15.12.2020

Was Jesus gewollt hätte

Eine Befreiung aus dem Sumpf des Unwahren.


Ich schreibe Bücher, die nur von wenigen gelesen werden – und so erscheinen von mir zur Zeit wenige Artikel, die bisher von ich weiß nicht wie vielen oder wenigen Menschen gelesen und vielleicht auch geschätzt wurden. Wenn man seine Webseite bewusst freihält von Kommentarfunktionen, die einerseits kurzlebige Ermutigung, andererseits auch Kommentare aller übrigen Sorte ermöglichen würden, bleibt auch die persönlichere Rückmeldung oft aus. Aber ist es letztlich nicht unwesentlich, wie viele Menschen etwas lesen, wenn das, worum es geht, einen einzigen Menschen erreichen und ihm etwas bedeuten würde? Einen Erkenntnisgewinn? Etwas Stärkendes, etwas Tragendes, etwas Substanzielles in unserer immer substanzloser werdenden Zeit?

Ich schreibe zur Zeit also wenig auf dieser Webseite – und alle die, die öfter einmal hier nachlesen, ob etwas Neues erschienen sei, und mit einer gewissen Trauer feststellen, dass dem nicht so war, bitte ich um Entschuldigung. Es gibt Dinge, die nur in Büchern gesagt werden können, weil sie mehr, noch viel mehr Tiefgang brauchen, als es in einem bloßen Artikel möglich ist – auch wenn meine Artikel bereits meist so lang sind, dass sie jeder ,Public-Relation-Berater’ längst als ,Ding der Unmöglichkeit’ entsorgt und mir eine grundlegende Änderung meines Schreibstils empfohlen hätte. Wir stoßen also überall auf die galoppierende Substanzlosigkeit. In den Empfehlungen zum Google-Ranking, in der Datenschwemme, in den Lesegewohnheiten, die wir uns unbemerkt aneignen – und die sich uns aneignen... Sind wir eigentlich noch Herr in unserer eigenen Seele...?

Auch wenn ich im Moment wenig Zeit habe, Artikel zu schreiben, bringen mich manche Ereignisse dennoch dazu. Es gibt Dinge, die nicht einfach so stehenbleiben dürfen. Man fühlt sich aufgerufen, etwas zu erwidern, weil einem soeben die absolute Unwahrheit, Unmenschlichkeit oder etwas Vergleichbares ins Gesicht schlug – brutal, arrogant, wie selbstverständlich. Und obwohl einem für etwas anderes dann die Zeit fehlt, setzt man sich hin und beginnt zu schreiben…

                                                                                                                     *

Ich werde einen größeren Bogen machen, wie so oft. Möge sich dieser am Ende als wesentlich erweisen und im Leser eine wirkliche Substanz und Frucht gebildet haben, ebenso, wie es beim Schreiben selbst geschieht. Unsere Wirklichkeit – die wahre Wirklichkeit – ist nicht oberflächlich und ,dünnflüssig’ und bedeutungslos – aber man muss sich Mühe geben und eine Art liebevollen Aufwand betreiben, um mit dieser wahren Wirklichkeit verbunden zu bleiben. Alle spirituellen und religiösen Strömungen der Menschheitsgeschichte kennen das Geheimnis und die Notwendigkeit der Hingabe, des Meditativen und Kontemplativen. Ohne dieses Geheimnis wird die Wirklichkeit schleichend verloren, und es entsteht eine Scheinwelt – eine Welt des bloßen Scheins. Es ist auch möglich, dass die gesamte Wirklichkeit nur noch Schein wird, weil alles immer beliebiger, hastiger, lärmender wird. Wahrlich – dieser Aufsatz ist notwendig, und gerade jetzt leben wir in der Zeit des Advent, der Ankunft, des Kommenden, in einer Zeit also, die eine der aufrichtigen Besinnung sein sollte. Tauchen wir also mit Hingabe und fast heiliger Ruhe in die Gedanken ein, wie sie sich im Weiteren entfalten werden…

                                                                                                                     *

Vor bald sieben Jahren, kurz vor Johanni 2014, schrieb Malte Lehming auf den Seiten des ,Tagesspiegel’ einen Artikel unter dem Titel ,Wer schreit, bleibt länger’. Schon der Untertitel wies auf das Phänomen des digitalen Zeitalters hin:[1]

Wir erleben eine Evolution in revolutionärer Zeit. Stetig wächst nicht nur die Produktion von Wörtern, Sätzen, Geistesblitzen und Dummheiten, sondern auch deren Umlaufgeschwindigkeit. In die klassischen Formen des Schreibens mischen sich Zeichen, Smileys, Tweets, News, Videos. Und alles landet in einem riesigen Wörterbrei.

