28.08.2019

Der AfD-Hassprediger und das Mädchen

Von den Qualitäten der Zukunft.


Inhalt
Was ist ein Mädchen?
Schon wieder ein Mädchen
Der Ethos des Herzens
Das Herz eines Mädchens
Vom Wiederfinden der Seele
Von Angst und Herz


Was ist ein Mädchen?

Und schon wieder war es ein Mädchen. Der Tagesspiegel formulierte es salopper: ,Schon wieder eine von diesen Teenagerinnen’.[1]

Unter Hinweis auf die enorme Aufmerksamkeit, die Greta Thunberg bekommt, so der Artikel später, könne man meinen, sie sei einfach ein ,popkulturelles Phänomen, dessen Erfolg doch auch nur den Mechanismen eines Marktes gehorche’. Aber – Greta hat keinerlei Interesse an bloßen ,Fans’, und wer in diesen Kategorien denke, verwechsle Ursache und Wirkung:[1]

Denn ihre überraschend erfolgreiche Methode ist im Kern die unermüdliche Darlegung von Erkenntnissen und Argumenten zum Klimawandel. Ohne Beleidigungen anderer. Im Vertrauen auf Einsicht.

Einsicht ist gerade das Gegenteil von ,Popkultur’ und ,Kommerz’. Die Ersten, die sich Greta anschlossen, waren Wissenschaftler, die voll bestätigten, was sie sagte.

Was Greta in ihrer Art aber so einzig macht, ist die Bedingungslosigkeit, mit der sie ihre Botschaft vorbringt. Sie will niemandem ,gefallen’, sie will keinen Starrummel um sich – sie will die Welt retten, und sie weist darauf hin, dass diese Welt bedroht ist. Unermüdlich. Mit klaren, jegliche Bequemlichkeit konfrontierenden Worten. Die Hassbotschaften gegen sie im Netz stammen von all jenen, denen ihr bequemer Lebensstil wichtiger ist als dieser Planet und seine ökologische Stabilität – oder die ökologische und soziale Fragen gegeneinander ausspielen, obwohl beide existenziell wichtig sind und beide mit Füßen getreten werden.

Was also ist der Punkt? Dass hier ein Mädchen über all das bloß Persönliche hinaus seinen Blick auf das Wesentliche richtet – und sich mit allem, was es ist, dafür einsetzt. Warum wohl ein Mädchen? Weil es Herzenskräfte braucht, um zum Wesentlichen zu kommen. Und weil es Herzenskräfte braucht, zum Wesentlichen zu kommen und sich dann auch noch dafür einzusetzen. Und zwar wiederum mit seinem ganzen Wesen. Ein Mädchen kann das. Und ein Mädchen kann es so, wie es nur Mädchen können. Nämlich mit Herz. Mit Mädchen-Herzblut.

Man kann das übersehen oder ausblenden, aber das ist gerade die Realität. Der Unterschied, ob ein Politiker irgendetwas sagt … oder ein Mädchen. Es ist eine Frage des Wie. Es ist eine Frage der Hingabe – und diese wiederum hat zu tun mit Aufrichtigkeit, Ernst und Leidenschaft. Viele setzen sich für das Klima mit Worten ein. Greta tut es mit ihrem ganzen Wesen. Das ist der Unterschied. Das ist ein Mädchen. Bei einem Mädchen sitzt das Denken wirklich im Herzen – oder das Herz im Kopf. Darum kennt ein solches Mädchen keine Phrasen, sondern nur Wahrhaftigkeit.

Schon wieder ein Mädchen

Und nun also wieder ein Mädchen. Was war geschehen? Es ging um eine Veranstaltung von ,Jugend debattiert’ am 19. August, wo die Landesfinalisten dieses Wettbewerbs im Plenarsaal des Landtags Brandenburg auf die Spitzenkandidaten für die am kommenden Wochenende stattfindende Landtagswahl trafen. Im Internet sachlich angekündigt, kam es dabei unter anderem zu folgender Begegnung:

„Soll zum Schutz der heimischen Insekten- und Vogelpopulation die Förderung von Windkraftanlagen beendet werden?“
Pro: Andreas Kalbitz, AfD
Contra: Johanna Liebe, Evangelisches Gymnasium Neuruppin

Allein schon der Name – Johanna Liebe! Die Fünfzehnjährige ist Schülerin des Evangelischen Gymnasiums in Neuruppin. Kalbitz ist Vorsitzender der AfD Brandenburg. Seine Biografie ist abenteuerlich – außer elf Jahren Berufssoldatentum (1994-2005) und der Behauptung eines Informatikstudiums, an der nahezu nichts dran ist, kann er eigentlich nichts vorweisen [o]. Die Debattenfrage hatte Kalbitz selbst vorgeschlagen.[2] Dieser verlegte sich jedoch immer mehr auf heftige Polemik:[2]

Unter anderem beschimpfte er Greta Thunberg als „zopfgesichtiges Mondgesicht-Mädchen“, wetterte bei einem anderen Fragesteller gegen die Verblendung „durch die Dauerrotlichtbestrahlung“ und gegen Windkraft im Allgemeinen und sprach von einer „ökologischen Selbstbefriedigung“, die gerade in Mode sei.

