27.02.2020

Heil Hitler bei Beatles-Musik

Filmbesprechung: Jojo Rabbit. Taika Waititi (Regie), USA/D/Tschechien 2019, 108 min. | Trailer.


Inhalt
,Darf man das überhaupt?’
Hitler als Freund und Berater
Die Ästhetik der Kinder und eine Löwenmutter
Begegnung mit dem Judenmädchen
Tote Mutter, Schutt, Asche und ... Freiheit für Elsa
Hintergründe
Elsa


,Darf man das überhaupt?’

,Jojo Rabbit’ ist eine fantastische Parodie mit einzigartigem Tiefgang, ein Meisterwerk, das schon jetzt seinen bleibenden Platz in der Filmgeschichte erobert hat.

Als ich seinerzeit das Plakat wahrnahm, habe ich den Film überhaupt nicht für voll genommen. Ich dachte: Wieder einer dieser total überflüssigen Filme, die mit Klamauk den Himalaya der Sinnlosigkeiten weiter auftürmen! Als gäbe es nicht schon genug Müll auf der Welt...

Erst sehr viel später sah ich mir dann einmal den Trailer an – und wurde neugierig. Allein schon die Originalfassung: Ein alberner, englisch sprechender Hitler, der wie ein guter Papa einem Zehnjährigen beisteht, damit dieser in seinem eifrigen Ziel, ein guter ,Nazi’ zu werden, nicht den Mut verliert...

Ich sah mir den Film also an – und er übertraf alle meine inzwischen doch sehr positiven Erwartungen.

Was für eine Fülle, die hier anzuführen wäre – man weiß gar nicht, wo man anfangen soll.

Beginnen wir also mit dem Beginn – dieser besteht tatsächlich in jubelnden Menschenmengen mit erhobenen Armen, mit begeisterten Heil-Hitler-Grüßen, und dies unterlegt mit der genialen Beatles-Musik. Mit anderen Worten: Die Leichtigkeit der Flower-Power-Generation, zusammengebracht mit und fast Propaganda-Instrument geworden für die schlimmste Verführung seit Menschengedenken. Kann das gutgehen!? Wie ist es überhaupt möglich, sich einen solchen Film anzuschauen, wenn man noch vor wenigen Tagen einen Film wie ,Ein verborgenes Leben’ besprochen hat und davon erschüttert war? Von einem Film also, dessen Authentizität einen bis ins Innerste berührte... Der die wirkliche, dumpfe Brutalität des Faschismus und des Mitläufertums erlebbar machte, an dem der Einzelne zerbrechen musste?

Und natürlich – wer die Realität dessen, was damals geschah, in seiner Seele aufrichtig empfindet, der hat bei diesem Beginn zumindest ambivalente Gefühle: ,Darf man das überhaupt?’ Fragen dieser Art drängen sich auf. Aber – gerade mit diesen Fragen ist man auch wieder (oder: noch immer) in einer Falle – nämlich der des Gehorsams. Genau mit dieser absoluten Fremdbestimmung arbeitete der Faschismus ja. ,Du tust, was man dir sagt – du selbst brauchst nicht zu denken, dein Volk, dein Führer denkt für dich.’ Dasselbe gilt auch umgekehrt. Der Faschismus in den Köpfen ist nicht durch ,Umerziehung’ auszurotten – dies wäre nur das Gegenteil mit den gleichen Mitteln. Wer den Faschismus bekämpfen will, kann dies nur auf einem einzigen Weg tun: In der Befreiung der Menschen zu einem eigenen Denken, Fühlen, Wollen.

Und es ist dieses Eigenständige, was durch diese ersten Szenen im Grunde geweckt wird: Nicht um die Frage ,Darf man das überhaupt?’ geht es, sondern um die inneren Empfindungen an sich. Die leichten Bauschmerzen bei diesen ersten Szenen – kann man das, was so großes Leid bedeutet hatte, derart verharmlosen, ja fast verherrlichen? – sind selbst der innere Wächter. Man spürt selbst, wo die Grenze liegt – und braucht keine Aufsicht, die einem von außen sagt: ,Dies darf man, das darf man nicht’. Man spürt also das Grenzgängerische dieser Eingangssequenzen – und gerade dies beweist lebendig, dass das eigene Gewissen lebendig ist. Und darauf kommt es an – nicht auf tausend künstliche Empörungen und politische Korrektheiten, Belehrungen, Sensibilisierungen etc. Es geht um Authentizität – und dieser Film hat die Authentizität, das Provokante gleich zu Beginn auszureizen, das Unglaubliche zusammenzubringen: Heil-Hitler-Arme und die Musik der Beatles...

