12.02.2020

Die Banalität des Bösen

Gedanken über eine ewig aktuelle Frage.


Inhalt
Das Böse und seine Werkzeuge
Der ,rationale Hexenglaube’
Wo ist der Kompass?
Das Banale – und sein Hindernis
Der Bierbauch, der Bruder und Trump
Das Mädchen


Das Böse und seine Werkzeuge

Hanna Ahrendt schrieb nach den Schrecken der Nazi-Zeit ein Buch über die ,Banalität des Bösen’. Sie wollte damit unter anderem zum Ausdruck bringen, dass der gewöhnlichste Schreibtischtäter ein Werkzeug des Bösen werden kann – ein Mensch, dessen übriges Leben und ganze Person als buchstäblich ,banal’, ja ,armselig’ bezeichnet werden kann. Selbst ein Mensch, der böse Vorstellungen entwickelt, etwa von der Minderwertigkeit bestimmter Menschengruppen, kann in dem Wahn seiner eigenen Bedeutung und Mission regelrecht banal und armselig wirken.

Ahrendt hat niemals ausdrücken wollen, dass das Böse selbst banal sei – oder die durch das Böse geschehenden und möglich werdenden Taten. Aber – alles Böse hat immer menschliche Träger. Und diese Menschen können höchst banale Charaktere sein – und sind es sehr oft.

Wenn man von einer spirituellen Weltanschauung ausgehend weiß, dass das Böse sehr wohl andere Quellen hat als den Menschen selbst, so ergeben sich daraus wesentliche Aufschlüsse für diese ganze Frage.

Man kann dann zum Beispiel mit vollem Recht sagen, dass ein Mensch zum Werkzeug des Bösen werden kann. Ebenso kann ein Mensch ein Werkzeug guter himmlischer Mächte werden – etwa so etwas wie ein rettender Engel.

Natürlich geschieht dies nicht wie bei einem Medium, das im Moment seines Werkzeugwerdens keinerlei eigenen Willen mehr hat. Möglicherweise haben vor allem in früheren Zeiten die guten Mächte bestimmte Menschen in bestimmten Momenten genau das Richtige tun lassen, ohne dass es diesen überhaupt bewusst wurde. Heute jedoch leben wir in der anbrechenden Zeit der Freiheit – und die guten höheren Mächte halten sich immer mehr zurück, wenn die Voraussetzungen der menschlichen Freiheit nicht gegeben sind. Sie waren auf das freie Bewusstsein des Menschen – und wenn ein Mensch aus Freiheit bestimmte Impulse ergreift, das heißt, Ziele fasst und zu verwirklichen sucht, dann können sie mitwirken.

Die Mächte des Bösen brauchen diese ,Rücksicht’ nicht zu nehmen. Ihnen liegt nichts an der menschlichen Freiheit – sie können jederzeit wirken. Menschen können sich ganz dem Bösen verschreiben (der buchstäbliche Pakt mit dem Teufel) – oder sie können mehr oder weniger Trittbrettfahrer des Bösen werden, ohne dass sie die Erkenntnis, was sie da tun, gänzlich in sich zulassen.

So weiß man, dass die Nazi-Täter, etwa die schon erwähnten ,Schreibtischtäter’, aus Überzeugung handelten – und dennoch ,vorbildliche Familienväter’ waren. Ebenso konnten schon im Mittelalter Menschen sonntags zu Gott beten und am anderen Tag ,Hexen’ aufspüren und verbrennen, ja es konnte sogar von der Kanzel gegen die ,Hexen’ gepredigt werden – oder aber gegen die Juden.

Wie ist dies möglich? Was genau geschieht da?

Der ,rationale Hexenglaube’

Beim Hexenglauben vermischten sich alte Vorstellungen von nicht-menschlichen Dämonen, die Kinder rauben etc., mit der Tatsache, dass kräuterkundige Frauen vieles zustande brachten, was damalige Ärzte nicht konnten, und dem generellen Aberglauben, der schnell alles Mögliche für möglich hielt, unter anderem den ,bösen Blick’, sowie mit dem ebenfalls alten Glauben an Erscheinungen der Dämonen bzw. des Teufels, die als Succubus oder Incubus mit Männern oder Frauen nächtlichen Geschlechtsverkehr pflegten. Dies alles vermischte sich zu der Vorstellung von Zauberern, vor allem aber Hexen, die persönlichen Verkehr mit dem Teufel pflegten, nachts an Hexensabbaten teilnahmen und im Bund mit dem Teufel vorsätzlich Böses in die Welt brachten (Feuer, Brunnenvergiftung etc. etc.).