Man muss sich das einmal vorstellen! Es handelt sich um eine öffentliche Veranstaltung, in der es um das Debattieren geht – mit jungen Menschen. Das Wesen der Debatte oder Diskussion ist der Kampf um die besseren Argumente. Die jungen Menschen sollen dies gerade lernen, weil es Grundlage jeder wahren Demokratie ist. Doch was begegnet diesem Mädchen? Ein Erwachsener, der noch nicht einmal über die Grundsätze dessen verfügt – weil er nicht anders kann, als die Ebene des Arguments zu verlassen und sich inmitten eigener argumentativer Unfähigkeiten in Polemik und Beleidigungen zu flüchten.

Wer keine klaren Gedanken und kein begrifflich-argumentatives Rückgrat hat, muss sich etwas anderes zusammenzimmern – Ersatzstäbe aus Polemik und Hass… Wer nicht in einem klaren Denken leben kann und dort bereits genügend Stabilität für sein Ich-Erleben findet, der muss ständig andere Menschen und Standpunkte angreifen, um sich wohlzufühlen – und überhaupt als eine eigene Existenz zu empfinden. So erklärt sich die große Masse der ,ewig Unzufriedenen’, hier liegt fast immer eine extreme psychologische Schwäche und Faulheit vor, die sich als Stärke tarnt und doch nur das Gegenteil ist. Eine Steigerung dessen sind die Hassbotschaften von Populisten wie der AfD – hier wird Hass zum Lebensziel. Nicht mehr nur Abwehr- und Selbstbestätigungsreaktion, sondern echtes Ziel. Hass und Härte sollen Realität werden.

Doch davon ließ sich Johanna nicht aus der Ruhe bringen. Sie reagierte souverän und ruhig und schaffte es so, den rhetorisch geschulten Berufspolitiker nicht nur mit Argumenten in die Enge zu treiben, sondern auch seinen polemischen Stil zu kritisieren und am Ende als Siegerin aus der Debatte zu gehen.[2]

Der Ethos des Herzens

Das Interview von ,jetzt’ mit Johanna zeigt, wie sehr dieses Mädchen in der Reinheit der Gedanken leben kann – und zwar nicht als Selbstzweck, sondern mit wirklicher Liebe zu dieser Reinheit, zu diesem Nur-Denken und Nicht-Angreifen, zu dieser Suche nach Wahrheit, nach dem Richtigen, dem (Moralisch-)Rechten, nach der Einsicht:[2]

Aber ich habe definitiv nicht erwartet, dass er so ausfallend wird, sondern mir eine konstruktive Debatte erhofft. Vor der Debatte hatte ich großen Respekt und wollte ihn nicht vorverurteilen. Aber seine Beiträge gingen völlig am Thema vorbei. Das fand ich schade, denn dafür ist so eine Veranstaltung nicht da, sondern dafür, einen Dialog zu schaffen.

Sie ist sogar unglaublich objektiv, fair und nicht-angreifend, als die Interviewerin sie fragt, ob Kalbitz vielleicht einfach nur schlecht vorbereitet gewesen sei:[2]

Darüber möchte und kann ich nicht spekulieren. Er hat viel über andere Themen geredet. Aber vielleicht lag das auch daran, dass er in letzter Zeit so viele Wahlveranstaltungen abgehalten und dann eben auch bei der Debatte sein Programm abgespult hat. Oder vielleicht hat er nicht verstanden, welchen Sinn diese Veranstaltung hatte.

Und dann geht es um den entscheidenden Moment – der, an dem die Debatte eindeutig mehr wird als nur eine Debatte:[2]

Eigentlich ist es ja nicht erlaubt, das eigentliche Thema der Diskussion zu verlassen. Aber als er Greta Thunberg beleidigte, war mir klar, dass ich etwas sagen muss. Zum einen finde ich nicht, dass es stimmt, was er gesagt hat, sie ist ein hübsches Mädchen. Zum anderen geht es einfach nicht, Menschen zu beschimpfen oder zu beleidigen. Ich hatte das Gefühl: Wenn ich jetzt nichts sage, dann ist das wie Wegschauen, das hatte etwas mit Pflichtbewusstsein zu tun.

