29.10.2019

Gesucht: Frauen, die das Herz berühren

Filmbesprechung: Der Glanz der Unsichtbaren. Louis-Julien Petit (Regie). F 2019, 98 min. | Trailer.


Inhalt
Eine Flut von Unsinn – und eine Perle
Ein Film über obdachlose Frauen?
Volle Verantwortung
Ein besonderer Regisseur
Eine ganz besondere Gemeinschaft
Mehr als nur ein Film


Eine Flut von Unsinn – und eine Perle

Jede Woche kommen ein gutes Dutzend neuer Filme in die Kinos – Woche für Woche. Die meisten Filme sind mittelmäßig, gehaltlos, auch wenn es Blockbuster sind, die aus irgendwelchen Gründen ein Millionenpublikum anziehen – man lässt sich eben unterhalten.

Filme, die einem wirklich nahegehen und nahekommen, die noch wirklich mit der Seele zu tun haben, weil sie selbst Seele haben – solche Filme muss man gleichsam wie mit der Lupe suchen. Warum geht diese Qualität so sehr verloren? Weil der Zeitgeist Materialismus, Anonymisierung und Konsumhaltung wie ein Amalgam miteinander verschmilzt. Die davon geprägten Seelen verlieren radikal ihre eigentliche Qualität: ihr wahres Wesen als Seele. Es entstehen Seelen, die ihr Seelisches gerade verlieren. Dann geht man eben in einen Blockbuster und bekommt genau das, was man erwartet. Es ist wie Huxleys schöne neue Welt. Die Seele verliert sich selbst – und bemerkt es noch nicht einmal.

Und dann gibt es inmitten des Überangebots an belangloser, sinnloser Medienüberflutung mit Action-, Zombie-, Animations- und anderen Filmen doch immer wieder einmal Perlen. Wie wenn man am Strand entlangwandert und auf einmal ein kleiner Bernstein in der Sonne leuchtet.

Ein solcher Film ist ,Der Glanz der Unsichtbaren’ des noch jungen französischen Regisseurs Louis-Julien Petit (geb. 1983).

Ein Film über obdachlose Frauen?

Es geht um obdachlose Frauen – gerade sie sind die Unsichtbaren, obwohl sie in Deutschland fast ein Drittel, in Frankreich ganze 40 Prozent aller wohnungslosen Menschen ausmachen. Und doch ist der Film kein Sozialdrama wie etwa der ebenso großartige Film ,Ich, Daniel Blake’ (2016) des Briten Ken Loach, sondern eine halbe ,Komödie’. Im Grunde jedoch versagen bei Petits Film die Genregrenzen, denn es ist eben keine Komödie, obwohl auch Elemente dieses Genres eingewoben sind. In Wirklichkeit aber geht der Film viel tiefer – er hat eine Tiefe und eine Würde, die seinen Menschen entspricht.

Denn bis auf einzelne Hauptdarstellerinnen sind alle übrigen Schauspielerinnen Laiendarsteller, die nur für diese Rolle gesucht wurden, weil sie selbst einmal obdachlos waren. Und das strahlt dieser Film von Anfang bis Ende aus – Authentizität, ein inneres Leuchten starker, vom Leben geprüfter, aber aufrecht bleibender und sich gegenseitig wieder aufrichtender Frauen. Ein absolut großartiger Film.

Mittelpunkt des Films ist zunächst das Tageszentrum L’Envol irgendwo im ohnehin benachteiligten Nordfrankreich. Die Sozialarbeiterinnen Manu, Audrey, Hélène und Angélique helfen Tag für Tag Frauen, mit ihren Minimalbedürfnissen über die Runden zu kommen: eine warme Dusche, etwas Zahnpasta, eine Steckdose zum Aufladen des Handys. Aufnehmen dürfen sie die Frauen nicht – schlafen müssen sie wieder woanders. So sind die Strukturen. Von den vorgesetzten Stellen werden die mit Herz arbeitenden Frauen ohnehin schon dafür kritisiert, dass sie die obdachlosen Frauen ,überbehüten’ und so eigentlich den Wiedereinstieg in die Gesellschaft verhindern – und die Erfolgsquote von nur vier Prozent scheint dem Recht zu geben. Das Zentrum soll geschlossen werden.

Die besonders engagierte Audrey aber argumentiert orientiert an ihrer täglichen Praxis: Sie dürfen den Frauen genau an dem Punkt nicht weiter helfen, wo sie Hilfe bräuchten. Sie würden nur dann wieder in der Gesellschaft Fuß fassen können, wenn man ihnen umfassend beistünde. Insofern geht es in diesem Film auch um die Frage, was eigentlich erfolgreiche Sozialarbeit ist oder wäre – und was eben nur Verwaltung falscher, trauriger Verhältnisse.