Hitler als Freund und Berater

Und es geht aufgedreht weiter (all dies hat auch Anklänge an Monthy Python) – der zehnjährige Johannes soll mit einer eifrigen Schar weiterer Jungen und Jungmädchen ausgebildet werden – im Nahkampf, im Handgranatenwerfen, Schützengräben-Ausheben und einem Dutzend anderer Fertigkeiten. Und ach ja, für die Mädchen bleiben die weiblichen Arbeiten wie Verwundete versorgen und Kinder kriegen... Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass dieser Film meisterhaft mit sämtlichen Klischees und Dogmen spielt, die unter den echten Nazis traurige Realität waren.

Der Ausbilder präsentiert sich als extrahart, der eigentlich gar keine Lust auf dieses kleine ,Kroppzeug’ hat, aber weil ihm an der Front ein Auge weggesprengt wurde, ist er leider als nicht mehr ,wehrtüchtig’ eingestuft. Die erste Härteprobe jedenfalls ist das Tötenlernen – geeigneterweise an einem unschuldigen Häschen. Und natürlich fällt der Blick des Ausbilders sogleich auf den etwas überforderten, ängstlichen Johannes, der sich fortwährend bemüht, sich der übrigen Begeisterung anzuschließen, um ein guter Nazi zu sein, was ja sein wichtigstes und einziges Vorhaben ist. Aber nun bekommt er das Häschen in den Arm gedrückt und soll ihm den Hals umdrehen. Es kämpft in ihm – und dann macht er eine blitzschnelle Bewegung ... er setzt das Häschen auf die Erde und redet ihm verzweifelt zu, wegzulaufen. Aber vergeblich – der Ausbilder übernimmt die Aufgabe selbst und schleudert das tote Opfer achtlos in die Büsche. Johannes aber hat nun seinen Schimpfnamen weg: die ganze Meute ruft ihn jetzt ,Jojo Rabbit’ – und voller Schmach läuft er stolpernd fort...

Aber nun tritt sein imaginärer Held auf den Plan: Adolf Hitler persönlich. So wie andere Kinder Freunde haben, die nur sie ,sehen’, so ist es bei Johannes der Führer selbst. Und dieser macht aus ihm mit Leichtigkeit einen Helden: Als das übrige Jungvolk das Werfen von Handgranaten üben soll, eilt Johannes erneut heran, reißt dem Ausbilder selbst die erste Granate aus den Händen und stürzt in einem Parforce-Ritt zusammen mit seinem Held Adolf, der ihn in genialer Groteske anfeuert weiter in den Wald hinein, bis er die Granate in höchster Ekstase von sich schleudert. Das einzige kleine Manko ist, dass sie schließlich an einem Baumstamm abprallt und er sie zuletzt wieder vor seinen Füßen wiederfindet – um im nächsten Moment Opfer der Explosion zu werden. Er überlebt sie natürlich, bleibt aber humpelnd und im Gesicht von Narben gezeichnet.

Sein Freund Hitler spielt diese Rückschläge herunter und schiebt zudem Johannes selbst jeweils die alleinige Verantwortung zu. So erweist sich Hitler nicht nur als groteske Witzfigur, sondern auch noch als Mensch ohne Rückgrat, der jedoch fortwährend andere zu manipulieren weiß. Johannes ist Beispiel für Millionen. Zugleich sind die beiden auch wirklich ,Freunde’, ja Verbündete. Sie beraten sich immer wieder miteinander, und auch Hitler weiß für vieles keine Lösung. So sehr er wie ein väterlicher Freund und Beistand für Johannes wirkt, so sehr sind die beiden oft ein Zweier-Team, in dem Hitler keinerlei Vorsprung hat, fast ebenso schwach ist wie das unschuldige Häschen. Diese rührenden ,Beratungen’ offenbaren Hitler als einen ,Möchtegern-Gernegroß’, der zwar groß ist, weil die Massen ihm ja zujubeln, der aber im Grunde und in Wirklichkeit eine Witzfigur ist. Genau dies transportiert der Film fortwährend in genialer Weise.

