11.02.2019

Von glücklichen Kubanern und abgehängten Gelbwesten

Zur Pathologie der Gesellschaft.


Inhalt
Die Sängerin Zaz und fünf kleine Worte
Geistige Vergewaltigung erleben
Schwarze Magie statt Wahrheit
Der innere  Zensor des ,Gutmenschen’
Macht Geld glücklich? Armut unglücklich?
Das katastrophale westliche Modell
Die Gelbwesten – und die Medien-,Wahrheit’
Von der Blindheit gegenüber dem Recht
Wann...


Die Sängerin Zaz und fünf kleine Worte

Die Sängerin Zaz (Isabelle Geffroy) gehört nach ihrem Durchbruch vor fast neun Jahren zu den erfolgreichsten Sängerinnen Frankreichs. In den nächsten Tagen tritt sie in verschiedenen Städten Deutschlands auf. In einem Interview mit dem ,Tagesspiegel’ erfährt man, dass sie nicht nur in einem Lied singt ,Was soll ich mit einer Suite im Ritz?’, sondern dass sie bis heute mit ,Oberflächlichkeiten’ ,nichts anfangen’ kann – und sie spricht auch über ihre völlig mittellosen Anfänge. Ein Jahr lang hat sie sich überhaupt nicht geschminkt, weil sie unabhängig von dem sein wollte, wie sie andere sehen. Auf ihrem Foto blickt einem eine starke Frau Ende dreißig entgegen – ein offenes Gesicht mit allen Ecken und Kanten, dem man die Authentizität sofort ansehen kann.

Nachdem sie gesagt hat, Geld mache nicht unbedingt frei, fahren die beiden Interviewerinnen mit folgenden Worten fort:[1]

Über Kuba, wo Sie ein Video zu Ihrem neuen Album aufgenommen haben, sagen Sie, dass der Mangel die Leute kreativ mache. Sie wissen, das ist zynisch.

Allein wegen dieser letzten fünf Worte schreibe ich diesen Aufsatz. Sie offenbaren so unglaublich, was heute geradezu pathologisch schiefläuft. Für mich stellen diese Worte einen nicht zu fassenden Angriff auf die Gedankenfreiheit des Anderen – in diesem Fall sogar einer weltberühmten Künstlerin! – dar. Einen kalten Hochmut sondergleichen, mit dem man glaubt, die eigene Meinung (Meinung!) einem anderen Menschen als Tatsache aufdrängen, ja geradezu überstülpen zu können.

Es ist mir wichtig, dass die dahinterstehenden Vorgänge, die feinen seelischen Prozesse und Nuancen, voll erlebbar werden – denn sie haben für das gegenwärtige Weltgeschehen allergrößte Bedeutung. Sie sind symptomatisch für die gegenwärtige Katastrophe. Deshalb ist es so wesentlich, sie von innen heraus völlig zu durchdringen – sie zu verstehen, weil man sie erlebt, gleichsam am eigenen Leib, aber seelisch.

[Dies ist übrigens fortwährend die Essenz dessen, was Rudolf Steiner mit der Anthroposophie begründen wollte: ,Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode’, wie der Untertitel seiner ,Philosophie der Freiheit’ heißt. Dies ist der Beginn eines übersinnlichen Erlebens und die Gewissheit, dass der Mensch ein übersinnliches Wesen ist, dass bereits die Seele etwas vollkommen Reales ist. Alles Weitere, die ganze Erkenntnis einer geistigen Welt, baut hierauf auf.]

Was also tun die Interviewerinnen? Sie brechen in den heiligen Bereich der Gedanken eines Anderen ein – und ohne auch nur den Versuch zu machen, zu verstehen, was dieser Andere wirklich gesagt hat und ob dies wahr sein könnte, setzen sie ihre eigene ,Wahrheit’ an dessen Stelle – und säen Gift mit der impliziten Behauptung, dies wäre die einzige, die wahre Wahrheit. So funktionieren Diktaturen, so funktioniert Orwells ,1984’, so funktioniert Mobbing. Es ist geistige Gewalttätigkeit und Diktatur – ohne Abstriche. Geistig gesehen ist es keine geringere Gewalttätigkeit als die sexuellen Übergriffe eines Weinstein. Und dass die geistige Vergewaltigung in unserer Zeit nicht ebenso als schwerwiegender Übergriff erlebt wird, macht eben die Tragik der heutigen Zeit aus.

Geistige Vergewaltigung erleben

Denn worin besteht diese Tragik? Sie besteht darin, dass mit größter Kraft überall eine geistige Propaganda stattfindet. Überall wird versucht, die eigene Sichtweise unmittelbar und möglichst geschickt als Wahrheit zu verkaufen – so ,nonchalant’ und selbstüberzeugt, dass möglichst niemand merkt, dass es nur eine zunächst ganz persönliche Sichtweise ist – oder sogar eine Lüge, ein Dogma, dass man nur durchsetzen will, weil man damit bestimmte Zwecke erreicht, während die Wahrheits-Frage völlig irrelevant ist.