Und der Artikel selbst beginnt dann wie folgt:[1]

Ich spucke in einen riesigen Wörterbrei. Millionen andere tun es auch. Der Brei wird von unsichtbarer Hand langsam umgerührt. Die Wörter berühren sich, reiben sich aneinander, sinken nach unten. Von oben kommen immer neue Wörter nach, der Brei wird größer und größer. Manchmal werden Wörter von ganz unten wieder an die Oberfläche gerührt. Von denen sagt man dann, sie seien Klassiker.

Allein schon dieser Beginn zeigt seinen ihm innewohnenden Nihilismus. Wer seine Gedanken mit ,ich spucke’ assoziiert, der hat bereits offenbart, welche Substanz in ihnen liegt – nämlich keine. Voller Genuss am Sinnlosen wird das Bild eines riesigen ,Breies’ aufgerufen und dann die fast noch sinnlosere Erweiterung geschaffen, dass ein unsichtbarer ,Master of the Universe’ diesen an sich schon sinnlosen Brei fortwährend langsam umrührt – ,alles eine Soße’... Nur bisweilen taucht manches erkennbar wieder auf, ,wieder nach oben gerührt’ – und das seien dann ,Klassiker’, also etwas von mehr Bedeutung als der Rest, aber eben selbst das nur zufällig, denn wer hat es nach oben gerührt? Es ist eigentlich auch unwichtig – Hauptsache, man hat in diesem Einheitsbrei irgendwo einen festen Haltepunkt...

Also – schon der Beginn dieses Artikels ist abartig, widerlich. Wenn man ein heiliges Menschenbild in sich trägt, ist schon dieser Beginn einfach widerlich. Denn er offenbart die absolute Substanzlosigkeit, einen Nihilismus, der gerade deshalb so widerlich ist, weil er zugleich so selbstgefällig daherkommt: als besäße er eine Wahrheit. Er besitzt sie nicht, er schafft sie, indem der dahinterstehende Mensch sich selbst mit Nihilismus durchdringt – und zu Brei macht.

                                                                                                                     *

Und so geht es dann weiter: ,Die unsichtbare Hand, die den Brei verrührt, hat statt eines Kochlöffels längst den Mixer angestellt.’ [1]. Es geht dann um das unsägliche Twitter-Gewitter und Geschnatter (,Mit dabei der Papst, Obama, Lady Gaga’). Und weiter:[1]

Wer auf tagesspiegel.de/meinung klickt, kann in der rechten Spalte die Tweets von Lesern und Redakteuren verfolgen, die manchmal im Minutentakt einlaufen. Viele Zeitungen machen das. Online erlaubt Interaktivität. Diese Tweets erzeugen „ein Hintergrundrauschen“, wie es in der Fachsprache heißt. Wer das Hintergrundrauschen abstellt, könnte etwas Wichtiges oder Lustiges oder Interessantes verpassen – so jedenfalls hoffen die Geräuscheerzeuger. Das Hintergrundrauschen soll ein wenig süchtig machen, den Leser „bei der Stange“ halten. Rausch, Rauschen, Geräusch – kein Zufall, dass diese drei Worte denselben Wortstamm haben. [...] Immer beliebter werden auch Liveticker. Sie erzeugen die Illusion, unmittelbar dabei sein zu können, wenn etwas passiert. […] Vielleicht ist es ja doch möglich, in der wohltemperierten und sicheren Stube oder während der Arbeit, vor dem Computer sitzend, eine Art Erdbebenopfer zu sein [...].