Sollte das Zentrum geschlossen werden, wäre die nächste Alternative ein anderes Zentrum 50 Kilometer entfernt. Davon wollen aber auch die täglich kommenden Frauen nichts wissen – erstens schlafen im anderen Zentrum auch Männer, und ,man weiß ja, was dann passiert’, und zweitens ist das L’Envol vielen Frauen emotional eine Art Heimat geworden. Auch dies scheint wieder die Kritik zu bestätigen, man würde die Frauen in Abhängigkeit bringen und halten.

Volle Verantwortung

Dann aber überschlagen sich die Ereignisse – die Kommune lässt durch die Polizei eine kleine Zeltsiedlung räumen, wo viele der Frauen bis dahin gehaust hatten. In dieser Situation öffnet das L’Envol seine Türen für die nun buchstäblich völlig obdachlos gewordenen Frauen – und die fortwährend zwischen professioneller Distanz, menschlicher Wärme und aufgeriebener Resignation agierende Leiterin Manu übernimmt die volle Verantwortung für diesen Schritt in die Illegalität.

Auf engstem Raum arrangieren sich die Frauen nun miteinander. Vor allem aber entfaltet Audrey die Vision, die Frauen wieder zu ermächtigen, sich auf ihre schlummernden Fähigkeiten zu besinnen – als sie eine von ihnen bei der Reparatur einer Waschmaschine entdeckt. ,Hab ich im Gefängnis gelernt’, kommentiert die grobschrötige Chantal nur lakonisch. Audreys Hoffnungen sind realistisch und idealistisch zugleich: ,Wenn es nur eine Einzige schafft – das wäre doch schon ein Erfolg...’

Ihre Kolleginnen lassen sich auf die neue Vision ein – und das anfangs völlig illusionär scheinende Projekt entwickelt eine Eigendynamik. Allmählich fängt die seltsame Gemeinschaft Feuer – und entsteht so überhaupt erst als wirkliche Gemeinschaft. Die Hoffnung auf ein vielleicht wieder normales Leben, vor allem aber das wachsende Verständnis füreinander schweißt die Gemeinschaft der Frauen zusammen. Man lacht und weint gemeinsam, bearbeitet auf kreative Weise die jeweiligen inneren Traumen, übt Vorstellungsgespräche mit diversen Hindernissen, lernt auch hier zu schönen … bzw. scheitert an der radikalen Ehrlichkeit von Chantal, die einfach nicht verschweigen kann, dass sie im Gefängnis saß, weil sie einst ihren misshandelnden Mann umgebracht hat.

Und in kleinen Momenten ist immer wieder Szenenhumor nicht nur möglich, sondern man kann sich diese Filmperle gar nicht anders vorstellen. Er ist nicht aufgesetzt, sondern gehört dazu – ohne ihn wäre dieses Leben unerträglich. Es ist nie Humor über eine Person, sondern ein Humor, der fortwährend bestärkt, der das ,Wir-Gefühl’, aber auch die Verletzlichkeit des Ganzen zum Ausdruck bringt. Sozusagen ein ,Feel-good’-Humor, der tief berührt, keinerlei Seichtigkeit hat, sondern die ganze Tiefe jener Herzlichkeit, die sich wie ein goldener Strahl durch diesen Film hindurchwebt.

Dass der Film nie seicht wird, verdankt er außerdem der Tatsache, dass es keineswegs alles so einfach ist, wie es bis hierhin vielleicht klingen mochte. So gibt es zum Beispiel eine junge Frau, von der man bis zuletzt nicht weiß, ob sie den inneren Sprung schafft – möglicherweise nicht. Und gerade sie liegt Audrey besonders am Herzen. Zugleich haben auch die vier Sozialarbeiterinnen alle ihr Bündel zu tragen. Audrey zerbricht manchmal fast an ihrem Engagement. Hélène lebt gerade in einer scheiternden Ehe. Und die Leiterin Manu, die Audrey auf ihre mangelnde Distanz hinweist, hat selbst einst die Vierte im Bunde, Angélique, eine junge, energische Schwarze, adoptiert und so von der Straße geholt.