,Pflichtbewusstsein’ ist heute ein merkwürdiges Wort. Es geht um nichts anderes als darum, die Stimme des Gewissens nicht zu überhören. Nicht zulassen, dass ein anderer Mensch folgenlos beleidigt wird, weil man unmittelbar das Falsche daran spürt. Etwas, was ein Mensch nicht tun sollte. Es geht um das unmittelbare Erleben des moralisch Guten. Um das Erleben, dass Kalbitz oder jeder andere Beleidiger unmenschlich handelt. Demokratie und menschliches Zusammenleben basiert ganz und gar auf diesem einen Erlebnis: dem Erlebnis dessen, was menschlich und was unmenschlich ist. Dem Nicht-Zulassen des Unmenschlichen. Dem Nicht-Wegsehen, wenn die Würde eines einzigen Menschen verletzt wird.

"Ich finde es eigentlich sehr schade, dass SIe nicht ohne Beleidigung eine Debatte führen können." (Johanna Liebe, hier, bei 1:15 min)

Das Herz eines Mädchens

Und das Unwahrscheinlichste ist, dass diese Johanna – eigentlich eine moderne ,Jeanne d’Arc’, eine Johanna von Orleans, eine Kämpferin mit dem reinen Schwert des Gedankens – diesen Ethos des Herzens mit einer größten Bescheidenheit besitzt. Sie hatte 2018 den deutschen Debattier-Preis gewonnen [siehe hier]. Aber auf die Frage, ob dieser ,Sport’ sie schon immer interessiert habe, antwortete sie:[2]

Kein bisschen! Aber in unserer Schule gehört das zum Rahmenprogramm: Das macht man ein paar Tage lang und danach gibt es einen Schulwettbewerb, bei dem niemand mitmachen wollte. Also wurde ich bestimmt und habe zufällig die Schuldebatte gewonnen. Aber dann wollte ich absolut nicht mehr, weil ich vorher furchtbare Angst hatte und es gehasst habe, dass mich alle so anstarren. Aber dann haben die Lehrer immer wieder gesagt: „Komm, die nächste Debatte schaffst du auch noch“, also habe ich mitgemacht. Und so bin ich unfreiwillig ins Finale gekommen und habe es unfreiwillig gewonnen. Ich hatte in dem Moment kein Gefühl dafür, dass das eigentlich toll war.

Typisch ist dann die Frage der Interviewerin, die sich dennoch erkundigt, ob es denn ,Spaß gemacht’ habe, ,so ganz grundsätzlich’, sich ,mal mit einem Berufspolitiker zu messen’. Die Interviewerin kann also nicht anders, als in jene Kategorien hineinzurutschen und diese Johanna anzubieten, die man jungen Menschen normalerweise unterstellt: Spaß, Fun, Lust. Warum müssen solche Fragen gestellt werden? Sie ziehen das Ganze auf ein Niveau herab, das am Ende nur noch erbärmlich ist – und den jungen Menschen von heute überhaupt nicht gerecht wird. Jedenfalls antwortet dieses Mädchen:[2]  

Ich glaube, Spaß ist zu viel gesagt. Es war sehr interessant und natürlich ist es ein cooles Gefühl, wenn man weiß, mit dem habe ich schon mal gesprochen. Spaß macht mir vor allem, mich auszutauschen und zu erfahren, welche Argumente andere Menschen haben. Und der Reiz an einer Debatte ist, darauf reagieren zu können. Aber so war es in meinem Fall ja nun nicht, sondern eher so, dass jeder über sein eigenes Thema gesprochen hat.

Mit anderen Worten: Kalbitz hat das Thema verfehlt, er konnte überhaupt nicht debattieren. Aber viel wesentlicher ist, was Johanna denkt und empfindet. In die herkömmlichen Kategorien fällt es, wenn sie es ,cool’ findet, schon einmal mit einer Berühmtheit des öffentlichen Lebens gesprochen zu haben – das kann auch nicht anders sein, weil uns allen in jeder Sekunde der ,Kult des Berühmtseins’ entgegenschlägt. Man könnte es ja auch als Makel empfinden, mit jemandem wie Kalbitz oder Trump auch nur in Berührung zu kommen. Aber in unserer Welt schlägt die Kategorie des Sensationellen eben doch alles andere.