Auch hier zeigt sich die ganze Dekadenz unseres Zeitalters – von der sich der Autor keineswegs distanziert. Er feiert dieses geräuschhafte Rauschen, diesen Informations-Rausch geradezu, suhlt sich jedenfalls fast in der Tatsache, dass auch er ein ,Kind seiner Zeit’ ist und dieser ,modernen’ Zeit angehört. Er bejaht dieses ,Bei-der-Stange-Halten’, diese minütlich oder sekündlich einlaufenden Tweets, dieses nicht mehr ansatzweise zu verarbeitende Rauschen, das ,Wichtigkeit’ beansprucht und doch so unendlich viel unwichtiger ist als das Rauschen des Meeres, das den Menschen immerhin wieder in Berührung mit einer tiefen, unsagbar tiefen Wirklichkeit bringen würde, wenn er ihm gegenüberstünde und sich auch nur ein wenig hingeben könnte.

Sogar Lehming offenbart dies fast ungewollt und indirekt, wenn er schreibt:[1]

Damit richtig umzugehen ist nicht immer leicht. Die Frau eines Afghanistan-Soldaten erzählt, dass sie mit ihrem Mann gar nicht mehr skypt, weil die Welten, in denen sie leben, zu verschieden sind, um in kurzer Zeit echte Kommunikation zu ermöglichen. Während er von Ferne die Schüsse der Taliban hört, kocht ihre Milch gerade über, und die Kinder streiten sich. Das funktioniert nicht. Am besten seien Briefe, sagt sie.

Doch der Stil, in dem er dieses Phänomen in wenigen Zeilen erfasst und dann einfach weitergeht, anekdotisch, auch wiederum in einem Einheitsbrei, ist symptomatisch. Hier hätte er das ganze Drama einmal an einem Zipfel erfasst – aber es interessiert ihn nicht weiter. Er berichtet es nur als anekdotisches Aperçu, als ,kleines Schmankerl’ – und weiter geht die Reise, der Mixer, die unsichtbare Hand der Beliebigkeit…

Echte Kommunikation. Darum ging es! Sie ist eben, und das spüren diese beiden Menschen, in einem digitalen Zeitalter gar nicht mehr möglich. Nicht nur die Welten sind zu verschieden – nein. Digitale Kommunikation schafft nur die Illusion einer ,Verbindung’, das ist der entscheidende Punkt! Eine Mutter, die in liebenden Worten bangend nach dem Wohl ihres Sohnes fragt, braucht in einem Brief nur einen einzigen Satz zu schreiben, der ihre ganze, unendliche Seele enthält – aber in einer ,Skype-Liveschaltung’ ist dies eben gar nicht möglich. Der Mensch selbst wird gleichsam ,entkernt’ und ,entseelt’, weil diese digitale Kommunikation eine bloße Scheinwelt erschafft – und den Terror, jetzt, hier, sofort, unmittelbar und möglichst noch ,mediogen’ agieren und reagieren zu müssen.  Auf diese Weise, könnte man sagen, ist das Digitale der größte Terrorist auf Erden überhaupt.

Und die Menschen merken es nicht! Sie nehmen es so hin und passen sich an … und werden selbst auch oberflächlich, kommunizieren mit nicht mehr Zweizeilern, sondern Zwei-Wortern, mit Emoticons, Likes und das war es. Nur wenige Menschen merken die unsägliche Tragik … und kehren zurück zu Briefen, wie jene Frau, deren Mann sich in einer unsäglichen, sinnlosen Militärmission in einem unsäglich fernen Land befindet. Sinnlosigkeit lässt sich nicht durch eine ,Live-Direktschaltung’ aufheben – sie infiltriert dann nur noch alles Übrige…

                                                                                                                     *

Lehming weiter:[1]

Der Mixer im Wörterbrei dreht sich schneller. Was hilft dagegen? Brüllen, Flüstern, Verlangsamung, Nähe durch „Ich“ oder andere Formen der Authentizität schaffen, ein Markenzeichen erfinden? „Spiegel Online“ hat einige solcher Markenzeichen erfunden. Man könnte sie auch Posen nennen. Jan Fleischhauer nimmt sich im „schwarzen Kanal“ die Linken vor die Brust, Jakob Augstein – „im Zweifel links“ – zieht über die Konservativen her, Sascha Lobo sinniert übers Digitale. Woche für Woche. [...] Das Publikum johlt. [...]
Wer weiß, vielleicht wird sich auch das bald abnutzen. Und die Inhaber der Markenzeichen werden merken, dass sie eins geworden sind mit der Rolle, in die sie einst geschlüpft waren. Egal, was sie sonst noch zu sagen und schreiben hätten, sie finden sich immer schon vor – in den Erwartungen der Leser. Ihr Image ist die Haut, aus der sie nicht mehr herauskönnen.

