15.09.2019

Ein Mädchen verändert die Welt

12.09.2019

Filmbesprechung: Rocca verändert die Welt. Katja Benrath (Regie). D 2019, 101 min. | Trailer | DVD.


Inhalt
Werdegang einer großartigen Regisseurin
Kurzfilm mit tiefster Botschaft
Rocca – eine Pippi mit ganz viel Herz
Man sieht nur mit dem Herzen gut
Und wieder ist es ein Mädchen


Werdegang einer großartigen Regisseurin

Für diesen wunderbaren Kinder-, Jugend- und Erwachsenenfilm, der im März in den Kinos lief und der jetzt auf DVD erschienen ist, werde ich ein bisschen ausholen. Es ist der erste Langfilm der Regisseurin Katja Benrath – und eine Perle von Film!

Benrath (geb. 1979) wuchs zunächst in dem 8000-Einwohner-Städtchen Stockstadt in Unterfranken auf, kam dann mit neun Jahren nach Lübeck. Dort begeisterte sie sich am Katharineum – während ihre Mutter sie und ihre Geschwister übrigens vom Fernsehen fernhielt – schon in der sechsten Klasse für das Theater (Spielen, Singen, Kostüme nähen, Bühnenbildbau), wollte auch später unbedingt an das Theater, hatte aber für Schauspiel zunächst nicht genügend Selbstvertrauen. Aufgrund einer großen Leidenschaft für das Nähen lernte sie daraufhin an den Wuppertaler Bühnen Schneiderin.

Ihren Traum Schauspiel verlor sie nie aus den Augen. Als sie dann eine Wette verlor, war es so weit: Sie hatte sich vorgenommen, dann am Max-Reinhardt-Seminar in Wien vorzusprechen – und kam so zum Studium am Vienna-Konservatorium (2002-06). Insgesamt blieb sie 12 Jahre in Wien, fand sich nach dem Studium jedoch nicht zurecht, wollte und konnte sich nicht anpassen:[1]

Ich mag diesen ganzen Smalltalk nicht, ich mag nicht auf Premierenfeiern gehen, um „wichtige“ Leute zu treffen. Und das schien plötzlich dazuzugehören, um irgendwo hinzukommen.

Als ein guter Freund sie fragte, einen Kurzfilm zusammen zu machen, entstand ein solcher 2009, und sie merkte, dass sie dies weitermachen will. Schließlich, mit dreißig, entschloss sie sich 2014 noch einmal zu einer großen Veränderung, zog nach Hamburg und studierte dort zwei Jahre an der Hamburg Media School. Ihre Abschlussarbeit wurde  für den Oscar 2018 nominiert.

Ihr großartiges Langfilm-Debüt ,Rocca’ war im Kino selbst nur mittelmäßig erfolgreich (Startwochenende 62.000 Zuschauer [o], zum Vergleich: ,Greenbook’ hatte damals doppelt so viel und dies schon sieben Wochen in Folge). Doch das besagt nichts über die Qualität dieses Films – im Gegenteil. Oft werden die besten Filme heute nicht mehr erkannt. Und als scheinbarer ,Kinderfilm’ kommt ,Rocca’ äußerlich auch unscheinbar daher. Wer ihn aber gesehen hat, wird wirklich des Gegenteils belehrt.

Regisseurin Benrath selbst sagt über ihre weiteren Zukunftspläne:[1]

Ich möchte unbedingt mit jeder Faser meines Daseins leben und diese Kraft in Projekte stecken, die mich bewegen. Mit voller Seele zu arbeiten und begeistert sein dürfen [...].

Hoffen wir, dass weitere so einzigartige Projekte dabei entstehen!

Kurzfilm mit tiefster Botschaft

Der an der Hamburg Media School als Abschlussarbeit eines Viererteams (mit Drehbuchautorin, Produzent und Kameramann) entstandene Kurzfilm ,Watu Wote’ (All of us) [siehe auch hier] ist absolut bemerkenswert. Der Schulleiter hatte den StudentInnen einen Spiegel-Artikel geschickt, und das Team fing sofort Feuer:[1]

Ich bekam eine Ganzkörpergänsehaut, denn dieses Thema hat so viel mit meinem Wunsch zu tun, dass Menschen solidarisch sind und sich gegenseitig unterstützen.