Ein besonderer Regisseur

Inspiriert wurde Regisseur Petit zu dem Film im Sommer 2014 durch das Buch ,Sur la route des invisibles’ von Claire Lajeunie, das sie schrieb, während sie zugleich eine Dokumentation über obdachlose Frauen drehte. Er erinnert sich:[o]

Wir waren überzeugt davon, dass die Porträts dieser fragilen und gleichzeitig kämpferischen Frauen ein großartiger Stoff für einen Spielfilm wären: Catherine, Mitte 50, die sich an egal welchem Ort schlafen legen kann, oder Julie, die ihre Situation mit ihren 25 Jahren eigentlich nicht wahrhaben will … Frauen voller Widersprüche, die einen verzaubern und zur Verzweiflung bringen können: Filmheldinnen.

Ein Jahr lang verbrachte Petit damit, sich mit Sozialarbeiterinnen zu treffen und mit obdachlosen Frauen zu sprechen. Er tauchte völlig ein in das Thema, und fast wäre eine zweite Sozialreportage entstanden – aber damit wäre Petit über die Doku von Lajeunie nicht hinausgegangen. Im Herbst 2016 warf er seinen Entwurf über den Haufen und begann noch einmal völlig neu. Letztlich wiesen ihm die Protagonistinnen selbst den Weg:[o]

Schon aus Respekt für diese Frauen mit ihrem selbstironischen Humor und ihrer Abneigung gegen jede Form von Selbstmitleid wollte ich das Publikum eine Welt voller Unsicherheiten erleben lassen. Es war mir wichtig, die Protagonistinnen in all ihrer Komplexität zu zeigen, ohne Pessimismus und ohne Mitleid, damit der Film all den Frauen, denen ich während der Vorbereitung begegnet bin, gerecht wird. Der Humor funktioniert dabei wie eine Art Schutzschild. [...] Es geht um Kämpferinnen, deren Erfolg gerade darin besteht, dass sie gemeinsam ungewöhnliche Dinge erleben, dass sie gemeinsam kämpfen.

Petit lud schließlich über hundertfünfzig Frauen ein, nahm sich viel Zeit für jede einzelne, führte Workshops durch – und kam so schließlich zur Auswahl der Darstellerinnen. Auch der Drehort entspricht dem Film, denn auch die echte Einrichtung stand vor der Schließung, die Menschen dort waren ,unglaublich natürlich’, ihre Aufrichtigkeit ,überwältigend’, so Petit. Seine eigene Vision beschreibt er mit den Worten:[o]

Ich wollte mit dem Film von jenen Frauen erzählen, die von der Gesellschaft ausgeblendet werden, und jenen, die tagtäglich bei ihnen sind. Ich wollte zeigen, dass sie trotz der Rückschläge, die sie auf ihrem Weg erlitten haben, auch ein Leben vor der Straße hatten: Eine Arbeit, Talente, Träume – und dass sie nichts von ihrer Persönlichkeit, ihrer Würde, ihren Wünschen und ihren Träumen eingebüßt haben. Diese Frauen sind eine Ode ans Leben. Sie haben mir unglaublich viel Kraft gegeben, und in der Arbeit mit ihnen habe ich gelernt, unglaublich viele Dinge zu relativieren.

Audrey Lamy, die Darstellerin der Audrey, sagt über Petit:[o]

Louis-Julien ist einzigartig, ein Widerstandskämpfer, er schwimmt gegen den Strom… Ich kenne keinen anderen Regisseur, der so viel Komik noch in den hoffnungslosesten Situationen entdeckt. Am Set ist er wie im echten Leben: emotional, großmütig, leidenschaftlich, aufmerksam… (lacht). Er weiß, was er will, aber er ist auch sehr geduldig und anpassungsfähig. Und er ist ein Phänomen! Beim Dreh arbeitet er ununterbrochen. Wie er das schafft, versteht keiner. Er schläft zwei Stunden pro Nacht, ist aber trotzdem immer ansprechbar. Man muss ihm einfach alles geben, das absolute Maximum, es geht gar nicht anders.

Eine ganz besondere Gemeinschaft

Und unter der Leitung dieses besonderen Regisseurs, der sämtliche Hierarchien verschwinden ließ, blühte von Anfang an eine wunderbare Zusammenarbeit auf. Lamy erinnert sich:[o]

Das war großartig! Zwischen professionellen und nichtprofessionellen Schauspielerinnen gab es überhaupt keinen Unterschied. Diese Frauen, die sozusagen ihr echtes Leben nachgespielt haben, waren natürlich, kraftvoll, engagiert, geduldig und pünktlich. Wir, „die Profis“, mussten hart arbeiten, um mit ihnen mitzuhalten.