All diese Vorstellungen waren vor dem Hintergrund eines bestimmten Weltbildes nicht abwegig, ja sogar naheliegend. Selbst der Reformator Luther hatte ja sein besonderes, von Furcht geprägtes Verhältnis zum Teufel – und auch er predigte sogar gegen Hexen.

Das bedeutet, das Denken der damaligen Zeit war geprägt von Vorstellungen, die den jeweiligen Horizont des Weltbildes bildeten und es ganz und gar färbten, mit Aberglauben und Unwahrheiten durchdrangen. So ist es auch heute noch und immer wieder. Die Gedankenwelt ist geprägt von fertigen Vorstellungen, die man für die Wahrheit nimmt.

Aber diese sind zunächst auch nicht überprüfbar. Denn es ist sehr wohl möglich, dass Menschen und Dämonen sich nachts paaren – wenn man Dämonen für real existent hält, so ist der nächste Gedanke, dass sie ihr Unwesen treiben, denn warum sollten sie sonst existieren? Und dass dies alles so ist, daran hat zum Beispiel auch der große Thomas von Aquin nicht gezweifelt.

Daraus können dann sehr weitreichende Folgerungen gezogen werden – und dafür braucht es nicht einmal einen ,bösen Willen’. Man kann mit bestem Wissen und Gewissen glauben, das Richtige zu denken, sogar bestrebt sein, das Richtige denken zu wollen, das Gottgefällige und so weiter, und doch können einige wenige falsche Prämissen – die man nicht einmal zu überprüfen in der Lage ist, also gleichsam annehmen muss – schließlich das ganze Gedankengebäude in eine falsche Richtung führen, die sogar immer falscher wird, weil man sich von der Wahrheit immer weiter entfernt...

Wo ist der Kompass?

Das bedeutet, das Denken führt nicht zu der Wahrheit, wenn es von einem ganzen Gebäude umgeben ist, in dem bestimmte ,Wahrheiten’ gar nicht bezweifelt werden können, weil sie derart selbstverständlich sind, dass es geradezu ein Heraustreten aus der Schöpfungsordnung wäre, sie zu bezweifeln. Denn ist nicht völlig klar, dass Gott auch die Dämonen geschaffen hat? Und wenn schon in der Heiligen Schrift steht, „eine Zauberin sollst du nicht am Leben lassen“ (2. Mose 22,17) – was liegt dann näher, als die Hexenverfolgung nur als eine weitere Episode gottgewollten Wütens gegen die unheiligen Mächte anzusehen, übereinstimmend mit allem, wozu menschliches Denken kommen kann?

Gedanken allein helfen also nicht weiter – und mit dem menschlichen Denken kann man alles ,beweisen’. Das Denken hat überhaupt keinen Kompass in sich selbst. Gibt es einen solchen, so muss er woanders gesucht und gefunden werden.

Der Kompass ist der gute Wille – und erlebt und gespürt wird dieser im Herzen also an dem heiligen Mittelpunktort des Fühlens. Denn was geschieht nun? Was geschieht, wenn der gute Wille und das Herz ins Spiel kommen, wenn auch sie zu einer Realität gemacht werden?

Es entsteht eine Mauer. Ausgerechnet der gute Wille und das Herz sollten eine Mauer schaffen? Ja – eine Mauer gegen die unwahren Vorstellungen und Gedanken. Oder zumindest und erst einmal: gegen vorschnelle, nicht von den Herzenskräften und von dem guten Willen begleitete Urteile.

Das ist das Entscheidende. Erst der gute Wille und erst die Kräfte des Herzens prüfen jeden Gedanken auf seine tiefe Lauterkeit und seine Wahrheit, auf seine Rechtmäßigkeit: Darf ich überhaupt so denken? Oder denke ich mit diesem Gedanken an dem guten Willen und an dem wahren Herzen vorbei?

So zu denken – mit Kopf, Herz und gutem Willen –, heißt, mit Christus zu denken.

Nicht nach den äußerlich bekundeten Taten und Worten von Christus richten wir uns dann, sondern nach seinem Geist und seinem Wesen. Denn Christus hat dies und jenes gesprochen, dies und jenes getan. Er hat mit den Zöllnern gespeist, und er hat die Tische der Wechsler umgestoßen. Er hat die Ehebrecherin nicht verurteilt, aber er hat gesagt, ,Wer nicht Vater und Mutter hasset’, oder: ,Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert’. Wer sich nur nach den Worten oder Taten richtet, kann jederzeit irren – und aus dem einen oder anderen ein neues Dogmengebäude aufbauen, das dem Christusgeist widerspricht, obwohl es manchen dieser Worte und Taten zu folgen scheint.