Auch hier – nur Sinnlosigkeit. Denn: Wer sich vermarktet, hat sein Menschsein schon aufgegeben. Wer nicht von Anfang an authentisch ist, der hat es verdient, mit seiner bloßen Rolle zu verwachsen. Und im Grunde ist selbst ein Medium verachtenswert, dass kein klares Profil zeigt, sondern, um der ,Vermarktung’ gegenüber einer möglichst großen ,Zielgruppe’ willen, möglichst sämtliche ,Meinungen’ irgendwie, irgendwann, irgendwo bedient. Einheitsbrei – auch hier. Für jeden etwas, die große Lotterie, einmal ,Spiegel für alle’. Widerlich. Nur noch ein bloßes Vexierspiel, in dem es keiner mehr ernst meint. Oder doch? Meinen sie es ernst? Wer ist noch authentisch? Etwa der ,Spiegel’, weil er demokratisch ,jede Meinung abbildet’, die möglich ist? Der Politiker, der unerkennbar in seiner eigenen Person ist und sein Fähnchen nur noch nach dem Winde dreht? Und der ,Spiegel’-Herausgeber wäre dann eine solche ,unsichtbare Hand’, die ,neutral’ einmal wöchentlich – und online ohnehin im Minutentakt – die verschiedenen Spuckbeiträge zum täglichen Brei verrührt?

Viele Redakteure, so Lehming, ,schreiben ihre Texte heute so, dass sie möglichst prominent von Google erkannt’ werden. Man möchte fragen: Sind es dann eigentlich noch ihre Texte? Oder schreibt im Grunde schon Google selbst statt ihrer? Lässt man innerlich mittlerweile den Algorithmus für sich schreiben, gibt sein eigenes Wesen ab und passt sich an Verschlagwortungsmechanismen und digitale Ranking-Optimierung an? Als bloße Schimäre aus Mitteilungsbedürfnis und technischem Gehorsam gegenüber der Suchmaschine? Um möglichst gut ,gefunden’ zu werden? Weil man Google nach dem Mund geredet hat – und dabei sklavisch sein Eigenes aufgegeben, was man vielleicht ohnehin nie wirklich hatte?

                                                                                                                     *

Lehming, Kind seiner Zeit, distanziert sich noch immer nicht von all dieser offensichtlichen Sinnlosigkeit und Entkernung unserer Wirklichkeit, vielmehr schreibt er (und vieles habe ich bereits weggelassen):

Gedächtnis, Schrift, Buchdruck, Digitalität, Wörterbrei: Diese zeitliche Abfolge in der Geschichte der Kommunikation lässt sich durchaus wertfrei, also eben nicht kulturpessimistisch betrachten. Wie die Schrift in gewisser Weise Gedächtnis und orale Überlieferung zerstörte, der Buchdruck die Verbreitung auch von Schund förderte, so entstanden andererseits Archive, Bibliotheken, Mikrochips – und das Wissen ums Wort wurde demokratisiert.

Etwas Sinnloseres und sich selbst Widersprechenderes habe ich kaum jemals gelesen! Wertfrei wäre Einheitsbrei. Das Menschliche beruht gerade auf Wertung – sei sie bloß-persönlich, sei sie moralisch oder spirituell. Wo die Wertung abgeschafft wird, wird das Menschliche abgeschafft. Es gibt keine Wertfreiheit – oder es gibt den Menschen nicht mehr. Möglicherweise kann es ein Wert sein, nicht zu werten, aber hier ist genau zu beachten, auf welchem Feld man sich bewegt. Werte ich nicht die Hautfarbe eines Menschen – oder werte ich nicht die Qualität eines literarischen (Er-)Zeugnisses?

