gegenwärtig noch ein Christentum, das in Wahrheit mit jenem Wesen verbunden ist, dessen Namen es trägt? Wessen Seele empfindet noch die Heiligkeit einer Zeit, die den Namen ,Advent’ hat? Ankunft? Aber auch heilige Erwartung dieser Ankunft? Wessen Seele erwartet heute noch etwas Heiliges, vielleicht sogar festlich geschmückt, wie eine Braut...?

Wir leben noch in ganz anderen Zeiten. Das Geistige durchdringt das Übrige und oft läuft beides ganz quer. Im Kultus der Menschenweihehandlung der Christengemeinschaft wird in der Adventzeit die Apokalypse gelesen – vor allem die ,kleine Apokalypse’ in den Evangelien. Warum wohl? Ist nicht bereits der ,Vorweihnachtstrubel’ eine Art Apokalypse, Katastrophe? Als wenn die Welt unterginge? Aber Apokalypse heißt eigentlich Enthüllung, Offenbarung. Was enthüllt sich denn in der äußeren Adventzeit, die akustisch und optisch immer mehr nur noch ein grandioser Lärm wird – wenn nicht die immer mehr zunehmende Leere der Seelen? Advent – Offenbarung der Leere?

Und wie sehr häufen sich dann jährlich zu Weihnachten die Streitereien, weil innerlich der Erwartungsdruck an die Harmonie steigt, während niemand in der Lage ist, sie in der Seele zu gebären und wie ein Licht in die Welt leuchten zu lassen? Also auch Weihnachten selbst – Offenbarung der Leere?

Aber die Apokalypse ist real. Es enthüllen sich noch ganz andere Dinge. Die Hasskräfte in der Menschheit nehmen zu. Überall da, wo sich das Ego in den Mittelpunkt stellt und über die unverwechselbare Individualität des oder der Anderen hinweggeht. Wo es wieder hingeht zu neuen Kollektivstrukturen und -urteilen, zu Unterdrückung und Herrschaft. Das Ego wirkt auch in der Geopolitik, der Weltwirtschaft, es wirkt überall. Und überall frisst es. Wie der Fenriswolf die Sonne auffrisst, so frisst das Ego, in dessen Hintergrund die Finsternis lauert, die Liebe.

Wir leben in einer Zeit, in der überall in den Seelen der Fenriswolf zu fressen begonnen hat. Schon lange. Jetzt aber beginnt er immer mehr, sein wahres Gesicht zu offenbaren. Auch das ist Apokalypse. Auch das ist Advent. Auch der Fenriswolf kommt. Die Ankunft der Finsternis ist nicht leicht zu übersehen.

In diesen Wochen kann man erstarren darüber, wie reglos die Empfindungen bleiben, wo von real (!) drohender Klimakatastrophe die Rede ist, die auch kommen wird – auch ein Advent. Wie tot ist die Seele der Menschheit bereits, dass sie solches hinnimmt? Eine Meldung unter vielen, während die Talkshows, die Bundesligaspiele, die Serien, die Klatschspalten, die Getränkewerbungen, die Pop-up-Fenster und alles, alles sich einfach weiter fortsetzt – so als wäre nichts. Hat man sich denn früher nicht über die Titanic gewundert, wo die Kapelle einfach weiterspielte? Sind wir nicht längst um viele Grade schlimmer? Der Eisberg kommt – und es interessiert nicht?

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Ich habe zu Beginn dieses Jahres vom ,Jahr des Mädchens’ gesprochen. Und ich habe in jedem Monat dieses einen Jahres ein Buch veröffentlicht, in dem jeweils das Wesen des Mädchens lebte und lebt – beginnend mit ,Der Kreis der Hüterinnen’, in dem bereits alles so tief enthalten ist. Nun endend, in der Adventzeit, mit dem Büchlein ,Der Blick des Mädchens’, das noch einmal alles wie in einer heiligen Essenz enthält.

Zwölf Bücher insgesamt, die im Laufe dieses Jahres immer wieder das Wesen des Mädchens berührt haben, erlebbar machen wollten, von verschiedener Seite her, dieses unerschöpfliche Wesen – das heute so kaum mehr gekannt wird, eigentlich so wenig wie Christus selbst. Beide nicht – weder Christus noch das Mädchen. Kein Wunder.

Über das heilige Gotteswesen gibt es so viele Bücher, das man sie wie Sand am Meer empfinden könnte. Manche Bücher sind wie Goldkörner im Sand, und wenn man sie findet, fühlt man sich reich beschenkt, weil sie einem auf dem Weg helfen, den man sucht. Christus ist ein Verlorener. Und manche Bücher helfen in unendlicher Tiefe, ihn zu finden, wiederzufinden. Und zu erleben, dass man selbst, die Menschheit, ein Verlorener ist. Der verlorene Sohn. Christus. Oder man selbst – je nachdem, wovon man schaut. Christus hat uns verloren, weil wir ihn verloren haben. ,Ich bin bei euch’, hat er gesagt – aber wir sind nicht mehr bei ihm. Während er kommt, der ewig Kommende ist, gehen wir unserer Wege – in die Irre.

Über das Mädchen gibt es nicht viele Bücher. Ich habe keines gefunden, als ich zu schreiben begann. Sehr wohl gibt es die Märchen – aber diese sind heute so verloren wie Christus. Ihr wahrer Inhalt muss erst wieder neues Leben gewinnen. Ich habe Bücher geschrieben, in denen man das Mädchen wiederfinden kann – wiederfinden, was eigentlich ein Mädchen ist, in seiner vollen Wahrheit. Mögen auch sie manchen Menschen eine Hilfe auf dem Weg sein. Denn ohne das Mädchen werden wir untergehen. Wir sind längst dabei. Advent – Ankunft des Unterganges.