Man kann hier die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und der Meinung sein: Ein so grauenvoller Mann, der mit seinem todernsten Fanatismus Millionen Morde verursacht und auf dem Gewissen hat, darf niemals so dargestellt werden, hier wird das Böse schlechthin verharmlost. Doch Tatsache ist selbst angesichts all dieses Unvorstellbaren, dass Hitler unter eklatanten Minderwertigkeitskomplexen litt – nur deshalb konnte er jenes Monstrum werden, das er geschichtlich geworden ist. Nur deshalb konnte ihn das Schicksal an den Ort spülen, wo er am Ende stand – dorthin gehoben von den Gegenmächten selbst, nichtsdestotrotz eine Witzfigur, ergriffen von welcher Dämonie auch immer! Charlie Chaplin hat in ,Der große Diktator’ diese Ebene der Wahrheit auf seine Weise sichtbar gemacht.

Die Ästhetik der Kinder und eine Löwenmutter

Was den Film weiter auszeichnet, einzigartig macht, ist die Ästhetik und Optik. Immer wieder fühlt man sich an die besten tschechischen Kinderfilme erinnert – ein Wunder ist dies übrigens nicht, denn der Film ist eine auch tschechische Koproduktion und wurde in Tschechien gedreht. Erinnert fühlt man sich auch an einen Film wie ,Moonrise Kingdom’ mit seiner einzigartigen Ästhetik. Dies alles bricht die Schrecken der Nazi-Zeit um in ein scheinbares Kinder-Idyll, was natürlich genau jene Übersteigerung bzw. Absurdität ist, die diesen Film so besonders macht, sozusagen die letzte Provokation überhaupt: die Zeit des Faschismus in warmen Farben, angenehmen Szenen, idealisierten Optiken zu zeigen – aber gleichzeitig ist es die innere Realität des Kindes. Es ist die Welt von Johannes, einer noch reinen und sehr naiven Seele.

Eine Absurdität der eigenen Art ist es im Weiteren, dass der Film von einem Neuseeländer gedreht wurde! Und dass dieser Neuseeländer – zugleich Schauspieler – sogar die Rolle des Hitler selbst spielt! In der übrigen Welt bis dahin völlig unbekannt, ist Taika Waititi jüngst zunächst nur mit einem eher fragwürdigen Blockbuster-Marvel-Film wie ,Thor 3: Tag der Entscheidung’ (2017) an die Öffentlichkeit getreten. Und nun dieser Paukenschlag! Aber wahrscheinlich war etwas anderes gar nicht möglich. Wahrscheinlich musste erst jemand aus Neuseeland kommen, um über die Nazi-Zeit eine scheinbare Komödie, Parodie, ja Groteske zu drehen, die ein mehr westlicher Vertreter der Zunft nie hätte verwirklichen können, weder in der einen noch in der anderen Richtung. Weder in dieser Leichtigkeit der Groteske, die zugleich so unglaublich treffend ist, geradezu genial, noch in jener Herzensebene, von der noch zu sprechen sein wird, noch erst recht nicht in diesem Zusammenwirken beider Elemente. Was den Film so einzigartig macht, ist nämlich diese Tatsache der vielen Ebenen, die der Film hat.

Kommen wir zur Frauengestalt des Filmes – der ersten weiblichen Person, wenn man von der übergewichtigen Helferin des Ausbilders absieht, die sonst die typisch deutsche Matrone ist, blond, (sicherlich) blauäugig und vielfache Mutter, sonst aber von solcher Härte und faschistischer Überzeugtheit, dass sie sogar dem Ausbilder damit die Butter vom Brot nimmt; und von ein, zwei halbwüchsigen blondgezopften Mädchen, die dem mit dem Häschen beschämten Jojo spöttisch hinterherlächeln. Die erste Frauengestalt ist Jojos Mutter, großartig gespielt von Scarlett Johannson. Johannson ist nicht nur noch immer attraktiv mit ihren sinnlichen, selbstbewussten Lippen, die sie so bekannt gemacht haben, sondern sie ist vor allem eines: eine starke Frau, eine Löwenmutter, die bedingungslos auf der Seite ihres Kindes steht.