Es ging um den Überfall islamistischer Al-Shabaab-Terroristen auf einen Reisebus in Nordkenia an der Grenze zu Somalia Ende 2015. Der Inhalt des Filmes:

Der Film erzählt die Geschichte aus der Perspektive einer jungen, allein reisenden Christin. Sie ist auf dem Weg zu einem Besuch im islamisch geprägten Norden Kenias und fühlt sich als eine der wenigen Christen im Bus zuerst fremd unter den vielen Muslimen. Diese Gefühle, das Unbehagen, der Schrecken, die Panik und schließlich die Todesangst spiegeln sich in der Figur wider. Eine tief verschleierte Frau, die im Bus neben der Protagonistin sitzt, sowie zwei anfangs verdächtige Reisende entwickeln sich zu den wichtigsten und mutigsten Figuren des Films. Als islamistische Kämpfer der Al-Shabab den Reisebus überfallen und die Insassen auffordern, sich aufzuteilen – Christen hier, Muslime dort – weigern sich die Fahrgäste jedoch. Ein Lehrer, selbst Muslim, der sich den Aggressoren entgegen stellt, wird angeschossen und stirbt später an seinen Verletzungen.

Die vier StudentInnen reisten nach Kenia, recherchierten, fanden eine pulsierende Filmbranche vor Ort. Mit einem großartigen Team wurde der Film gedreht:[1]

Das Team hat in Zelten geschlafen und wir haben nächtelang beim Feuer geredet, Deutsche und Kenianer, Christen und Muslime. Dadurch ist ein Zusammenhalt und eine Kraft entstanden, die für mich im Film spürbar ist.

Im Oktober 2017 bekam der Film einen der drei sogenannten ,Studentenoscars’. Als der Anruf aus Los Angeles kam, ging sie für einen besseren Empfang auf die Straße, wo sie vor Freude herumhüpfte und ganz vergaß, dass sie nur ihren Wohlfühl-Pyjama trug. Ein Jahr später wurde der Film auch für den regulären Oscar nominiert.

Rocca – eine Pippi mit ganz viel Herz

Dann drehte Benrath ihren ersten Langfilm – in ihrer neuen Wahlheimat Hamburg. Auch hier zunächst der Inhalt [o]:

Die ebenso kluge wie mutige Rocca (Luna Maxeiner) ist erst elf Jahre alt und führt ein ungewöhnliches Leben. Ihre Eltern sind im Himmel – die Mutter, weil sie bei Roccas Geburt starb und ihr Vater, weil er als Astronaut zur Internationalen Raumstation aufgebrochen ist, weswegen die Elfjährige bei ihrer Großmutter in Hamburg unterkommen soll. Die scheint irgendwie kein Herz für ihre Enkelin zu haben und landet dann bald wegen einer Gehirnerschütterung im Krankenhaus. Rocca muss nun allein klarkommen, was ihr aber herzlich wenig ausmacht. Denn sie hat nicht nur Eichhörnchen Klitschko, sondern auch ihren neuen Freund, den Obdachlosen Caspar (Fahri Yardim), dem sie bei einem schweren persönlichen Schicksal beisteht. Gerechtigkeit ist dem unbekümmerten Mädchen besonders wichtig. Daher stellt sie sich in der Schule auch den Mobbern der Klasse angstfrei entgegen. So zeigt sie ihren Mitschülern und Lehrern, dass ein Kind dazu fähig ist, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Und ganz nebenbei möchte sie das Herz ihrer Großmutter gewinnen…

Der Film ist eine Art deutsche ,Pippi Langstrumpf’, die es ohne alle Schwierigkeiten mit dem Original aufnehmen kann – denn sie ist nicht bloß humorvoll, sondern auch noch herzerwärmend, dies steht bei ihr im Vordergrund. Sie hat nicht nur Mut, Selbstvertrauen und gute Ideen, sondern vor allem eines: ganz viel Herz.