Überall liegen diese brutalen ,Vergewaltigungs-Wahrheiten’ in der geistigen Luft, werden ausgesät wie Gift – und zielen immer darauf, dass die Empfänger möglichst nicht selbst zu denken beginnen. Das Denken des Anderen soll geradezu ausgeschaltet werden. Es geht darum, die eigene Botschaft als angebliche ,Wahrheit’ unmittelbar in Seele und Geist des Anderen zu implantieren. Das aber ist das Wesen von Propaganda, von beabsichtigter Gehirnwäsche. Versteht man dies, kann man in Bezug auf unendlich vieles, was heute tagtäglich stattfindet, brutalste Propaganda ist – in der Politik, in der Werbung, in jeder Image-Kampagne und -Broschüre, aber selbst in der ,normalen’ Kommunikation am Arbeitsplatz, im öffentlichen Leben – und in kleinsten Bemerkungen zweier Interviewer.

Dass Interviewer teilweise versuchen, mit provokativen Aussagen und Fragen eindeutige Stellungnahmen hervorzulocken, steht auf einem ganz anderen Blatt. Diese hat seine volle Berechtigung. Davon lebt mutiger, engagierter Journalismus und davon lebt die Wahrheits-Suche. Doch mit den obigen fünf Worten überschreiten die Interviewerinnen eine eindeutige Grenze. Sie sind eben nicht auf Wahrheitssuche – im Gegenteil. Sie versuchen, der Künstlerin Zaz ihre eigene ,Wahrheit’ aufzudrängen – und dieselbe auch der gesamten Öffentlichkeit zu verkaufen. Sie missbrauchen ihr Privileg, ein unbeschränktes Publikum zu erreichen, das potenziell in die Millionen geht, indem sie nicht neutral Fragen stellen, wodurch sich die Gedankenwelt und das Wesen des Interviewten offenbaren könnte – sondern ihre eigenen ,Ansichten’ als unhinterfragbare, endgültige Wahrheit in das Interview hineinpressen und auf diese Weise der interviewten Künstlerin direkt das Etikett ,zynisch’ anheften. Etwas Übergriffigeres lässt sich kaum denken. Nicht nur wird ein ganzes Charakterbild des Interviewten mit wenigen Worten eigenmächtig entworfen und der Öffentlichkeit übergeben – es wird auch eine entscheidende Frage, an der unendlich viele Menschen unendlich viele verschiedene Anschauungen haben könnten, ein für allemal auf einseitige, lügenhafte Weise beantwortet. ,Möge jeder Leser diese Anschauung übernehmen, ohne selbst zu denken!’ Reine Geistesdiktatur gegenüber jedem einzelnen Leser – und wüste Übergriffigkeit gegenüber dem interviewten Menschen.

Wäre es nur die abscheuliche Unverschämtheit gegenüber der Künstlerin, würde es genügen, sich zu wundern, warum Zaz in diesem Moment nicht aufgestanden ist, um zu sagen: ,Für so etwas bin ich mir wirklich zu schade’ und zu gehen. Es ist aber eine noch unverschämtere Abscheulichkeit gegenüber der ungezählten Öffentlichkeit – und sogar gegenüber der geistigen Welt und der Wahrheits-Sphäre selbst. Es ist der brutale, innerlich zutiefst hässliche Versuch, die Wahrheit selbst zu definieren. Was man real tut, ist, Lüge und Gift zu säen – eine vergiftete Wahrheit, die keine ist.

Schwarze Magie statt Wahrheit

Es ist nicht zynisch, zu sagen, dass der Mangel in Kuba die Leute kreativ mache. Wir kommen gleich darauf zurück. Es ist aber genau die Geisteshaltung des Zynikers, einem anderen zu unterstellen: ,Sie wissen, das ist zynisch.’ Das ist Übergriffigkeit pur. Allein schon der Beginn eines Satzes mit ,Sie wissen...’ – das ist Handwerkszeug aus dem ,Macht-Koffer’, das ist geistig gesehen schwarze Magie. Denn allein schon mit diesen Worten geht es nicht mehr um die Wahrheit, sondern um das Brechen des anderen Willens. Um ein Einbrechen in den Willen des Anderen, mit dem Ziel, die eigene ,Wahrheit’ an die Stelle dessen zu setzen, was der Andere sagt und denkt. Man will ihn mit der eigenen ,Wahrheit’ versklaven – so sehr, dass er sogar ,freiwillig’ zugibt, dass seine bisherige Ansicht vollkommen falsch sei; ja so sehr, dass er sogar ,freiwillig’ zugibt und glaubt, dass er mit dieser bisherigen Ansicht ,zynisch’ oder sonstwie moralisch minderwertig und verwerflich sei.