Diese grandios dargestellte Rolle führt in Verbindung mit Johannes’ eigenen Idealen natürlich dazu, dass man zuerst denkt, sie versucht ihren Sohn nur angesichts seiner Rückschläge zu stärken, hat aber im Übrigen keinerlei eigene Meinung bzw. ist möglicherweise auch nur eine dieser vorbildlichen ,deutschen’ Mütter. Doch sehr schnell ergeben sich hieran begründete Zweifel – insbesondere auch für Johannes selbst. Verschweigt sie ihm doch, dass sie zu Hause hinter einer verborgenen Tapetentür jemanden versteckt. Man nimmt es dem Film sofort ab, dass dies das erste Geheimnis ist, das seine Mutter vor ihm überhaupt hat, der erste Bruch einer bis dahin völlig heilen Kindheit...

Begegnung mit dem Judenmädchen

Johannes entdeckt diese Tür – und entdeckt in dem düsteren kleinen Raum dahinter ... ein auf den ersten Blick halb verwahrlostes Wesen, ein Mädchen. Voller Grauen stürzt und rettet Johannes sich wieder hinaus, und in diesen Momenten spielt der Film mit einer wunderbaren Leichte mit den Klischees des Horrorfilm-Genres. Das Mädchen kommt heraus. Und was sich nun ereignet, gibt dem Film eine Tiefe, die manch einer möglicherweise erst hinterher voll begreift. Denn dieses Mädchen ist keineswegs nur das geborene Opfer. Im Gegenteil. Und wieder muss man sagen: dieses Mädchen, die fünfzehnjährige Jüdin Elsa, ist die heimliche, ja fast schon offensichtliche Hauptrolle des Filmes, die Rolle jedenfalls, die den ganzen Film trägt, um die herum er eigentlich komponiert wurde. Und sie wird grandios und berührend gespielt von Thomasin McKenzie, die schon in dem früher von mir besprochenen ,Leave No Trace’ eine ebenso berührende Hauptrolle hatte. Obwohl sie inzwischen neunzehn Jahre alt ist, spielt sie so natürlich und so unschuldig, dass man ihr die fünfzehn Jahre sofort abnimmt. Wirklich genauso alt ist sie, kein Jahr älter...

Und großartig spielt sie, wie dieses Mädchen Elsa von der Opferrolle aus der Not heraus zum Angriff übergeht. Sie nutzt die Gunst der Stunde, Jojos Angst, entwendet ihm das Fahrtenmesser (der Stolz jedes Hitlerjungen) und hält es ihm an den Hals: Er hat zu schweigen, dass er sie gesehen hat. Zwischen den beiden entfaltet sich im Folgenden ein psychischer Kampf, in dem das Mädchen stets die Oberhand behält, obwohl die Patt-Situation, dass in Johannes eigenem Haus ein Judenmädchen versteckt ist, natürlich beide einander auf Gedeih und Verderb ausliefert.

Johannes verpflichtet Elsa, ihm mehr über die Juden zu erzählen – denn er weiß eigentlich nichts, absolut nichts über diese. Und Elsa erzählt ihm, was er hören will – Schauergeschichten. Dass Juden nachts wie Fledermäuse unter der Decke schlafen und anderes. Und wieder ist dies alles ganz großes Kino, zutiefst berührend gespielt. Denn es zeigt die Wahrheit. Die hohe, edle, innere Überlegenheit des versteckten Judenmädchens, das nie seinen inneren Stolz verliert – und das mit einem stets zu ahnenden inneren Schmerz all die Vorurteile ,bedient’, die dieser kleine Möchtegern-Nazi-Steppke zu sammeln und aufzuschreiben bestrebt ist. Ihre verletzliche Hoffnung ist, dass auch dieser verblendete, zugleich aber auch naive Junge (auch das sieht sie natürlich sofort) eines Tages begreifen wird, was er sich selbst antut, indem er diese ganzen ,Märchen’ – die ja nicht von ihr, sondern von den Nazis selbst kommen – glaubt, um mit ihrer Hilfe ,die Juden’ weiter zu entmenschlichen.

