30.08.2019

Der sterbende Regenwald und die sterbende Seele

30.08.2019

Zur ökologischen und zur innermenschlichen Katastrophe.


Inhalt
Die Katastrophe ist bereits da
Alles hat einen Preis, nichts einen Wert
Von der Rettung der Seele


Die Katastrophe ist bereits da

Der Regenwald geht zugrunde – durch den Wahnsinn der Menschen.

Zu Beginn der Regierung von Lula da Silva war es ab 2004 gelungen, die Waldvernichtung um 80-90 % (!) zu reduzieren. Unter Präsidentin Dilma Rousseff jedoch kippte die Agrarlobby 2012 das Waldschutzgesetz, die Abholzungen nahmen wieder zu, staatliche Kontrollen wurden abgebaut. Die Regierung Bolsonaro hat dann systematisch sämtliche Schutzmechanismen sabotiert, und die Waldvernichtung eskalierte völlig. Der Direktor des Instituts für die Erfassung der Entwaldung in der Amazonasregion INPE wurde von Bolsonaro zunächst persönlich attackiert und kürzlich durch einen Militär ersetzt.

Der Regenwald ist entscheidend für das globale Klima, allein schon die Luft- und Feuchtigkeitsströme. Ohne ihn wäre nicht nur Sao Paulo eine Wüste. Die Luftströme des Amazonas sind das Kopfende des Golfstroms, der wiederum das gesamte Klima in Europa bestimmt – ein global zusammenhängender Organismus.

Brasiliens führender Amazonas-Forscher Antonio Nobre weist darauf hin, dass die Katastrophe bereits eingetreten ist und im Osten Amazoniens das Klima bereits so gekippt ist, dass der Wald sich nicht mehr halten kann. Sein Bruder Carlos Nobre hatte dies bereits Ende der 80er Jahre vorausgesagt (damals noch für 2050!). Andere Forscher hatten zu der Zeit vor einer Katastrophe in etwa hundert Jahren gewarnt. Das internationale Forscherteam, zu dem Antonio Nobre gehört, hatte schon 2009 gewarnt, man habe nur noch fünf bis sechs Jahre. Jetzt sprechen auch andere Forscher von nur wenigen Jahren oder gar nur 18 Monaten, die man noch für ein radikales (!) Umsteuern habe.[1]

„Die äquatorialen Wälder sind […] existenziell für den Transport von Feuchtigkeit der tropischen Zonen auch in die nördlichen Gebiete des Planeten. Den amazonischen Regenwald zu zerstören bedeutet, das Herz des Planeten anzugreifen.“[1]

„Wir haben bereits die Katastrophe. [...] Die Realität ist: Die Titanic sinkt. Sie ist bereits mit dem Eisberg kollidiert und, ja, sie sinkt. Was ist jetzt noch  zu tun? Lass die Rettungsboote zu Wasser und hol die Schwimmwesten raus. und zwar schnell. Denn sehr bald schon wird sie auf den Meeresboden aufschlagen.“[1]

Alles hat einen Preis, nichts einen Wert

Man kann die Katastrophe in folgenden erschütternden Satz fassen: Wir leben in einer Welt, in der alles einen Preis und nichts einen Wert hat.

Was bedeutet dies? Es bedeutet, dass wir das Menschsein selbst verlieren. Denn eine menschliche, eine heilige Vernunft würde den Wert von allem erkennen – und die Seele, das Herz, würde den Wert von allem fühlen. Der Mensch aber entledigt sich seiner heiligen Vernunft – und sogar seiner Empfindungen, seines heiligen Fühlens. Er fühlt nicht mehr.

Was bleibt, sind Begierden. Diese haben nicht mehr mit Vernunft, nicht mehr mit Empfindungen, sondern nur noch mit Gier zu tun – also mit Willensregungen, die, nicht mehr gehalten von Weisheit (Vernunft) und Liebe (Empfindung), nackt und skrupellos (da gefühllos) dem ,Eigennutz’ dienen. Mit diesen selbstständig gewordenen Willenstrieben ist der Mensch dann in der Lage, blind und herzlos den Ast abzusägen, auf dem er selbst sitzt und existiert!

Und der Kapitalismus, der längst ein Raubtier-Kapitalismus geworden ist, fördert diese ,Vertierung’ der menschlichen Seele noch! Alles hat einen Preis: Alles kann begehrt, voller Gier gerafft und angeeignet werden. Nicht hat einen Wert: Bei nichts spürt man mehr moralische Grenzen, ein Gewissenshindernis, einen Eigenwert, ein Unverletzliches.

Derselbe Impuls, der einen täglich in jeder Werbung bombardiert: ,Verwirkliche dich selbst’ ist es, mit dem der eine Steuern hinterzieht, der zweite seine Profite durch Massenentlassungen steigert, der dritte in der Bahn für alte Menschen nicht mehr aufsteht, der vierte nicht mal mehr seine Nachbarn grüßt, der fünfte als Mafioso ,im Weg stehende’ Menschen abknallt, der sechste den Regenwald abholzt und anzündet.