Ob ich einem Kind sage: ,Du bist ein böses, schlimmes Kind’ oder: ,Du wirst es nie schaffen, du bist dumm und unfähig’, oder ob ich – wie im Falle Weinsteins – meine strukturelle Macht ausnutze, um Frauen zu bedrängen und zu belästigen, oder ob ich selbstherrlich-suggestiv zu jemandem sage: ,Sie wissen, das ist zynisch’ ... ist vom Prinzip her das Gleiche. Es ist in jedem einzelnen Fall der Einbruch meines eigenen Geistes und Willens in den Geist, den Willen und das Wesen des anderen Menschen. Es ist eine Vergewaltigung, in jedem einzelnen Fall. Und im Falle der drei Aussagen wird nicht nur das Kind oder die interviewte Künstlerin vergewaltigt, sondern sogar die Wahrheit selbst. Brutal und selbstherrlich. Und deshalb ist es so wesentlich dies zu erkennen. Denn die Signatur unserer Zeit ist es, dass die Wahrheit immer weniger eine Rolle spielt, dass die Seelen immer weniger spüren, wie sehr die Wahrheit fortwährend vergewaltigt wird; dass es sie innerlich nicht schmerzt, sondern dass die Gleichgültigkeit wächst – während gerade umgekehrt die Sehnsucht nach der Wahrheit wächst, das innere Leiden wächst, wann immer man spürt, wenn sie wieder einmal vergewaltigt wird.

Die Abstumpfung der Seelen bereitet den Weg für das völlige Siegen und Herrschen der Lüge und der Propaganda. Das beginnt nicht erst mit den Meistern der ,schwarzen Magie’ auf diesem Gebiet, nicht erst mit Trump, Putin und den Leitern der Propaganda-Abteilungen überall auf der Welt – sondern es beginnt bereits mit zwei einfachen Zeitungs-Interviewerinnen und mit der Tatsache, dass solche Worte von dem ,normalen’ Leser schlicht und einfach überlesen werden – ohne dass sie die Seele erschüttern und man sich fragt: Wie kommen diese beiden Interviewerinnen dazu, so etwas zu sagen! Welcher Teufel reitet sie in diesem Moment? Dass sie sich hinstellen und wirklich und wahrhaftig sagen: ,Sie wissen, das ist zynisch.’ Wie kommen sie dazu? Wie muss eine Seele beschaffen sein, um selbst so zynisch und kaltblütig jemand anderem so etwas zu unterstellen? Wie sehr muss man das eigene, lebendige, differenzierte Denken bereits aufgegeben und verabschiedet haben, um so einen Satz auszusprechen? Wie sehr muss man das dogmatische ,Gutmenschentum’ bereits zu seiner eigenen Natur gemacht haben, um nicht mehr zu merken, was man hier eigentlich tut? Nämlich in Schablonen zu erstarren, die gerade einer wirklichen Katastrophe den Weg bereiten. Nicht einer besseren Welt – sondern der Herrschaft des Dogmas und des Materialismus. Denn in Wirklichkeit hängen die Interviewerinnen genau diesem Dogma an, haben es so verinnerlicht, dass sie es gar nicht mehr merken, dass sie ihm anhängen: dass Geld allein glücklich mache.

Der innere  Zensor des ,Gutmenschen’

Der Satz, es sei zynisch, zu sagen, dass der Mangel in Kuba die Leute kreativ mache, ist eine direkte und unmittelbare Lüge. Denn der so beurteilte Satz (den Zaz gesagt hat) wäre nur unter einer Bedingung zynisch: eben dann, wenn ihn ein Zyniker ausgesprochen hätte. In allen anderen Fällen ist er eben nicht zynisch – und man stünde nur noch vor der Herausforderung, in allen diesen Fällen seine innere Wahrheit zu erkennen. Dazu sind die Interviewerinnen nicht bereit. Für sie ist dieser Satz ,zynisch’, weil sie etwas ganz anderes als ,zynisch’ definieren: nämlich die Tatsache, dass ein wohlhabender Mensch überhaupt Aussagen über ärmere Menschen macht, die nicht reines Bedauern und Mitleid offenbaren – oder Propagandafloskeln, wie es ginge darum, die Lage der Menschen dort zu verbessern etc. etc. Was nicht gelten gelassen wird, ist eben eine solche Aussage wie: der Mangel mache die Menschen kreativ. Dies ist für den indoktrinierten Gutmenschen ein ,No go’, hier setzt das Denken aus, denn die Schere im Kopf und die roten Warnblinkleuchten sagen einem sofort: Dies darfst du nicht denken, die einzige Reaktion, die du dir gestattet darfst, ist Mitleid und Bedauern und die reflexartige Vorstellung, dass man die Lage dieser Menschen verbessern müsse. Du darfst nicht denken, dass die Armut oder der Mangel irgendeine positive Wirkung haben könnte. Das wäre zynisch. Ich, die Schere in deinem Kopf, unterstreiche es noch dreimal zum Mitschreiben: Das wäre zynisch.