Und Noémie Lvovsky, Darstellerin der Hélène, ergänzt:[o]

Es gab im Beisammensein der Frauen eine sehr besondere Art der Leichtigkeit, eine Heiterkeit. Unsere Gespräche, Solidarität, Anfälle von Bescheidenheit, manchmal auch die vollkommene Abwesenheit jeglicher Scheu… das hat sich alles sehr besonders angefühlt. Wir haben aufeinander aufgepasst und eine starke Verbindung zwischen uns entwickelt, ohne dass Unterschiede in der sozialen, beruflichen oder finanziellen Situation eine Rolle gespielt hätten. [...] Und die Herzlichkeit der Crew, Louis-Juliens liebevoller Blick… Der Zusammenhalt in der Gruppe hat mich wirklich berührt.

Déborah Lukumuena, die schwarze Darstellerin der Angélique mit all ihren Ecken und Kanten, war von den ehemals obdachlosen Frauen besonders berührt:[o]

Vor dem Dreh war ich angespannt. Ich hatte Angst, der Film könnte sich in eine Art Laborexperiment verwandeln. Doch diese Sorge ist schnell verschwunden. Die Frauen haben mich von Anfang an mit ihrer Offenheit und ihrem Gespür für Dialoge überrascht. Ihre Tapferkeit hat mich verblüfft. Wir, die Profi-Darstellerinnen, können uns hinter einer Figur verstecken. Sie dagegen mussten sich vor der Kamera ohne Filter, ohne Schauspieltechniken zeigen, so wie sie sind. Ihr Sinn für Humor und Selbstironie war ihr einziger Schutz. Außerdem waren diese Frauen, die den Mumm hatten, ihre Vergangenheit in einen Spielfilm einfließen zu lassen, sehr einfallsreich, warmherzig und großzügig. Im Grunde haben sie uns in ihre Welt hineingelassen.

Mehr als nur ein Film

Was also macht den ,Glanz der Unsichtbaren’ aus? Die tiefe menschliche Würde dieser Frauen – sowohl der Frauen ohne Obdach als auch derer, die ihnen Tag für Tag helfen, ihr Leben irgendwie zu meistern. Und nicht nur irgendwie. Sondern nie vergessend, dass sie Teil der Gesellschaft sind. Am Ende des Films wird dies in grandioser Weise spürbar – und das ganz ohne echtes ,Happy End’. Das macht diesen Film so groß, so wunderbar.

Was der Film ausstrahlt, bringt der ,Evangelische Pressedienst’ in einer schönen kleinen Rezension auf den Punkt:[o]

So vermählt sich in dieser dramatischen Komödie zwischen Fiktion und Wirklichkeit eine amerikanisch anmutende Pragmatik mit einer Utopie [...]. Zumindest eine Zeit lang verwirklicht die verschworene Truppe in „Der Glanz der Unsichtbaren“ geradezu jene urkommunistische Solidarität, von der Marx einst träumte.

Es ist kein Wunder, dass der Film die Herzen von über einer Million Franzosen erreichte.

Am Ende muss das L’Envol tatsächlich schließen. Den Stein ins Rollen bringt Julie, die die von Audrey immer wieder angebotene Hilfe trotz tief berührender Momente letztlich nicht annehmen kann. Sie geht in das 50 km entfernte andere Zentrum. Beruhigt registriert sie, dass die Bereiche der Männer klar abgetrennt sind. In einem Nebensatz erwähnt sie, dass im L’Envol auch übernachtet wird – woraufhin die Mitarbeiterin ihre vorgesetzten Stellen informiert.

Das L’Envol muss also schließen – die andere Einrichtung arbeitet weiter, ganz offensichtlich größer, sauberer, professioneller, effektiver. Doch in den letzten Minuten des Films stellt sich der Zuschauer eine einzige Frage: wirklich? Denn eines ist sehr, sehr deutlich: Eine emotionale Heimat hatten nur die Frauen im L’Envol. Und nur sie gehen erhobenen Hauptes wieder in das Leben zurück – auf die Straße. Manche haben einen Job gefunden. Alle aber ihre Würde.

Und was bedeutet das? Es bedeutet, dass eine Gesellschaft, die auf Effektivität und bloße Strukturen setzt, sich an ihren Menschen und an ihrer eigenen Zukunft versündigt. Denn irgendwann wird sie keine Zukunft mehr haben. Wir verlieren unsere Menschlichkeit und unsere Seele, ohne es zu merken. So ist die Flut mittelmäßiger Filme, die dazu beitragen, nur ein winziger Aspekt eines riesigen Problems. Die kapitalistisch-bürokratische Gesellschaft hat die Menschlichkeit längst verraten – und tut es noch immer. Jeden Tag.

Der ,Glanz der Unsichtbaren’ kann einem wieder die Augen dafür öffnen.