Doch Johanna erwähnt dies ja nur ganz nebenbei. Ihr eigentliches Wesen lebt ganz woanders. ,Spaß’ – aber nicht im Sinne von ,Fun’, sondern von Freude – macht es ihr vor allem, sich auszutauschen und zu erfahren, welche Argumente andere Menschen haben. Es ist also Freude an der Begegnung selbst, an einem Eintauchen in die Gedanken auch des Anderen. An einem Kennenlernen der möglichen Gedanken über etwas. Hier lebt eine tiefe Selbstlosigkeit, ein Sich-Einlassen-Können, eine reine Begegnungsfähigkeit – und von all dem hängt unsere Menschheitszukunft ab. Gerade und nur von solchen Qualitäten.

Ich hätte gerne konstruktiver mit Herrn Kalbitz gesprochen, nicht so sehr aneinander vorbei. Das wollte er aber scheinbar nicht.[4]

Wenn ein Gespräch mit einem Mädchen scheitert, liegt es nie an dem Mädchen...

Vom Wiederfinden der Seele

Man steht hier wirklich vor jenen Seelenqualitäten, die Zukunft bilden – jetzt und hier, ganz konkret. Ein Mädchen wie Johanna hat diese Qualitäten und vertritt sie ganz bescheiden und selbstverständlich, fast noch unbewusst und doch stärker, deutlicher und reiner als jeder andere.

Wenn wir diese Qualitäten nicht wiederfinden, wird die Welt keinen Bestand haben – denn die Menschen werden sich in Unverständnis, Konkurrenz und Hass gegenseitig vernichten, nachdem sie alles andere vernichtet haben, oder sogar schon währenddessen. Noch begreifen die Wenigsten, wie existenziell die Lage bereits geworden ist. Man amüsiert sich über Trump oder Bolsonaro – und das sind nur die Spitzen der Eisberge –, aber man begreift nicht, dass der Kampf um die menschliche Seele schon längst begonnen hat. Eine Greta und eine Johanna stehen bei diesem Kampf ganz vorne – und sie vertreten hier das Rein-Menschliche, während um sie herum noch das Chaos von ,Popkultur’ und ,Konkurrenz’ und der ganze übrige Wahnsinn brandet, blind und ekstatisch, nicht begreifend, dass wir alle uns immer mehr dem Abgrund nähern.

Die Welt wird zerrieben zwischen der Visionslosigkeit des kapitalistischen Konkurrenzgedanken, der damit einhergehenden Vernichtungsmaschinerie (von Massentierhaltung bis Naturzerstörung, von Waffenexporten gar nicht zu reden) und andererseits der gegenüber all dem blinden und indifferenten ,Spaßkultur’ und den sie begleitenden, verwandten Lügen und Surrogaten. Der Planet wird zerrieben zwischen gnadenloser Ausbeutung und grinsender Gleichgültigkeit, zwischen Vergewaltigung und Lethargie, zwischen aggressiver Geopolitik und Profitgier einerseits und lähmendem Konsumdenken und gleichgültiger Fun- und Genuss-Haltung andererseits. Und nur eines steht in der Mitte und könnte all dies ändern und wieder heilen: Ein Herz, das noch empfinden kann, leiden kann, das wirklich sieht und spürt und erkennt, was geschieht – und das all dies nicht zulassen kann...

Kalbitz hält es ,nicht für zielführend’, auf Demos zu laufen ,mit einem zopfgesichtigen Mondgesicht-Mädchen’ vorneweg.[3] Der Schutz des Erdklimas ist für Kalbitz kein Ziel – stattdessen politische Macht und Aufweichung aller Vernunft. Es ist also ein unmenschliches Abirren von den wahrhaft menschlichen Zielen, solchen rechten Bauernfängern hinterherzulaufen. Bauernfängern, die von ,ökologischer Selbstbefriedigung’ sprechen, wo gerade sie sich in brauner Rhetorik fortwährend selbst befriedigen. Wer kein Herz mehr hat, merkt gar nicht mehr, wie er sich in Gefühllosigkeit und Polemik regelrecht gefällt und daran ,aufgeilt’.

Und man kann sich einmal fragen, wie sehr man auch selbst bereits abgestumpft ist – zwischen Morgenzeitung und Abendkrimi, zwischen Kino und Steuererklärung, zwischen Cappuccino und Webseiten-Hopping, zwischen Facebook, Instagram und Selfie, zwischen Soap Opera und saloppen Sprüchen, zwischen Ironie und Sarkasmus. Um die Erkenntnis der eigenen Abstumpfung kommen viele Menschen nur deshalb herum, weil sie nie in den Spiegel schauen.

Ein Mädchen braucht keinen Spiegel. Hätte es einen, würde es nur sehen, wie schön es ist – aber warum sollte es seine Bescheidenheit gefährden? Man gebe aller übrigen Welt einen Spiegel!