So funktioniert die Schere, der völlig verinnerlichte Zensor in den Köpfen der beiden Interviewerinnen. Das ist fatal genug. Noch fataler aber ist die Selbstherrlichkeit, mit der sie das Dogma nun auch allen anderen aufdrängen – in erster Linie und am übergriffigsten jenem Menschen, der sich ihnen für das Interview freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Mit absoluter Nonchalance, mit der Überzeugung des allergrößten Dogmatikers (und man kann hier an die dunkelsten Zeiten der katholischen Kirche, an jede beliebige Diktatur denken) breiten sie ihre Pseudowahrheit aus und setzen ohne allen Zweifel voraus, dass dies die Wahrheit sei. Sie glauben selbst daran – und das sind die schlimmsten und gefährlichsten. Bei einem kaltblütigen Propagandisten wird man durchaus noch spüren, welche dunklen Machtimpulse ihn lenken. Bei einem sympathischen ,Gutmenschen’ ist man vollkommen auf das eigene Wahrheitsgefühl, Wahrheitserleben und die eigene Wahrheitssehnsucht und Wahrheitssuche angewiesen. Nichts hilft einem als das eigene innere Gefühl und das eigene innere Suchen und Streben nach der wirklichen Wahrheit. Und deswegen werden die meisten Menschen einen solchen Satz auch einfach so überlesen: Sie sind der Wahrheit viel zu wenig verpflichtet, um sich die Mühe zu machen, selbst an einem so kleinen Satz schon innerlich zu leiden – und dadurch zu erkennen, wie fatal diese Worte sind.

Und doch gilt hier die Wahrheit: ,Wehret den Anfängen!’ Denn das Schlimme ist: Was diese Interviewerinnen sich leisten bzw. völlig selbstgewiss einfach tun, ist ja bereits nur noch Symptom für das, was die Welt heute geradezu überschwemmt und durchtränkt: eine (in tieferem Sinne) völlige Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit überhaupt. Eine Propagandaschlacht ohnegleichen, von der der ,gewöhnliche’ Mensch überhaupt nur die oberste Spitze des Eisbergs mitbekommt – weil er sein Wahrheitsgefühl und seine Wahrheitssehnsucht nicht nur abgestumpft, sondern überhaupt nie entwickelt hat. Denn dass dieses Wahrheitsgefühl in jeder Seele zunächst nur ein zarter Keim ist und dass dieser entwickelt werden muss, um nicht völlig niedergewalzt zu werden und in weitgehender Gleichgültigkeit zu versinken, ist eben auch eine Wahrheit. Auch hier beginnt die spirituelle Entwicklung eben erst: sich Mühen zu machen, um die eigene Seele in eine reale Verantwortlichkeit gegenüber der Wahrheit zu bringen. Sich Mühen zu machen, um dahin zu kommen, bereits an kleinen Verdrehungen und Vergewaltigungen der Wahrheit wirklich zu leiden. Wer leidet heute überhaupt noch gern und freiwillig? Nur der Esoteriker. Denn Esoterik besteht in nichts anderem. Sie bedeutet, die Seele immer empfindsamer und erlebens-fähiger zu machen. Das aber kann in unserer Zeit – und in allen Zeiten – nur mit immer mehr inneren Leidensprozessen verbunden sein. Dass auch der andere Pol, der der Freude und des Glücks, zunimmt, steht hier nicht zur Debatte. Der Esoteriker muss bereit sein, Leiden zu ertragen – nur dann kann er ein tieferes Verhältnis zur Wahrheit und zur Realität des Geistigen überhaupt finden. Um diese Selbstlosigkeit der Seele kommt niemand herum, der einen wahren esoterischen Weg sucht.

Das Gegenteil einer solchen Selbstlosigkeit ist die Propaganda. Darum hat sie eine so tiefe Verwandtschaft zum Zynismus. Sie stellt sich selbst in den Mittelpunkt. Und das beginnt eben bereits in der impliziten Aussage: ,Was du gesagt hast, ist nicht wahr, sondern zynisch. Ich sage dir, was die Wahrheit ist. Und ich sage dir, dass du mit deiner Ansicht, nichts weiter als zynisch bist. Und ich sage dir, dass du das sogar weißt, zu wissen hast – allein schon, weil ich es dir sage und weil die ganze Welt hinter mir steht.’ Das ist George Orwell auf Alltagsebene – verborgen in fünf Worten eines ganz gewöhnlichen Interviews.

Macht Geld glücklich? Armut unglücklich?

Vielleicht ist es nur das schlechte Gewissen des in einem reichen Land geborenen Gutmenschen, der einem sagt: ,Sie wissen, das ist zynisch.’ Aber dieser Satz tut nicht das Geringste, um in der Welt etwas zu ändern. Er pflegt nur das eigene schlechte (oder nun vielmehr: gute) Gewissen. Denn wenn ich Zaz schnell unterstelle, dass ,ein solcher Satz zynisch’ ist, bin ich ja fein aus dem Schneider – ich habe mich als verantwortungsvoller Weltbürger erwiesen, der theoretisch alles tut, um den armen Kubanern zu helfen, sie jedenfalls bedauert. Was ich aber in Wirklichkeit tue, ist, das westlich-kapitalistische Lebensmodell mit all seinem materiellen ,Wohlstand’ als das Einzig-Mögliche darzustellen. Alles andere ist zu bedauern, zu verbessern, abzuschaffen. Armut und Mangel sind abzuschaffen, denn ich weiß, dass sie nicht glücklich machen, und wer etwas anderes behauptet, ist ein Zyniker.