Wenn es mir egal ist, ob mir ein Gedicht von Rose Ausländer oder aber der billigste Comicstrip oder Groschenroman begegnet, habe ich mein Menschsein aufgegeben. Dasselbe Menschsein aber ist es gerade, das den Menschen im Anderen erkennt, völlig unabhängig von seiner Hautfarbe, seiner sozialen Stellung oder anderem, was mir den Blick auf den Menschen eher verdecken als offenbaren kann. In diesem Bereich nicht zu werten, ist gerade eine gesteigerte innere Aktivität, die sich auf das Unsichtbar-Wesentliche konzentriert. In Bezug auf Literatur und anderes nicht zu werten, wäre die völlige Aufgabe dieses Inneren und ein Versinken im Einheitsbrei.

Die Wertfreiheit also, die Lehming hier propagiert, braucht keinen Kulturpessimismus mehr, weil sie Kultur selbst längst entsorgt hat. Wo keine Kultur mehr ist, braucht man auch keinen Pessimismus mehr, denn die Lage ist dann längst hoffnungslos geworden.

                                                                                                                     *

Und dann kommt der Gipfel der Sinnlosigkeit, ja Lüge:

Verkümmert das Denken im digitalen Zeitalter? Die Frage ist falsch gestellt. Das Denken ändert sich, es ruht nicht mehr länger in einem festen Kanon von Gelerntem, das nach Bedarf abgerufen wird, sondern formt sich sein Bild von der Welt aus einer Fülle von Zeichen, Smileys, Tweets, News, Videos. Die Frage nach Gut und Böse ist so sinnlos wie überflüssig.

So kann nur der Vertreter des Einheitsbreis ,denken’. Aber dieser merkt eben längst nicht mehr, dass er eigentlich überhaupt nicht mehr denkt – wirklich überhaupt nicht mehr –, sondern nur noch ,Gedankenblasen’ (eben Spucke) aneinanderreiht, was etwas völlig anderes ist. Einst war das Denken eine Kunst, war die aufrichtige, ringende Philosophie die Königsdisziplin der Wissenschaften. Heute glaubt jeder, denken, ja sogar ,philosophieren’ zu können, weiß aber nicht einmal mehr, woher das bloße Wort eigentlich kommt und was es bedeutet. Signum einer untergehenden Zeit…

Auch der ,feste Kanon von Gelerntem’ ist kein Denken mehr. Denken kommt selbst zu Erkenntnissen. Wenn ich den Satz des Pythagoras wirklich durchdringe und seine Wahrheit erkenne, bin ich in dem Moment wahrhaft ein Denkender – und Erkennender. Ich denke dagegen bereits dann nicht mehr wirklich, wenn ich später auf dieses ,Gesetz’ zurückgreife, ohne es erneut zu durchdenken und erneut zu erkennen. Das muss ich auch nicht, denn ich habe ihn einmal erkannt. Wollte ich mich erneut vergewissern, müsste ich aber auch erneut wahrhaft im Durchdenken wiederum ein Erkennender werden. Und so ist es überall – wahres Denken ereignet sich nur da, wo der Mensch sich zu dieser geradezu heiligen Aktivität erhebt und sie innerlich zur Wirklichkeit macht.

Heute dagegen wird sie auf allen Ebenen abgeschafft. Der ,Kanon von Gelerntem’ (sei es einst selbst erkannt, sei es, weil es ja ,Kanon’ ist, von vornherein nur angeeignet) wird nicht durch wirkliches Denken ersetzt, sondern durch – ,Smileys, Tweets, News, Videos’. Lehming kennt also nur die Alternative zwischen ,Abrufen von Gelerntem’ und ,Absondern von Spucke neuer Art’. Es ist für denkende Menschen offensichtlich, dass weder das eine noch das andere Denken ist und die wahre Menschenstufe weder auf die eine noch die andere Art wirklich erreicht wird. Bloßes Kanon-Lernen ist genauso wenig wahrhaft menschlich wie die bloße, ständige Absonderung von Smileys, Tweets etc. Und die ganze Unmenschlichkeit und Dekadenz erweist sich, wenn jemand schreiben kann: ,Die Frage nach Gut und Böse ist so sinnlos wie überflüssig’.