Und die Rechnung ihres Herzens geht auf. In Jojos einfachem Gemüt tut sich nach und nach etwas – sogar trotz der fortwährenden Beratungsgespräche mit seinem großen Freund Hitler, der natürlich ratlos und erbost ist, dass sich in Jojos Wohnung eines von diesen Judenmädchen befindet. Alle Taktiken, sich ihrer zu entledigen oder sich ihrer zu erwehren, schlagen fehl. Vor allem aber: Der kleine Zehnjährige beginnt, sich in dieses Mädchen zu verlieben – etwas, was er natürlich sehr lange von sich weist, sich nicht einmal vor sich selbst eingestehen würde. Zunächst einmal ist Elsa die perfekte große Schwester – oder wäre es, wenn sie keine Jüdin wäre. Auch erinnert sie an Jojos eigene, an einer Grippe verstorbenen Schwester Inge, was zumindest seine Mutter offenbar sehr berührt hat. Aber irgendwann ist es Jojo gar nicht recht, dass sie ihm gegenüber natürlich nur allenfalls geschwisterliche Gefühle hegt. Und so fingiert er Briefe ihres Verlobten, der offenbar in Italien kämpft – angeblich habe dieser mit ihr Schluss gemacht.

Als er Elsas Bestürzung wahrnimmt, beeilt er sich, im nächsten Brief bereits zu behaupten, dass das alles gelogen war etc. Die rührenden Versuche, Elsas Zuneigung zu gewinnen, lassen den Zuschauer sehr berührend merken, wie sehr Jojo längst auf einem umfassenden Weg der Wandlung ist – auch wenn er noch immer sein Buch über die Juden zusammenstellt und -malt.

Tote Mutter, Schutt, Asche und ... Freiheit für Elsa

Längst ist auch deutlich – auch für Jojo –, dass seine Mutter in Wirklichkeit eine Widerstandskämpferin ist. Er sieht sie kleine Zettelchen auslegen, die auch die Bevölkerung zum Widerstand aufrufen. Auch ihn will sie in vorsichtigen Gesprächen überzeugen – aber Jojo ist noch immer halb in seinen kindlichen Verstocktheiten befangen. Noch immer glaubt er auch, dass er sich nie verlieben würde – und glaubt nicht, dass der Krieg im Begriff ist, verloren zu werden, was seine Mutter gerade sehnlich erwartet und kommen sieht. Und dann kommt die erschütternde Szene, wo auch seine Mutter mit anderen ,Verrätern’ auf dem Marktplatz hängt – und er sie so findet, tot, sich schluchzend an ihre Füße klammernd, verzweifelt ihren einen offenen Schuh wieder zubinden wollend, dies noch immer nicht könnend...

Und all dies vereint der Film – Groteske und vollen Ernst, fortwährend, gerade dies ist seine Tiefe, von der man sich fragt, welcher Regisseur dazu überhaupt in der Lage gewesen wäre. Und dann kommt auch schon der Endkampf, die Bombardierung deutscher Städte. Jojos Heimat versinkt im Chaos. Sein dicker, bebrillter Freund rückt mit einem Raketenwerfer an, der natürlich durch eine Ungeschicklichkeit eines der eigenen Häuser in Schutt und Asche legt. Doch dies ist nur scheinbar Klamauk, in Wirklichkeit ist es eigentlich schwarzer Humor, in Wirklichkeit offenbart es den Wahnsinn, der in diesen Momenten hinter allem liegt. Denn nun sterben wirklich überall einfache Menschen, was auch Jojo erkennt, die ganze Tragik dessen, dem er so lange abstrakt hinterhergestrebt hat.