Aber wie ist es dann mit der Wahrheit, dass auch Wohlstand und Reichtum nicht glücklich machen? Nun, weder Armut noch Reichtum machen für sich glücklich, aber wer Andere deswegen in der Armut lässt und sie und sich selbst damit vertröstet, obwohl jeder weiß, dass Wohlstand bessere Bedingungen schafft, um glücklich zu sein – der ist eben ein Zyniker. Wirklich? Sicher? Nun – so denkt eben der Gutmensch. Und er vergisst dabei völlig die kleine Geschichte des armen Fischers, der einfach nur am Ufer sitzt und angelt – und ein Anderer spricht ihn an und versucht ihn, dazu zu überreden, doch mehr Fische zu fangen, damit er diese verkaufen kann, damit er ein Geschäft aufmachen kann, damit er noch mehr verkaufen kann und, und, und ... bis er sich eines Tages mit Wohlstand zur Ruhe zu setzen und ... nur noch in Ruhe angeln zu können. Mit einer solchen Geschichte wird die ,Wohlstands-Logik’ in ihrer ganzen Schizophrenie und Gegenstandslosigkeit offenbar. Aber wer macht sich die Mühe, das einmal wirklich zu durchdenken – und die Wahrheit dessen wirklich aufzunehmen?

Immer wieder wird die westliche Seele sich an das Dogma klammern, dass Wohlstand und Abgesichertheit doch besser sei, erstrebenswerter und fraglos besser, für jeden Einzelnen, der auch nur halbwegs ,vernünftig’ ist – und wird in den Wind schlagen, dass schon der berühmte Erich Fromm mit seinem Buch ,Haben und Sein’ in aller Tiefe aufgedeckt hat, was hier in der Seele geschieht, nämlich eigentlich eine Tragik. Über dieselbe Tragik könnte einen auch jeder wirkliche Buddhist vertieft und existenziell belehren, aber im Grunde auch jeder wirkliche Christ – aber wo gibt es heute noch Christen? (,Darum sorget euch nicht über den morgigen Tag’, Mt. 6,34). Die tragische Tatsache ist also, dass die westliche Menschheit völlig in das Dogma des materiellen Wohlstands versunken ist – und die übrige Menschheit immer mehr infiziert, alle spirituellen Wahrheiten und so eben auch das eigene Sein und Wesen völlig in den Wind schlagend. O ja, der wohlhabende Mensch bemüht sich heutzutage immer mehr, auch das ,Sein’ wiederzufinden – aber wie krampfhaft oft, und wie wenig kann er auf das ,Haben’ verzichten, wie sehr klammert er sich daran. Und dann stellt er sich als Gutmensch hin – obwohl er längst völliges Opfer einer bestimmten Anschauung geworden ist, nämlich dass erst Haben und Besitz wirklich glücklich machen kann, die eigentliche Bedingung dafür sei.

Der von diesem Dogma Besessene begreift selbstverständlich nicht, dass ,Armut’ und ,Mangel’ selbst bereits Worte sind, die als Gegenpole dessen, woran er haftet, überhaupt erst definiert werden. ,Armut’ hat keine Bedeutung für sich – sondern gewinnt erst Bedeutung, wenn ich sie definiere: als Gegenpol dessen, was mir erstrebenswert erscheint, während mir der Gegenpol eben als nicht erstrebens- sondern fliehenswert erscheint. Dabei wird überhaupt nicht gesehen, dass Zufriedenheit und sogar Glück nicht von materiellem Besitz oder Wohlstand abhängig sind – und es wird nicht gesehen, wie wenig man zufrieden sein kann. Denn selbst das ,wenig’ wird ja schon vom jeweiligen Dogma aus beurteilt. Für den in meinen Augen ,Armen’ ist es vielleicht gar nicht ,wenig’, sondern vielleicht ... ,genug’? ,Wenig’ bedeutet ja keineswegs Leiden – und Wohlstand sichert keineswegs gegen Leiden. Natürlich kann man sich in gewisser Weise ,Leidensfreiheit’ erkaufen – bis zu dem Punkt, wo einen ein Leiden erwischt, gegen das alles Geld nichts ausrichten kann. Aber vielleicht kann der Mensch, der wenig ,besitzt’, das, was das Schicksal ihm bringt, ganz anders hinnehmen – und definiert sogar ,Leiden’ ganz anders als ich? Wer bin ich denn, dass ich ein für allemal für jeden Menschen definiere, was ,Leiden’ ist, was erstrebenswert ist, was abgeschafft werden müsse und mit welcher scheinbaren ,Abgesichertheit’ das Optimum oder Maximum an ,Glück’ erreicht sei? Und ist ,Leidensfreiheit’ Glück? Mit welchem Hochmut beantworte ich all diese Fragen, ohne auch nur zu bemerken, wie einseitig und doktrinär ich alle mit meiner ,Wahrheit’ beglücken will?