Wenn das so wäre, dann könnten ,wir einpacken’. Dann wäre die Menschheit ein ,Fliegenschiss der Evolution’ – und genau das wollen die alten und die neuen Nihilisten einen glauben machen. Aber ich schrieb bereits: Die Nihilisten schaffen Wirklichkeit. Je mehr sich ihr lähmender, nihilistischer Brei ausbreitet, um so nihilistischer und breiiger wird die Wirklichkeit. Je profaner, salopper, entwertender – im schlimmsten Sinne ,wertfreier’ – ich mit der angeblichen ,Wirklichkeit’ umgehe, desto profaner, salopper und wertloser wird sie, weil ich sie nur noch mit meinem eigenen Seelenmüll, meiner eigenen inneren Leere, meiner eigenen, völlig bedeutungslosen Spucke durchdringe. Mit anderen Worten: Wer Gott und das ihn umgebende Göttliche nicht mehr erkennen kann, der offenbart mehr, unendlich mehr, über sich als über Gott… Und dennoch verändert er die Wirklichkeit. Er vernichtet sie. Und er versteht nicht das Geringste.

                                                                                                                     *

Und wie um den Gegenbeweis auf die Behauptung anzutreten, Sinnlosigkeit sei nicht weiter zu steigern, schreibt Lehming wie ein Kamikaze-Krieger des Blöd-sinns:[1]

Dieter Bohlen, der kluge Kopf, antwortete einmal auf den Hinweis, er möge doch bitte zuerst denken und dann reden, sinngemäß mit einer ungespielt ernsten Frage: „Wie soll ich denn wissen, was ich denke, wenn ich es nicht vorher ausgesprochen habe?“ In dieser Torheit steckt Genialität.

Das ist die letztgültige Bankrotterklärung der gesamten abendländischen Weisheit – die aber damit schlicht und einfach nur mustergültig entsorgt wurde. Künftig werden wir wie der ,kluge Kopf’ nur noch vor uns hinlallen, salbadern und Spucke absondern, bevor wir daraufhin möglicherweise ,wissen’ werden, was wir eigentlich ,sagen wollten’. Die Sinnlosigkeit wird ihre Triumphe feiern, und wir werden es noch immer ,Denken’ nennen – hinterher, wohlgemerkt.

Was hier geschieht, ist ein Wahnsinn. Und Lehming ist sein Prophet. Er schafft das Denken ab und erklärt den riesigen Spuckbrei subjektivster Absonderungen zu ,Denken’. Er erklärt den wertfreien Tanz obszöner Sinnlosigkeit zur neuen Religion und die Smileys zur Weisheit des neuen, des digitalen, des erstmals wahrhaft modernen Zeitalters. Ich zitiere diesen Propheten weiter:[1]

Denn auch das ist der Wörterbrei. Nichts in ihm geht je verloren. Keiner weiß, wann welches Wort wieder an die Oberfläche gerührt wird und wie lange es sich dort hält. Das tröstet und versöhnt. Brei bleibt Brei, er trocknet nicht aus, und keiner ersäuft in ihm. Der Brei ist die Konstante [...].

Das neue Ewige. Nicht mehr Gott, sondern – der Brei. Die neue Trost- und Versöhnungsreligion. ,Alles neu macht der Brei’. Nicht mehr Christus, sondern die ,unsichtbare Hand’, die ab und zu (die neue Unerkennbarkeit des Ratschlusses Gottes, Verzeihung, des Breies und seines Mixers) das eine oder andere Wort wieder an die Oberfläche rührt. Vielleicht sogar das eigene. Gott würfelt nicht. Der Brei vielleicht schon. Willkommen im Monty-Python-Universum. Lehming hat es gefunden.

                                                                                                                     *

Doch wie komme ich nun zu der Überschrift meines Aufsatzes – und was hat Jesus damit zu tun?

Sehr viel und sogar alles. Als sich der Gottessohn mit dem Menschensohn vereinigt hatte, sprach aus Jesus der Christus, und Er sagte: ,Siehe, ich mache alles neu.’ Was das bis in alle Tiefen bedeutet, kann nur jener ermessen, der in aufrichtigster Weise Christ ist – oder eine Christusbegegnung gehabt hat, selbst wenn er sie nicht als solche erkannte. Und Christus ist es auch, der in dem von Essenz geradezu berstenden Beginn des Johannes-Evangeliums das ,WORT’, der Logos, genannt wird. Dieses Logos-Wesen wurde dann verspottet, verhöhnt und ans Kreuz geschlagen. Die Lehmings tun es heute noch immer.