Noch ein berührender Höhepunkt sind die Szenen, wo Jojo seinen ehemaligen Ausbilder wiedertrifft, der ihm und Elsa schon einmal geholfen hat, als schleimig-gefährliche Gestapo-Leute die ganze Wohnung durchsuchen und Elsa sich geistesgegenwärtig als noch lebende Schwester Inge ausgibt, aber einen kleinen Fehler in ihrem Geburtsdatum macht. Nun aber trifft Jojo ihn wieder, als die siegreichen Alliierten die Besiegten zusammentreiben. Der Ausbilder, der sich übrigens längst als homosexuell, ja tuntenhaft tingiert erweist – eine Anspielung auf die realen Tendenzen des verherrlichend Männerbündlerischen der Nazis –, zieht Jojo die deutsche Jacke aus und beschimpft ihn als einen Juden, stößt ihn weg und bespuckt ihn sogar, um sein Leben zu retten. Während Jojo wegläuft, hört er entsetzt, wie sein Retter erschossen wird...

Und dann ist der Krieg zu Ende. Auch Jojo löst sich nun entschieden und endgültig, endlich zu sich selbst findend, von seinem ehemaligen ,Freund’, der ihn trotz Selbstmord-Wunde am Kopf noch immer aufgesucht hatte. Nur Elsa, die noch immer im Versteck sitzt, weiß nicht, wer gewonnen hat – und Jojo, der sie nicht auch noch sang- und klanglos verlieren will, behauptet in seiner letzten Verzweiflung, die Deutschen hätten gewonnen. Er aber werde, von ihrem Verlobten darum gebeten, sie unter großen Gefahren zu diesem nach Paris führen. Gekleidet wie eine auf Reisen gehende Verlobte, wie ein nun wirklich heranwachsendes junges Mädchen, wagt sie den Schritt nach draußen – nach Jahren der Angst. Und nur ganz allmählich begreift sie, dass sie frei ist. Frei... Und zuerst erhält Jojo eine Backpfeife, die er in Kauf nimmt. Dann beginnt Elsa zögernd zu tanzen – etwas, was sie als erstes tun wollte, wenn dieser Moment einmal käme. Und Jojo, der erfährt, dass ihr Verlobter in Wirklichkeit schon vor einem Jahr an Typhus gestorben ist, darf hoffen, dass Elsa ihm auf irgendeine Weise, und sei es nur als große Schwester, erhalten bleibt...

Hintergründe

Was macht den Film nun so groß? Noch einmal: alles. Die Leichtigkeit, das Groteske (und wiederum: allein schon der unnachahmliche trockene Humor der englischen Sprache, die zum Beispiel wichtigste Dinge mal eben als ,stuff’ bagatellisieren kann), das inmitten der Groteske Bitterernste, die Wärme, die kindliche Perspektive, das seelisch Berührende. Alle Hauptdarsteller spielen grandios. Vor allem aber wird der Film von den beiden starken Frauengestalten getragen: von Scarlett Johannson und Thomasin McKenzie. Es ist vielleicht kein Zufall, dass Neuseeland der erste Staat war, in dem Frauen das Wahlrecht errangen und bekamen – eine ganze Generation, bevor nach dem Ersten Weltkrieg dann auch Deutschland, die USA und viele andere ,Demokratien’ endlich diesen Schritt taten. Auch mag man an einen Film wie ,Whale Rider’ denken – über eine Häuptlingstochter, die die ganze bisherige Tradition der Maori über den Haufen wirft, oder an den Disney-Erfolg ,Vaiana’ (2016), dessen ursprüngliches Drehbuch Waititi schrieb. Auch er selbst ist väterlicherseits Maori – seine Mutter hat russisch-jüdische Wurzeln...

Der Film basiert auf dem eher trostlosen Roman ,Caging Skies’ (2004) einer neuseeländisch-belgischen Schriftstellerin, in dem die Hauptperson Johannes, die dort deutlich älter ist, das Judenmädchen Elsa noch Jahre nach der deutschen Niederlage in dem Glauben lässt, die Deutschen hätten gewonnen, um das wie besessen geliebte Mädchen nicht zu verlieren. Im Übrigen erhielt ,Jojo Rabbit’ (bei insgesamt sechs Nominierungen) den Oskar für das Beste adaptierte Drehbuch – das natürlich Regisseur Waititi selbst geschrieben hat.