Das katastrophale westliche Modell

Natürlich – sicher werden unzählige Menschen, die vom westlichen Lebensmodell in irgendeiner Weise infiziert wurden, ebenfalls danach streben. Das ist die Realität der in der Seele geweckten Bedürfnisse. Ein Bedürfnis braucht keineswegs gesund sein oder einen dem Glück näherzubringen – aber ist es einmal geweckt, ist es nahezu unausrottbar und kann einen Menschen geradezu unglücklich machen, denn wann sind die Bedürfnisse gesättigt? Wenn ein Mensch in materiellem Wohlstand geradezu schwimmt? Wirklich? Oder spüren wir nicht längst, dass ein solches Leben nur immer leerer und unglücklicher macht? Wer spürt dann nicht das Bedürfnis, sich einmal ohne alles in eine einsame Hütte zurückzuziehen? Und warum wohl? Aber wie sehr ist die westliche Menschheit dennoch vom Besitzen- und Haben-Wollen durchtränkt! Es ist die Krankheit des Materialismus schlechthin. Unheilbar frisst sich dieser Krebs fehlgeleiteter Bedürfnisse durch die Welt, bis sie jeden Einzelnen erreicht haben wird. Und? Wird die Menschheit dann glücklicher sein? Oder wird sie am Ende sein – spirituell, essenziell, existenziell?

Und Zaz hat nicht einmal gesagt, ,vielleicht sind die Kubaner ja die glücklicheren Menschen’, sondern nur: Mangel macht die Menschen dort kreativ. Selbst das muss der Gutmensch bereits reflexartig abwehren! Dabei kann jeder Mensch die Wahrheit dieses Satzes empfinden, vielleicht auch aus eigener Erfahrung bestätigen. Man denke einmal an die Vergangenheit ehemaliger DDR-Bürger – oder an die eigenen Eltern oder Großeltern. Zaz hat ja nicht gesagt, was besser ist, sondern nur, dass Mangel Menschen kreativ macht. Der Mangel mag vielleicht ,schlecht’ sein, aber Kreativität ist mit Sicherheit nichts Schlechtes, sondern etwas Gutes. Natürlich kann man es jemandem als ,Zynismus’ vorwerfen, wenn er angesichts von etwas Schlechtem auf das Gute verweist – aber genauso ist es eine Krankheit, nur auf Schlechtes hinzuweisen und das Gute nicht zu sehen. Mit derselben Haltung wurde früher die halbe Welt kolonialisiert, die ,Wilden zivilisiert’ und so weiter. Die ,armen Wilden’ waren schließlich ,Untermenschen’, die man erst einmal zu ihrem Glück zwingen musste, um sie ernst zu nehmen. Und heute? Heute kann man die Kubaner nicht ernstnehmen, wenn man sie nicht sofort bedauert. Was für ein Hochmut!

Sagen wir es einmal ganz klar: Das westliche Lebensmodell ist für die ganze Welt überhaupt nicht zu haben – weil es den Planeten zerstört. Unser extremes Haften am Materiellen hat eine Kultur hervorgebracht, die in einem abartigen, einem obszönen, einem furchtbaren, die Seele ruinierenden Überschwemmtsein mit materiellen Dingen mündet, die einen über Jahrmilliarden und Jahrmillionen gewachsenen Planeten vernichtet – und wir bedauern die Kubaner? Wie krank muss der menschliche Geist noch werden? Wohl den Menschen, die auf der Welt noch existieren und die uns bedauern können – sie haben eine wesentliche Wahrheit erfasst.

Die Gelbwesten – und die Medien-,Wahrheit’

Das Interview mit Zaz kommt dann auf die ,Gelbwesten’ in Frankreich, und hier heißt es dann:[1]

[...] es gibt Gegenden, wo die Menschen noch nie einen Schwarzen gesehen haben. Da denkt man: Das kann nicht sein. Wenn man dann nur Fernsehen guckt, ist das fatal, weil oft einseitig berichtet wird. Über die Gelbwesten aber auch. Ich habe Freunde im Ausland, die haben die Bilder der Proteste gesehen und denken, wir seien in einem Bürgerkrieg!

Mit anderen Worten: Die Bilder der Medien transportieren immer wieder völlig verkürzte Nachrichten. Das Sensationslüsterne der Medien konzentriert sich stets auf die Proteste und hier wiederum auf Gewalt-Exzesse – ohne die Hintergründe in den Vordergrund zu stellen oder überhaupt vertieft zu thematisieren. Den Nachrichtenwert hat dann die ,Gewalt’ – und nicht etwa die Frage, ob es in einer Gesellschaft überhaupt noch in derselben Form weitergehen kann, in der sich Teile dieser Gesellschaft geradezu gezwungen fühlen, auf die Straße zu gehen.