Der Vergleich mit Pippi liegt nicht nur durch die außergewöhnlichen Charaktere nahe. Rocca hat eigentlich auch einen sehr langen Namen, hat zwar keinen Affen oder Pferd, aber ein Pflege-Eichhörnchen, und sehr schnell gehören zwei Geschwister zu ihren Freunden – die ebenso ängstlich und übererzogen sind wie Thomas und Annika. Damit konfrontiert der Film auch die moderne pädagogische Welt mit ihren Fehlern – und die Erwachsenen mit ihren eigenen Lebenslügen und Verbogenheiten. Rocca ist bei ihrem Vater in der Weltraumausbildung aufgewachsen – und ist nun ganz allein, während ihr Vater im All nur vollstes Vertrauen zu ihr haben kann ... und hat. Denn Rocca hat alles gelernt, was sie braucht. Und was wir alle sehr, sehr bräuchten.

Das Drehbuch schrieb Hilly Martinek, die auch bereits mit Til Schweiger das Skript zu dessen Film ,Honig im Kopf’, einem der größten deutschen Erfolge der letzten Jahre, geschrieben hatte. Rocca aber war ,schon sehr lang ein Herzensprojekt’ von ihr. Kein Wunder, sagt sie doch im Interview:[2]

Ich habe beobachtet, dass Kinder oft mit Ängsten aufgezogen werden – das ist in meinen Augen falsch, man sollte Kindern viel mehr zutrauen, damit sie selbstsichere und fröhliche, in sich ruhende Erwachsene werden können. [...] Man muss Kindern mehr Mut machen, Dinge anzupacken und selbstständig zu sein. All das ist Rocca. [..] Ich glaube, in mir steckt ein großes Stück Rocca. Ich bin schon als Kind mit meinem Pony zur Schule geritten, um dann darauf hingewiesen zu werden, dass es verboten ist, ein Pony auf dem Schulhof anzuleinen. Ich stehe für Dinge ein, die ich ungerecht finde und versuche meine Kinder dazu zu erziehen, Probleme anzupacken und nicht wegzugucken. Alle drei sind sehr engagiert [...] reisen zum Beispiel nach Namibia, um im Township Hütten zu restaurieren.

Man sieht nur mit dem Herzen gut

Regisseurin Benrath sagt über die Hauptperson des Films:[1]

Rocca ist elf Jahre alt und ein Mädchen, das komplett von woanders kommt, mit anderen Werten aufgewachsen ist. Sie kommt nach Hamburg und trifft auf ganz viele Dinge, die für uns normal sind, die sie aber nicht versteht. Sie hinterfragt alles mit diesem unschuldigen, frischen Blick. Sie sieht etwa Obdachlose und fragt sich, warum ihnen niemand hilft, oder sie erlebt in ihrer Schule gegenseitiges Mobbing. Rocca entscheidet sich, dass zu verändern, weil sie es so nicht stehen lassen kann.

Und das ist absolut ernstzunehmen. Dieses fröhliche, unbeschwerte Mädchen krempelt die sie umgebende Welt wirklich komplett um. Sie sorgt dafür, dass das Mobbing in ihrer Klasse aufhört – und schweißt am Ende die ganze Klasse zu einer Gemeinschaft zusammen. Sie sieht die Obdachlosen und knüpft mit YouTube-Videos ein Band  zu allen übrigen Menschen, hilft und organisiert Hilfe. Nebenbei lässt sie durchblicken, dass der sonst übliche Gebrauch der Handys größtenteils völlig sinnlos ist.

Dass das alles nicht aufgesetzt wirkt, liegt sowohl an der wunderbaren Story als auch an der zwölfjährigen Hauptdarstellerin. Ein privater Filmkritiker – und dass Erwachsene Kinderfilme besprechen, ist doch wirklich ein Qualitätsbeweis! – schreibt [o]:

Luna Maxeiner ist ein Glücksfall für die Produktion und für das Publikum. Die talentierte Newcomerin [...] spielt ihre Rolle wunderbar authentisch und engagiert als sympathisch offenes, kluges, dazu rücksichtsvoll-empathisches Wesen mit minimaler Toleranz für Ungerechtigkeiten jeglicher Art. Wo andere ein Problem sehen, sieht sie eine Lösung. [...]
[...] Benrath hat einen rundum positiven, optimistischen und dabei sogar für Eltern oder große Geschwister mächtig unterhaltsamen Jugendstreifen erschaffen.