Waititi sagt in einem Interview: ,Maori und Juden sind Überlebenskämpfer, beide versuchen, den Härten des Lebens mit Humor zu trotzen. Und der ist sehr schwarz. Auf Maori-Beerdigungen wird viel gesungen und gescherzt. Selbst im Angesicht des Todes feiern wir das Leben. Ich glaube, von dieser Sicht auf die Dinge ist der Film stark geprägt.’[1] In einem anderen erklärt er den Beginn mit den Beatles: Die Begeisterung der Deutschen für Hitler war etwas sehr ähnliches, bis hin zu ohnmächtig werdenden Frauen: ,He was basically the Beatles of Germany in the 1930s.’[2]

Und er zieht die Parallele zur Gegenwart, zu Trump: ,Cut to 2016, when a guy was appealing to a lot of people in the US who felt like they didn’t have a voice and were left out [...] it’s a very similar situation. People will follow anyone if they’re inspiring.’[2] Aber auch den erneuten Aufstieg direkt rechtsradikaler Fanatismen sieht er sehr ernst: ,Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es eine klare Regel: Bist du ein Nazi, kommst du ins Gefängnis. Heutzutage darf man rechtsradikales Gedankengut laut auf öffentlichen Plätzen verbreiten und Parteien gründen. – Und das nennt man dann "freie Meinungsäußerung"’[3]

Über seinen Hitler sagt Waititi – und auch das merkt man der Rolle im Rückblick großartig an:[4]

Dazu gehörte auch, sich für seine Rolle des imaginären Freundes eben bewusst nicht vorzubereiten: „Warum sollte ich ihm diese Genugtuung geben, eine ernsthafte Auseinandersetzung mit ihm zu führen?“, fragt sich Waititi. „Außerdem spiele ich ja gar nicht Hitler. Ich spiele Jojo als Erwachsenen – in einer Zukunftsvision wie er eventuell sein könnte.“ Er finde, sagt Waititi, dass man dem Film ansehe, dass er sich keine Mühe gegeben habe. [...] Er spiele „eigentlich nur eine alberne Version meiner selbst, die zufällig diese typische Frisur und das Bärtchen hat und Uniform trägt. Aber diese Version von Hitler kann nur wissen, was ein Zehnjähriger weiß, weil er der Phantasie eines Zehnjährigen entspringt.“

Das wunderbare Zusammenspiel mit Jojo bzw. dessen Darsteller, dieses Kumpelhafte, basiert auch darauf, dass verschiedene Szenen schlicht improvisiert sind – wie jene, wo Jojo den Namen falsch (,Hitteler’) ausspricht und Hitler ihn dann damit aufzieht.[3]

In Hollywood gilt Waititi als ,der durchgeknallte Neuseeländer’, er aber sieht in der Komödie keineswegs nur Unterhaltungsfunktion, sondern – nach wie vor hochaktuell – subversives Potenzial:[4]

„Wenn wir eines vom Kriegsende gelernt haben, dann das Nazis am Ende ins Gefängnis kamen. Aber heute darf man als Nazi wieder fast alles.“ Es brauche neue Wege, neue Blickwinkel der Auseinandersetzung, so Waititi. [...] „Diktatoren können mit Humor nicht umgehen. Sie hassen es. Trump ist da ein gutes Beispiel. Er erträgt es nicht, wenn man sich über ihn lustig macht. [...] Die Komödie ist also noch immer ein starkes Werkzeug.“

Mit dem Sonderthema ,Humor und Hitler-Thematik’ befassen sich mehrere Rezensionen sehr differenziert.[5][6]

Elsa

Grandios, wie Thomasin McKenzie alias Elsa ihr Jüdischsein verteidigt – und nicht nur große jüdische Geister aufzählt, sondern erwähnt, dass die Juden sogar mit Engeln (Jakob) und Riesen gekämpft haben. ,Wir wurden von Gott auserwählt und nicht von einem komischen kleinen Mann, der sich nicht mal einen richtigen Schnurrbart wachsen lassen kann.’ – ,Taika Waititi lässt sie die klügsten Sätze sagen, die je im Kino über Juden gesagt wurden.’[7]

Wenn eine Kritik behauptet ,Darum überzeugen auch weniger Waititis Situationskomik oder die Dialoge als vielmehr seine beiden Hauptdarstellerinnen’, dann wird gerade nicht gesehen, dass dies beides untrennbar zusammengehört. Dass der Film weder purer Klamauk noch bitterernstes Nazi-Drama sein will. Er will mit überzeichneter Komik und stillen Momenten, in denen einen das Lachen im Halse stecken bleibt, ein Bewusstsein für die Gefahren des Fanatismus wachhalten – und schafft dies gerade durch die beiden großartigen Hauptdarstellerinnen, aber nur im Kontrast zu den übrigen, ebenfalls sehr starken Darstellern.