Die Interviewerinnen fragen dann: ,Schockieren Sie die Bilder nicht?’ – und wiederum wollen sie in eine bestimmte Richtung drängen, mit Hilfe der Voraussetzung, dass diese ,Bilder’ bereits die Wahrheit seien, obwohl sie eine bestimmte ,Wahrheit’ nur suggerieren, nämlich die Assoziationskette: Gewalt > Krawallmacher > Gefährdung der öffentlichen Ordnung > Kriminelle. Mit anderen Worten: Die Proteste werden von Anfang an kriminalisiert und pathologisiert, allein schon durch die ,Gewohnheit’ der Medien, immer das möglichst Extreme und Sensationelle zu berichten. Damit aber berichtet man eine Lüge – und entstellt die Wahrheit, die immer komplexer ist als einfache Bilder. So erweisen sich die ,Mainstream’-Medien als die große Stütze des Systems, denn sie stellen jeden, der ausschert, tendenziell sehr schnell als ,Gefahr’ dar – allein schon, weil Bilder von Protesten an sich bereits viele Menschen ängstigen können, da man weiß, dass sie jederzeit an irgendeinem unvermuteten Punkt in Gewalt ausarten könnten. Um so schlimmer, wenn  man dann auch noch die Punkte zeigt, wo sie dies genau getan haben – und die Hintergründe noch immer als unwesentlicher behandelt.

Diese Berichterstattung ist zutiefst unredlich, weil sie den Dienst an der Wahrheit gerade verrät. Sie lässt die protestierenden Menschen im Stich und steht auf der Seite des Bestehenden – die Neutralität des Journalismus völlig aufgebend.

Das Erstaunliche ist, dass Zaz sogar neutraler ist als die Journalistinnen – und sie wurde in Frankreich sogar dafür beschimpft, dass sie keine Stellung bezieht, aber sie sagt:[1]

Natürlich. Es ist erschreckend, diese Energie zu sehen, die manche nur nutzen, um etwas kaputtzuhauen. Generell finde ich es gut, wenn die Leute sagen: Bis hierhin und nicht weiter, wir haben genug. Sie treffen sich, diskutieren, wie der Alltag verbessert werden, wie man besser zusammenleben kann. Das zeigen die Medien nicht. Stattdessen brennende Autos, Polizisten, die von Demonstranten attackiert werden und andersrum. […] Die Gelbwesten, die ich persönlich kenne, sind Pazifisten.

Und sie, die französische Künstlerin, ist es, die die Motive hinter den Protesten thematisiert:[1]  

Ich glaube, die meisten wollen nicht mehr alles einfach so hinnehmen. Sie sind erschöpft, ihr Leben besteht aus Rechnungen, die sie bezahlen müssen, und Arbeit, die sie nicht glücklich macht. Die können nicht mehr, und daran ist nicht nur die Regierung schuld.

Von der Blindheit gegenüber dem Recht

Und hier sind wir bei einer zentralen Frage. Diese Menschen, die ,nicht mehr können’, die finanziell und sozial am Ende sind, ausgebeutet, mit Niedrigstlöhnen, vielleicht sogar entlassen – diese Menschen stellen die ganze Gesellschaft vor eine ungeheure Frage, nämlich: Wieso gibt es uns? Wie kommt es, dass in einem reichen Land nicht nur Armut, sondern Ausbeutung und Ungerechtigkeit existieren? Wie kommt es, dass eine Gesellschaft so aufgebaut ist, dass die Einen immer reicher werden und die Anderen immer ärmer, immer abgehängter, immer mehr an den Rand gedrängt? Der Franzose Victor Hugo schrieb einst das Werk ,Les misérables’ – die Elenden. Wie kommt es, dass wir noch zweihundert Jahre später ein Prekariat haben, das für den Reichtum der Reichen ausgebeutet wird? Vom Callcenter-Mitarbeiter über die Putzfrau, den Regalbefüller bis hin zu allen anderen Jobs, die nicht unwichtiger sind als alle anderen, aber so miserabel bezahlt, dass es nicht einmal zu einem menschenwürdigen Leben reicht?

Natürlich, ,der Staat’ kann hier nicht sogleich alles richten. Aber: das Fatale ist, dass Rudolf Steiners Idee der ,sozialen Dreigliederung’ nie wirklich aufgegriffen wurde und bis heute nicht verstanden ist. Sie beinhaltet unter anderem, dass sich Staat und Wirtschaft unabhängig voneinander entfalten müssen – aber trotzdem etwas völlig anderes als der real existierende Kapitalismus! Und nur, weil man ganz dem heutigen Dogma unterliegt, ist man blind geworden für die naheliegendsten Gedanken und Erkenntnisse.