Das Christus-Wesen ist bis heute nur von Wenigen verstanden worden – und es werden immer weniger. Warum? Weil wir in einer Zeit leben, in der immer mehr nur noch die ,Spucke’ zählt. Das Spucken und das möglichst laute Grölen im digitalen Einheitsbrei – oder aus diesem heraus. Auch das Christus-Wesen wurde angespien – aus wutverzerrten Antlitzen, die sich selbst wichtiger dünkten als Ihn, den sie nicht erkannten, das Wesen der Liebe, das Wesen des Geistes, das Wesen der menschlichen Seele, das Wesen der Individualität, das Wesen der Hingabe, das Wesen der Freiheit, das Wesen des Menschen.

Ich kann das hier nicht weiter ausführen, es bräuchte auch hier ein eigenes Buch – und man kann in meinen Büchern viele Zugänge dazu finden (siehe zum Beispiel ,Ich will Ihn suchen…’, ,Sehnsucht nach … Anthroposophie’ oder ,Das Jahr des Mädchens’).

Aber ich komme jetzt zu Lehmings heutiger Meinungsspalte im ,Tagesspiegel’. Denn ja – Lehming leitet (!) seit 2005 (!) die Meinungsseite dieser Zeitung. Von 1989 bis 1991 war er sogar persönlicher Referent und Redenschreiber für Helmut Schmidt, kam dann 1991 zum ,Tagesspiegel’ als Redakteur für Außenpolitik mit den Schwerpunkten Sicherheitspolitik, Transatlantische Beziehungen und Naher Osten und leitete 2000 bis 2005 das Washingtoner Büro der Zeitung.[2]

Man kann sich fragen, ob nicht bereits die geradezu verherrlichende Rede vom ,Brei’ ein gut getarntes Desinformationsmanöver des amerikanischen Geheimdienstes auf deutschem Boden sei – dem einstigen Land der Dichter und Denker. Aber genug des Sarkasmus, wahr ist, dass Lehming beides zerstört, sowohl das Wesen der Poesie als auch das Wesen des Denkens.

Heute aber äußert sich Lehming zu Corona und – kleiner geht es nicht – der Verantwortung der Kirchen. Als selbsternannter Gott der Spuckerei kann er es sich leisten, zumal im Zeitalter der Meinungsfreiheit Meinungen nichts kosten, und der riesige Brei will ja schließlich auch genährt werden – und als Chef der ,Meinungsseite’ muss man eben sein tägliches Scherflein beitragen. Man würfelt ein bisschen, wartet, wonach einem heute die Lust steht, schaut auch ein bisschen auf das Fähnlein (woher der Wind weht) – und beginnt. Vielleicht weiß man ja am Ende, wie Dieter Bohlen, was man eigentlich gedacht hat. Und wenn das Fähnlein ,Corona’ anzeigt und man ohnehin dabei war, eine neue Religion zu schaffen, kann man sich doch auch einmal den belanglosen Kirchen zuwenden und ihnen ,den Marsch blasen’. Vielleicht gibt das ja einen guten ,Tweet’ ab und wird im großen Gesamtbrei noch ein paarmal nach oben gerührt…

                                                                                                                     *

Als Herr der Meinungsseiten kann Lehming die Meinung und die Marschrichtung vorgeben – selber denken ist out, wozu gibt es die Meinungsseite? Hier kann sich der Leser täglich den stets neu aktualisierten ,Kanon’ holen, was er zu denken habe, wenn er modern, hip, verantwortlich oder was auch immer sein will. Wer die Meinung bestimmt, bestimmt das Ganze. Der Herr der Meinungsseiten ist eine Art moderner Diktator, er bestimmt die Richtung des Breis – zumindest mit. Und so übertönt Herr Lehming das attraktive Grundrauschen und grölt mit einem erfrischenden Selbstbewusstsein: ,Die Kirchen müssen Nein sagen – auch an Heiligabend’ (so die Überschrift!).