Thomasin McKenzie, auch Neuseeländerin, hat sich auf ihre Rolle intensiv vorbereitet und sich sehr mit der Nazi-Zeit beschäftigt.[9] In einer ersten großen Rolle spielte sie in dem auf Tatsachen basierenden TV-Drama ,Consent: The Louise Nicholas Story’ als Dreizehnjährige eine vergewaltigte Teenagerin – in einer so heftigen Story, dass sie selbst weder das gesamte Skript lesen noch den fertigen Film sehen durfte.[9] Auch in ,Leave No Trace’ scheint sie Opfer eines kriegstraumatisierten Vaters zu sein, der sich in die Wildnis zurückzieht – aber auch dort hat sie ihre eigene Stärke, liebt ihren Vater innig ... und muss sich schließlich doch von ihm trennen, als sie spürt, dass ihr Weg ein anderer ist. In ,Jojo Rabbit’ durchstrahlt ihre Präsenz erneut den ganzen Film, und das haben auch andere Rezensenten bemerkt.[9] Aber das gilt auch für McKenzie in ureigener Person – selten war eine junge Schauspielerin so natürlich, so still-anwesend und zugleich auf zarte Weise selbstbewusst. In einer Besprechung heißt es:[9]

In person, McKenzie is capable of the same quiet power she exudes on screen. During a recent post-Academy screening Q&A at New York City’s newly reopened MOMA, a rambunctious Waititi gleefully answered questions about his film as his game cast played along with their outsized director. It was only when McKenzie was asked about her preparation for her role that the zany filmmaker calmed down and ceded the floor to the soft-voiced actress, as she elucidated on the more horrific aspects of what she learned — from visiting concentration camps to historical tours of Prague too disturbing for her younger sister to join. A hush fell over the panel, and the room shifted to meet McKenzie’s thoughtfulness and care, just as “Jojo Rabbit” blossoms when Elsa is on screen.

Über die Rolle der Elsa sagt McKenzie selbst, dass Waititi sie darauf aufmerksam gemacht habe, dass Elsa auch ein Leben vor dem Holocaust hatte, was sie ganz andere Seiten sehen ließ:[10]

I was working on the idea of wanting to highlight her confidence and her strength, and her intelligence and stuff—making those kinds of characteristics more on the surface, I guess—because there’s so much going on inside her head, obviously, so much fear. But we wanted her to really have a lot of power, as much power as she could have in that situation.

Elsa und Jojos Mutter Rosie – sie machen diesen Film so sehenswert, so wertvoll...

Quellen

[1] "Ich will, dass die Zuschauer irgendwann rufen: 'Verpiss dich!'" Spiegel.de, 25.1.2020.
[2] Taika Waititi: 'You don't want to be directing kids with a swastika on your arm'. The Guardian, 26.12.2019.
[3] "Jojo Rabbit"-Regisseur Taika Waititi im Interview: "Man macht keine Filme, um Oscars zu gewinnen". Netzwelt, 24.1.2020.
[4] Anna Wollner: Der Anti-Hitler. Deutschlandfunk Kultur, 22.1.2020.
[5] Marietta Steinhart: "Heil me, man!". ZEIT.de, 21.1.2020.
[6] Barbara Schweizerhof: Mit Adolf am Küchentisch. taz.de, 22.1.2020.
[7] Hannes Stein: Mein Freund Hitler. Welt.de, 22.1.2020.
[8] Hitler-Komödie "Jojo Rabbit": Können Judenwitze Toleranz stiften? Tagesspiegel, 22.1.2020.
[9] Thomasin McKenzie’s Delicate ‘Jojo Rabbit’ Performance Is the Key to Making Its Wild Satire Matter. Indiewire, 7.11.2019.
[10] Matt Grobar: What ‘Jojo Rabbit’ Star Thomasin McKenzie Learned From Working With Unconventional Auteur Taika Waititi. Deadline.com, 6.12.2019.