Der Staat ist verantwortlich für dasjenige, was man ,Recht’ nennt – und ,Recht’ umfasst die Verhältnisse von Mensch zu Mensch. Der Staat hat nicht in das Wirtschaftsleben hineinzureden in Bezug auf die Frage, was hergestellt werden soll (das wäre Planwirtschaft). Aber er hat den Rechtsrahmen zu setzen, innerhalb dessen menschliches Miteinander, auch im Wirtschaftlichen, überhaupt stattfindet. Und zu den Rechtsfragen, für die der Staat (die nationale Gemeinschaft und in deren Vertretung die gewählten Volksvertreter) zuständig ist, gehört die Frage, ab wann ein Lohn nicht mehr menschenwürdig sind, aber zum Beispiel auch, welche Lohnunterschiede überhaupt noch gerecht, rechtmäßig sind. Das ist eine Rechtsfrage! Es geht hier um das Miteinander der Menschen, um ihr Verhältnis zueinander, um die Grundlagen des Zusammenlebens. Das ist nicht Sache des einzelnen Kapitalisten, sondern der ganzen Gemeinschaft – und damit des Staates. Genau dieser Punkt wurde bis heute nicht verstanden. Die Kapitalisten bzw. die Akteure des Wirtschaftslebens haben dem Staat entscheidende Fragen aus der Hand genommen, die aber nicht Wirtschafts-, sondern Rechtsfragen sind.

Kein Wirtschaftsakteur hat das Recht, Menschen auszubeuten und menschenunwürdig zu bezahlen, obszöne Lohnunterschiede zu errichten etc. etc. – aber genau dies geschieht heute! Und warum? Weil nicht verstanden wurde und wird, was Rechtsfragen sind – Rechtsfrage und nichts anderes. Die Diskussionen um Mindestlöhne sind ein allererster Anfang in diesem Bereich – aber auch nur das: allererste Anfänge. Die Frage des Rechts von Mensch zu Mensch, des Zusammenlebens als Gesellschaft, geht viel weiter. Und genau das spüren Menschen wie die Gelbwesten unbewusst. Sie protestieren nicht, weil sie genauso viel haben wollen wie ,der Kapitalist von nebenan’, sondern weil sie sich in ihrer Menschenwürde verletzt fühlen – und in ihr verletzt werden.

Wie die Gesellschaft heute strukturiert ist, ist Ergebnis des Kapitalismus – aber diese gegenwärtigen Strukturen sind Unrecht. Öffentlich sanktioniertes Unrecht, weil die Gesellschaft nicht verstanden hat, wie weit die Rechtsfrage geht. In der einstigen ,sozialen Marktwirtschaft’, in der diese Dinge noch ansatzweise verstanden und gespürt wurden, wurde das ,Soziale’ immer weiter abgeschafft, alle Lebensbereiche immer weiter ökonomisiert – bis der Mensch real nur noch ,Kostenfaktor’ war, bis die Menschenwürde auf ein Minimum heruntergerechnet worden war, bis man sogar noch hier ,sanktionieren’ durfte etc. etc. Immer wieder wurden Rechtsfragen (das menschliche Miteinander) mit Füßen getreten und ,entsorgt’, weil sie nicht als das erkannt wurden, was sie sind. Weil man all dies dem zunehmenden Profit in den Rachen warf – und meinte, dies alles wäre ,Fortschritt’ und sogar ,alternativlos’. In Wirklichkeit aber wurde immer wieder nur das, was ,Recht’ ist, immer weiter ausgehöhlt und abgeschafft.

Das ist die Wirklichkeit – und das ist der Hintergrund der Proteste der ,Gelbwesten’.

Wann...

Zuerst gingen die Interviewerinnen also über die Tatsache hinweg, dass Geld nicht glücklich macht – und erwiesen sich als hoch-dogmatische Gutmenschen. Dann gingen sie über das Berechtigte der Gelbwesten-Proteste hinweg und fielen diesen in den Rücken. Die Kubaner sind also zu bemitleiden, aber den in Mitteleuropa selbst Abgehängten muss man in den Rücken fallen, indem man naiv nur den Medienbildern glaubt und diese noch weiter aufputscht. Was für eine Verlogenheit! Und bei all dem wird nicht begriffen, dass es den Gelbwesten nicht um ,mehr Wohlstand’ geht (den man den Kubanern an den Hals wünscht), sondern um viel tiefer reichende menschlich-rechtliche Fragen nach den Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens.

Wann werden die Menschen wieder jene Wahrheitsliebe empfinden, die ihre Seelen befähigt, den Dingen auf den Grund zu gehen und so die Sphäre des Wesentlichen zu erreichen? Und wo sind wir als Gesellschaft gelandet, wenn eine Künstlerin wie Zaz nicht nur Kapitalisten, sondern sogar Journalisten beschämt? Und wo sind wir gelandet, wenn die Journalisten dies nicht einmal mehr merken?

Auf dem Weg zu einer tiefen Menschlichkeit haben wir noch einen sehr weiten Weg vor uns. Doch der erste Schritt ist, zu spüren, wie viel wir verloren haben. An diesem Punkt kann eine Sehnsucht erwachen – oder ihre leise Stimme hörbar werden. Wohl dem, der dann Ohren hat, innerlich zu hören...


Quelle:
[1] „Manchmal heule ich wie ein Werwolf“. Zaz im Interview [mit Anke Myrrhe und Angie Pohlers]. Tagesspiegel, 10.2.2019, S. S1 [Beilage ,Sonntag’].