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Wenn wir den Untergang im Bilde der Fluten sehen – wie es die Klimakatastrophe, aber auch die Flut der täglichen Nachrichten, aber auch das Bild der Titanic nahelegen –, so kann Eines erlebbar werden, wenn man beginnt, das Wesen des Mädchens zu erleben: Das Mädchen kann auf dem Wasser gehen. Wie Christus. Es ist essenziell dieselbe Realität, auch wenn das Mädchen sie nur rein menschlich wahrmacht. Im Mädchen sehen wir etwas absolut Unberührbares – und gerade deshalb ist es seinerseits so unsteigerbar selbst berührend, so sehr, dass selbst die Fluten, bildlich gesprochen, das Mädchen tragen wollen, von sich aus.

Und da, wo das Mädchen ins Boot tritt, legen sich ebenfalls die Fluten. Nicht weil das Mädchen es befehlen müsste, sondern weil die Fluten sich von sich aus legen. Und wo das Mädchen unter Menschen kommt, da spendet es Segen und Heilung – wirkliche Heilung, die wie die Heilungen Christi von der Seele ausgehen. Schiller hat dies in seinem Gedicht ,Das Mädchen aus der Fremde’ wunderbar beschrieben. Man kann dies allegorisch verstehen, aber zugleich ist in ihm so sehr auch das Wesen des Mädchens selbst erfasst.

Das Mädchen ist die große Heilerin. Natürlich nicht, wenn man so einen Satz nur schreibt oder vielmehr nur liest. Das Wesen des Mädchens muss sich in der Seele entfalten können – wie auch das Evangelium auf fruchtbaren Boden fallen muss und nicht auf Stein oder unter die Dornen. Man kann an dem Wesen des Mädchens ebenso vorbeigehen wie an dem Wesen des Christus. Es ist aber seine immerwährende, heilige Begleiterin. Und diese Tatsache wollen meine Bücher erlebbar machen, immer wieder neu, immer wieder anders.

Christus wird immer weniger verstanden. Es ist, wie wenn sich ein Vorhang zuzieht, gewoben aus Materialismus und Ignoranz. Er dürfte eigentlich nie nicht verstanden werden – denn woher soll die Sehnsucht zurückkehren, wenn man sie einmal ,über Bord’ geworfen hat? Sind wir der verlorene Sohn, der ganz am Ende, wenn er mitten im Elend steckt, sich doch wieder an die Heimat erinnert? Werden wir das? Oder werden wir dann so verkommen sein, dass wir wie ein ruchloser Selbstmörder uns ohne jede Empfindung noch selbst die Kugel geben?

Das Mädchen könnte noch verstanden werden. Es könnte die Brüder noch retten, ehe es zu spät ist. Und es möchte ja immer wieder den Vorhang, den die Menschen vor dem Christus zuziehen, aufreißen. Es möchte ihnen ja in die Arme fallen, auf dass sie in ihrem Tun innehalten und bemerken, was sie tun. Denn das wissen sie ja nicht – zur Zeit Jesu nicht und heute auch nicht. Und schlimmer: Heute wissen sie, was sie tun – und tun es dennoch. Das Mädchen aber könnte den Seelen das wahre Fühlen wiederschenken. Und mit diesem Mysterium würden die Seelen auch sich selbst wiederfinden – sie, die gar nicht wissen, wie sehr sie sich verloren haben.

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Advent ist eine Zeit der Erwartung, des inneren Stillwerdens. Schon das treue Licht der Kerzen kann es einen lehren. Vielleicht haben dies die Menschen am allermeisten verloren: das Still-werden-Können. Laut und lärmend laufen sie vor sich selbst weg.

Wie aber könnte dann etwas ankommen, wenn die Seelen weglaufen und taub und abgefüllt sind mit all den anderen Eindrücken, die sie fortwährend ,lieber’ suchen? Weil sie süchtig sind nach Stoff für die innere Leere, Sucht nach Eindrücken, so dass man gar nicht mehr anders kann, als jede Viertelstunde auf das Handy zu schauen – anstatt vier Wochen lang das Heilige zu erwarten, innerlich immer stiller, innerlich immer festlicher, wie eine Braut...

Die Menschen haben die Stille verlernt. Sie haben verlernt, Braut zu werden. Mit der Hilfe des Mädchens könnten sie es wieder lernen. Sie bräuchten nur eine leise Sehnsucht danach zu haben – dann könnte das Mädchen ihnen so sehr helfen... Ankunft.

Wenn die Seele alles verloren hat, muss sie wenigstens eines bemerken, ansatzweise: dass dies so ist. Dass sie selbst sich in einer Tragik befindet. Dann könnte das Mädchen ihr helfen – und vorher kann ja selbst Christus nichts tun. Wenn die Seele so verloren ist, dass sie selbst den Advent nicht mehr erhofft – oder nicht mehr weiß, wie man ,erwartet’, aufrichtig, mit offener Seele –, so kann sie noch eines tun: sie kann den Advent des Mädchens erwarten und ihm entgegengehen. Das Mädchen wird ihr helfen und ihr alles wieder zeigen können. Es ist die große, aufrichtige Lehrerin.

Vom Mädchen kann die Seele wieder lernen, was es heißt, lebendig zu warten. Und was es heißt, auch die übrige Seele wieder mit einem heiligen Leben zu erfüllen, zart wie ein Frühling – oder wie die Christrose... Advent. Das Mädchen ist die Hüterin des Geheimnisses der Ankunft.