Von Angst und Herz

Auf eine weitere phrasenhafte Frage der Interviewerin (,Hast du auch für Nicht-Profis Tipps, wie man besser debattiert?’) antwortete Johanna:[2]

Das ist kein Tipp, aber ich habe gemerkt, dass mir etwas sehr geholfen hat: Obwohl ich innerlich unheimlich aufgeregt war und richtig gezittert habe vor Angst, bin ich äußerlich relativ entspannt geblieben. Und ich glaube, das hilft mir in diesen Situationen.

Vielleicht hatte ja sogar Johanna von Orleans Angst. Denn auch sie stand ganz allein – wenn auch begleitet von Engeln. Johanna jedenfalls kannte noch 2018 das ,Lampenfieber’ und konnte es gar nicht aushalten, im Mittelpunkt zu stehen. Angst ist in diesem Fall der große Wille, nicht im Mittelpunkt zu stehen, dies wird mit ganzer Kraft nicht gewollt. Man hat Angst davor und erlebt sich und die eigenen Gedanken als viel zu unbedeutsam – und selbst, wenn man weiß, dass sie Wert und Richtigkeit haben, möchte man nicht als Person im Mittelpunkt stehen.

Man kann dies als ,noch mangelnde Ich-Stärke’ deuten, aber im Grunde stehen wir hier vor einer gewaltigen Qualität. Denn die ganzen ,Ich-Künstler’ und großartigen ,Selbst-Performer’ haben wir auf der Welt schon genug. Die Welt erstickt geradezu an ,Ego-Meistern’ und selbstbewussten Selbstdarstellern, an Menschen ohne Lampenfieber. Die Angst, von der Johanna spricht, macht selbstlos – sie führt einen zum Wesentlichen. Sich selbst nicht für bedeutsam zu halten, öffnet einen für den Anderen und das Andere. Das gerade ist die große Qualität der Mädchen. Sie wissen um die Bedeutung von allem – auch von sich selbst. Aber sie stellen sich nie in den Mittelpunkt, machen radikal eine andere Bewegung: anderes in den Mittelpunkt zu stellen.

Das Männliche hat fortwährend den Drang, sich zu produzieren und zu präsentieren – das Mädchen hat einen völlig anderen Impuls: Selbstlosigkeit. Einem Mädchen geht es um die Sache, um die Wahrheit, um das Leben, um das Richtige. Gerade den Mädchen, denen so schnell das Emotionale und damit ,Subjektive’ nachgesagt wird, geht es um das in Wahrheit Objektive – während die männliche Welt in ihren Subjektivitäten steckenbleibt. Und eine dieser Subjektivitäten ist das Dogma der Objektivität. Als wäre man objektiv, wenn man sich mit dem Intellekt aus der Wirklichkeit herauszieht! Die Mädchen sind objektiv, weil sie drinbleiben! Die übrige Welt dagegen lebt in der subjektiven Illusion – man könne so weitermachen etc. Schon Rudolf Steiner sagte ganz deutlich, dass der Intellekt die Wirklichkeit längst verlassen hat. Er lebt also nur noch in der eigenen subjektiven Scheinwelt. Und was allein hat noch Verbindung zur Wirklichkeit? Das Herz. Das Herz der Mädchen.

Das Grunderleben dieses Herzens ist: ,Wenn ich jetzt nichts sage, dann ist das wie Wegschauen’. Wir alle wissen gar nicht mehr, wie sehr wir wegschauen. Ein Mädchenherz schaut nie weg. In meinem Büchlein ,Vom Blick des Mädchens’ habe ich dies einmal bis in die Tiefe erlebbar zu machen versucht.

Man sollte sich nicht wundern, wenn es auch ein nächstes Mal wieder heißt: Und schon wieder war es ein Mädchen. Man sollte vielmehr von den Mädchen lernen, worauf es wirklich ankommt.

Quellen

[1] Dieke Diening: Die Rückkehr des Arguments. Der Tagesspiegel, 28.8.2019, S. 1.
[2] „Ich hatte das Gefühl: Wenn ich jetzt nichts sage, dann ist das wie Wegschauen“. Interview von Christina Waechter mit Johanna Liebe. www.jetzt.de, 22.8.2019.
[3] Brandenburgs AfD-Chef Kalbitz wirft Schüler „Verblendung“ vor. Tagesspiegel.de, 19.8.2019.
[4] "Ich habe mich wirklich über Herrn Kalbitz geärgert". Interview von Armin Himmelrath. Spiegel.de, 21.8.2019.