Wenn es in derselben Kritik heißt, Rocca sei ein tolles Vorbild, nicht nur für Mädchen ... so hätte es heißen müssen: nicht nur für Kinder. Denn es geht keineswegs um bloße Unterhaltung. Selbst auf der offiziellen Plattform ,Filmstarts.de’, deren Kritiker wie auch anderswo heutzutage vor allem mit Emotionen meist wenig anfangen können, heißt es:

Das erfrischend-freche wie ehrlich-berührende Familien-Abenteuer [...] rührt mit seinem mutmachenden Optimismus zu Tränen [...].

Die Themen Obdachlosigkeit, Mobbing, Gemeinschaftsbildung sind natürlich dafür prädestiniert – aber wer kennt heute noch wirkliche Tränen? Auch dafür braucht es inneren Mut und echte Berührbarkeit. Dieser Film kann einem beides wieder schenken. Neben ,Rocca’ spielt vor allem Fahri Yardim den durch einen Schicksalsschlag in die Obdachlosigkeit geflüchteten Caspar absolut herausragend. Allein in seinem Minenspiel liegen Welten inneren Erlebens. Und wären es nur diese beiden Menschen, würde der Film schon zutiefst lohnen – aber es ist ja noch wesentlich mehr.

Und wieder ist es ein Mädchen

Ein anderer Kritiker sagt [o]:

„Rocca verändert die Welt“ ist einer der schönsten Kinderfilme, die ich seit langer, sogar seit sehr langer Zeit gesehen habe, weil er tatsächlich über dieses action-bunte Bonbonding hinauswächst. Er hat mich auf eine kostbare Weise berührt und bewegt. Filme, die das schaffen, sind sowieso die kraftvollsten.

Und Yardim, der eben erwähnte Profi-Schauspieler, sagt im Interview mit diesem:[3]

Die Schwere der Themen wird durch den Zauber dieses Mädchens warm eingebettet. Sie erinnert an die urmenschliche Kraft der Freundlichkeit und Ihre unverschämte Offenheit dient ihr dabei als Superkraft. Die größte Stärke des Films aber ist, dass er besonders auch die Erwachsenen anspricht. Man geht aus dem Film mit einem gestärkten Vorsatz, sich der Welt wieder bedingungslos freundlich zu nähern. Viel mehr geht nicht. [..] Ja, es ist eine verdammt tragische Geschichte, die Caspar auf die Straße wirft. Umso schöner ist, wie Rocca seinen Lebensmut wieder erweckt, indem sie sein Selbstmitleid durch ihre Freundlichkeit geradezu herausprügelt.

Und über die Regisseurin:[3]

Sie ist eine Traumbesetzung [...]. Um einen Film so berührend erzählen zu können, musst du die Rührung in dir tragen. Sie hat einen Teil ihrer Persönlichkeit in diesen Film fließen lassen und das macht ihn, befürchte ich, so wertvoll.

Rocca ist mutig und selbstständig wie nur irgendetwas – und das hat ihr Vater ihr beigebracht. Sie übertrifft alle Mädchen und Jungen ihrer Schule an Mut und Zivilcourage. Und dennoch ist es ein Mädchen. Warum wohl? Weil sie eine Reinheit des Herzens hat, die gerade den Jungen in unserer männlich geprägten Welt heute systematisch ausgetrieben wird. Es ist aber gerade diese Reinheit des Erlebens und Empfindens, die neben dem ,frechen Geradeaus’, das Rocca mit Pippi so verwandt macht, den Zauber dieses Filmes ausmacht – der sogar die Erwachsenen erreicht und deren Herzen berührt.

Warum kann so etwas nur ein Mädchen? Das ist die eigentliche Konfrontation dieses Filmes. Er konfrontiert die Welt nicht nur mit einer falschen Erziehung, sondern mit einer generell falschen ,Gewordenheit’. Was wir verloren haben, ist der vollkommen offene Herzensblick, die Empathie in ihrer vollen Wahrheit.

Rocca hat diesen Blick. Und ... sie ist ein Mädchen.

Quellen:

[1] „Ich tendiere dazu, zu versinken“ (Interview mit Katja Benrath, Marco Carini, taz, 7.11.2018).
[2] Im Gespräch mit Hilly Martinek: Wieviel Rocca steckt in dir? (aufblen.de, 8.3.2019).
[3] Einer der schönsten Kinderfilme seit sehr langer Zeit: Fahri Yardim über "Rocca verändert die Welt" (Björn Becher, Filmstarts.de, 15.3.2019).