Erst, wenn man ganz von innen heraus den Geist des Christus begreift, kann man in Bezug auf die Gegenwart seines Wesens nicht mehr irren. Dies aber ist nur möglich, wenn man ihn im Herzen und mit dem guten Willen aufnimmt. Dann folgt auch das Erkennen – unter anderem jenes Erkennen: Wäre dies wirklich geschehen, hätte es keine Hexenverfolgungen gegeben. Denn nicht die Hexen waren vom Teufel besessen, sondern ihre Verfolger...

Das Banale – und sein Hindernis

Was bedeutet dies für das Geheimnis des Banalen? Es bedeutet, dass Seelen nicht nur in feurigem Fanatismus versinken können, in denen der Teufel sie dann, wie auch Goethe wusste, immer schon ,am Schlafittchen gepackt’ hat, sondern dass sie auch in dumpfem Eigensinn, in Hochmut, in materieller Sinnensucht, in Selbstgefälligkeit, in ganz gewöhnlichem Überlegenheitsdenken und ähnlichen ,Sumpfblüten’ versinken und degenerieren können – und dann ganz ebenso leichten, bequemen Zugang für die Gegenmächte bieten, die sich ihrer bemächtigen.

Die ,Banalität des Bösen’ besteht darin, dass es buchstäblich ,auch jeder andere hätte sein können’, der genau selbstgefällig, dumpf und geltungswillig vor sich hinlebt, bis ein kleiner Moment ihm den Hinweis gibt, dass er Teil von etwas ganz Großem werden könne, wo er wirkliche Bedeutung erlangt, wo ihm das Gefühl gegeben wird, dass er wichtig ist, dass sein Tun einen Sinn hat, dass er weit wichtiger ist als viele andere etc. etc. Und so wird man zum Beispiel ein Schreibtischtäter unter den Nazis. Lebt auf in der Überzeugung vom Über- und Untermenschentum. Ist vorbildlicher Familienvater, vorbildliches Mitglied einer arischen Gesellschaft, vorbildliches Rädchen innerhalb der großen Ausrottungsmaschine lebensunwerten Lebens. Banal bis zum Letzten. Ein perfekter, bedeutungsloser Diener in einer Entwicklung historischer Ausmaße.

Und selbst die Obersten. Die, die sich wirklich ,die Führer’ nannten und so verstanden. Haben auch sie sich nicht morgens den Pyjama ausgezogen  und standen in ihrer ganzen jämmerlichen Gestalt vor dem Spiegel, mit einer Zahnbürste im Mund, hässlicher und armseliger als jeder Jude, den sich an diesem Tag zu vernichten planten?

Die Banalität des Bösen. Nicht das Böse ist banal. Aber die meisten seiner allzu willigen und allzu hochmütigen Werkzeuge.

Das Wirken des Bösen kennt nur ein Hindernis – und das ist das Wirken des Guten. Das Gute kennt aber nur ein Einlasstor in die menschliche Seele: das Herz. Wenn ein Mensch nicht im Herzen die Liebe zum Guten und den Willen zum Guten aufnimmt, wird er anfällig für die Gegenmächte sein.

Mit der Liebe zum Guten hätte sich das Christus-Wesen mit dem menschlichen Herzen und vom Herzen ausgehend auch mit dem Denken verbunden – und ein solcher Mensch hätte sich mit dem Willen, mit dem Herzen und mit dem Denken dagegen gewehrt, einem anderen Menschen Schlimmes anzutun: sei es einer als Hexe verschrienen Frau, sei es einem als Untermenschen verschrienen Juden. Sein Wille, sein Fühlen und sein Denken hätten ihm gesagt: Das ist ein Mensch – nichts anderes. Es ist ein Mensch wie du. Du kannst in ihm keine Hexe, keinen Untermenschen sehen – denn das ist er nicht.

Das sagt einem das Herz, und nur wenn das Herz es einem sagt, sagt es auch das Denken.

Und der Blick des Christus geht sogar noch weiter. Er sieht nicht nur in den Opfern der Verblendeten Menschen, sondern sogar in den Verblendeten selbst. Liebet eure Feinde – das bedeutet: Sehet in ihnen ebenfalls die Opfer...

Der Bierbauch, der Bruder und Trump

Und dann sieht man nicht den banalen Bierbauch, der morgens unrasiert vor dem Spiegel steht, armselig, ja lächerlich bis zum geht nicht mehr. Man sieht auch nicht den geschniegelten Schreibtischtäter mit seiner geradezu perversen Lust an gewichsten Stiefeln und Gehorsam gegenüber dem Führer, dessen diensteifriger Teil er ist, weil auch er so Anteil hat am glanzvollen Übermenschentum. Sondern dann offenbart sich der Menschenbruder, der gefallene, der verlorene Sohn, der sich schon vor dem Aufstieg des Führers an die Fallen und Fußangeln der Dämonen verlor, vielleicht ein Minderwertigkeitsgefühl hatte, Geltungswillen in sich nährte, eine Spur von Sadismus vielleicht auch, vor allem aber ein dumpfes Vor-sich-Hinleben, weil der heilige Blick aufs Ganze schon früh verlorenging, vielleicht nie da war, vielleicht hinausgeprügelt von einem überstrengen Vater oder von bösen Altersgenossen.