Es ist immer der gleiche Impuls: Verdränge die Vernunft, verdränge das Gefühl – lebe für das, was dann noch bleibt: ein immer größerer, empfindungsloserer Ego-Wille.

Und hinzu kommt, dass inzwischen gar nichts mehr verdrängt werden muss – denn Vernunft und Gefühl schwinden von ganz alleine. Auch hier ist eine Eigendynamik eingetreten, die kaum noch rückgängig gemacht werden kann. Wie der Amazonas zugrunde geht, weil er an verschiedenen Stellen bereits den ,point of no return’ überschritten hat, so geht auch die menschliche Seele zugrunde, weil sie ihre menschlichen Lebenswurzeln allzu lange vernachlässigt hat.

Aus diesem Grund werden alte Menschen (besonders alternde weiße Männer) zynisch und sarkastisch, werden zu Egoisten oder unfruchtbaren Nörglern – auch wenn sie sich noch so viel auf ihre 68er-Vergangenheit der ,jungen Wilden’ zugutehalten. Sie sind es ja nicht mehr. Sie sind Zyniker oder unfruchtbare Nörgler. Teil der Vernichtung. Teil der Untergangskräfte. Kahle Zweige am Baum des Lebens, die längst alle Blätter verloren haben.

Von der Rettung der Seele

Ein einziges hat Wert: die Rettung der Seele. Auch die in der Gier versinkenden Seelen müssen irgendwann merken, dass sie innerlich sterben, dass sie nicht glücklich werden.

Es gibt aber auch eine Befriedigung am Bösen. Diese macht nicht glücklich, aber sie schenkt den verlorenen Seelen eine letzte Lust. Unglücklich sind sie, unglücklich machen sie. Dabei wäre etwas ganz anderes möglich: Das Glück, das wirkliche, erlösende Glück der Umkehr. Nicht mehr Ego sein, nicht mehr zerstören, nicht mehr unterdrücken, nicht mehr raffen, nicht mehr gieren, nicht mehr stehlen, morden, aneignen, vergewaltigen, auch nicht mehr im übertragenen Sinne. Stattdessen: echter Friede, echtes, wirkliches Glück. Glück der Seele. In voller Realität.

Es macht nicht glücklich, sondern unglücklich, verschafft allenfalls eine dunkle, schuldbeladene, einen für immer verfolgende Lust, über das Leben anderer Menschen und Wesen hinwegzutrampeln und ihnen zu schaden. Es macht dagegen glücklich und durchbricht die schwarze, schwärende Kette eines falschen Lebens, das Ego fallenzulassen und sich der Seele zuzuwenden, dem Geheimnis des Menscheninneren in seinen Tiefen, dem Geheimnis des Menschlichen, dem Geheimnis des Menschen. Diese Umkehr, diese Einkehr, diese Rückkehr macht glücklich – denn sie macht als Einzige Sinn. Sie schenkt Sinn. Sie schenkt das, was man sich nie kaufen können wird, selbst dann nicht, wenn man über Leichen geht. Und wir alle gehen über Leichen, auch ohne es zu wissen.

Die Rückkehr zu einem wirklichen Empfindenkönnen schenkt tiefsten Sinn und tiefstes Glück. Sie schenkt auch Leid, aber hier verwandelt sich selbst Leid in Glück, denn das Nicht-mehr-leiden-Können ist fast ein genauso großes  Unglück wie das Nicht-mehr-sich-freuen-Können (allenfalls noch eine kalte, hohle Freude, eine Surrogat-Freude zu haben).

Es gibt nur einen Weg zum Glück: Das Wieder-Erreichen des Herzens. Den Weg dorthin kann man nicht kaufen. Man muss ihn gehen. Auch er hat einen Preis: das eigene Leben. Man muss das eigene Leben hin-geben, der Weg zum eigenen Herzen verlangt wirklich Hin-Gabe. Aber dieser Preis ist nicht zu hoch. Denn mit allem, was man gibt, wird man hundertfach beschenkt. Man gibt sein bisheriges wertloses Leben hin – und empfängt ein erst wahrhaft wertvolles Leben, denn erst jetzt beginnt ein wahres Leben. Das Leben der Seele. Hier beginnt das Reich des Wertes...

Ein Lächeln und eine Träne sind mehr wert als ein äußeres Vermögen. Das werden eines Tages auch die wieder fühlen und begreifen, die verlernt haben, zu lächeln und zu weinen.

Erst wenn die Seelen wieder das Weinen lernen, wird auch der Amazonas noch gerettet werden können.

Quelle

[1] „Nicht nur für Brasilien wird es das Ende sein“. Interview mit Antonio Nobre. Der Tagesspiegel, 30.8.2019, S. 24.