Es gibt tausend Gründe, warum jemand seinen heiligen Seelenkern verliert, vergräbt, unter wachsenden Grabplatten, deren williges Material die Gegenmächte jederzeit reichen. Und am Ende steht er da – der banale Täter, banal in seiner ganzen Erscheinung, gleichsam bloße Durchgangsstation für das Wirken des Bösen, das überhaupt nicht banal ist, er aber ist es – banal bis zum Letzten. Und doch ist er der verlorene Sohn. Der Menschenbruder. Mein Nächster... Und der Blick des Christus sieht die ganze Tragik. Jeder einzelnen Seele. Jedes einzelnen Herzens. Begraben unter einem Tonnengewicht. Liebe besiegt von Hass und kalten Gedanken. Das Kind, das Gotteskind Mensch, besiegt von ... Banalität.

Die Banalität der Seele – die Tatsache, dass eine Seele zur Banalität herabsinkt – ist das Einfallstor des Bösen. Ein Einfallstor. Das in unserer Zeit immer zahlreicher wird, aber auch schon in der Nazi-Zeit Ursache dafür war, dass sich das damalige Böse so rasend schnell ausbreiten konnte. Selbst die typisch deutsche ,Großmannssucht’ ist etwas zutiefst Banales.

Und auch Trump ist ... schlichtweg banal. Er ist sogar vulgär. Nur verbindet sich bei ihm das Böse, das Lügenhafte, das Sexistische, das Machtbewusste mit einer neuen Art von Bewusstheit. Und umgekehrt die Bewusstheit mit Banalität. Im Grunde macht Trump das Banale zur Methode. Mit einer geradezu zur Schau getragenen ,Wild-West-Manier’ des Großkotzigen schafft Trump ein ganz neues Niveau ... der Niveaulosigkeit. Trump macht die Banalität gerade gesellschaftsfähig. Noch nie hat es ein Präsident so sehr als Methode verfolgt ... nicht einmal den Anschein zu wahren.

Damit wird eine ganz neue Stufe erreicht. Trump lebt vor, dass es gestattet ist, unmittelbar seine Instinkte auszuleben. Und zwar die niedersten. Dass der Mensch auch ein höchstes, heiligstes Streben hat, zumindest tief verborgen in seiner Seele, wird durch die ,Dampfwalze’ Trump völlig in die Unsichtbarkeit getrampelt. Das Banale tritt also unmittelbar in Erscheinung, ohne jede Maske oder Schminke – und gibt sich als neue menschliche Norm aus. Das vulgärste Innere unmittelbar auszuleben – das wird das neue Programm. Und je lauter dies geschieht, desto mehr werden für immer die feineren, leiseren Töne der Seele übertönt werden – vom Herzen gar nicht mehr zu reden...

Das Mädchen

In meinen Büchern geht es immer wieder um das Mädchen. Warum wohl...

Weil das Mädchen, wie ich es beschreibe, in Bilder und Taten kleide, die seine Taten sind – die des Mädchens –, dasjenige offenbart, was das Beste der menschlichen Seele ist: ihre Unschuld. Ihr unschuldiger Teil. Der Teil der Seele, der unschuldig bleibt – weil er sich sonst selbst verraten müsste, dies aber niemals tun wird.

In einem Mädchen gibt es den anderen Teil gar nicht – weil die Seele des Mädchens dies schlicht nicht zulässt. Sie lässt es nicht zu, eine Frau als Hexe zu sehen, einen Juden als Untermenschen. Und warum nicht? Weil ein Mädchen auch niemals banal ist, werden könnte – es ist ihm schlicht unmöglich. Auch dafür müsste es sich selbst verraten.

Die Banalität ist das Einfallstor des Bösen. Ein Mädchen kennt dieses Einfallstor schlichtweg nicht. Darum kann in seinem Herzen nie etwas anderes leben als die reine Liebe zum Guten. Das ist das heilige Geheimnis des Mädchens.

Ich spreche nicht von heutigen Mädchen, die teilweise sehr banal sein können, so wie andere Menschen auch, sondern ich spreche von dem Mädchen – dem Wesen des Mädchens.

Das Mädchen offenbart in unendlichem Maße den Menschen. Etwas sehr, sehr Zukünftiges. So wie Novalis ist auch das Mädchen eine Vorverkünderin eines heute noch überhaupt nicht anwesenden Christentums.

Heilige Dienerin des Christus – siehe, das ist das Mädchen...