Auch hier soll der Sarkasmus nur erlebbar machen, was sich wirklich abspielt. In Wirklichkeit ist es von einer unvorstellbaren Tragik. Und wohlgemerkt: Wenn man dessen ,Brei-Gedanken’ kennt, weiß man, dass Lehming definitiv kein Christ sein kann. Und für einen Nicht-Christen ist es natürlich besonders einfach, irgendetwas von ,den Kirchen’ zu fordern. Das Religiöse hat heute eben auch nicht mehr Wert als die Tweets und Smileys, die völlig gleichberechtigt – denn wir leben ja im Zeitalter der Wertfreiheit (lies: Ent-Wertung) – neben Religion, Substanz, Qualität etc. zirkulieren. Wer am lautesten grölt, dringt durch, das ist das ganze Gesetz des Breis. Nicht einmal mehr der ,Diskurs’ zählt, sondern die Google-Optimierung. Und auf den physischen Leser bezogen: Wie setze ich mich in dessen Synapsen so fest, dass ich doch ein wenig aus dem Einheitsbrei herausrage? Je selbstgewisser ein ,Meinungsartikel’ daherkommt, umso größer die Chance, dass etwas ,hängenbleibt’. Hören wir also Lehming:[3]

Sie dürfen. Gottesdienste sind weiter erlaubt, die Auflagen streng: Maskenpflicht, Mindestabstand, kein Gesang, vorherige Anmeldungen. […]
Im Zentrum stehen Wort, Gebet und Besinnung. Welche Bedeutung das für Christen hat, lässt sich kaum überbewerten. Viele dürstet es nach Kraft und Stärkung, gerade in dieser Zeit.

Aber nach dieser Einleitung folgt natürlich sofort die Negation – wie könnte die Rede vom ,lässt sich kaum überbewerten’ auch ernst gemeint gewesen sein, in Zeiten der Wert-Freiheit?

Lehming peitscht die Republik auf das trotz Wert-Freiheit ,Unvermeidliche’ ein:

Sie dürfen, aber sollen sie? […] Nein. Alle politisch und medizinisch Verantwortlichen im Land verbreiten eine klare Botschaft: Sämtliche Kontakte müssen auf ein absolut notwendiges Minimum reduziert werden, jede Begegnung, die nicht stattfindet, ist gut.

Übersetzt lautet das: Nur ein Christ, der in diesen Tagen keinen Gottesdienst feiert – selbst nicht mit Maske, selbst nicht mit Abstand, selbst ohne Gesang – ist ein guter Christ.

Da haben wir also doch plötzlich Werte: Das Absagen von Gottesdiensten ist ein ,Wert’. Warum? Weil es das ,Infektionsrisiko’ beendet – was das beste ,Hygienekonzept’ nicht könne. Das also ist der neue Gott: die Vermeidung des Infektionsrisikos. Millionen scheren sich einen Dreck um das Risiko – aber Christen, religiöse Menschen, sollen nicht einmal zu diesem heiligen Fest der Weihnacht ein Gotteshaus besuchen dürfen? Selbst nicht mit Maske, selbst nicht mit Abstand, selbst ohne Gesang?

Für einen Infektionszahlen-Fanatiker ist das alles ,Kleinkram’: Weihnachten – was ist das? Weihnachten – wozu? Gotteshäuser? Infektionsherde! Abschaffen, ausfallen lassen, sein lassen, abblasen.

So kann ein Lehming sprechen, für den Religion nichts, der Brei aber alles ist – und die hohe, heilige Pflicht, die ,Infektionszahlen’ zu drücken. Was ein Hygienekonzept ja nicht kann. Aber die Schließung der Gotteshäuser und das Ausfallen des Weihnachts-Gottesdienstes schon. Also bitte: Habt ihr noch einen Funken Verantwortung, ihr armseligen Christen – oder seid auch ihr … Corona-Leugner!?

                                                                                                                     *

Für Lehming ist das alles nicht wichtig, was mit Religion zu tun hat. Deswegen kann er billig von seiner selbstgezimmerten Kanzel predigen. Und gnädig sagt er: Es kann doch digital stattfinden! Warum denn mit ,physischer Präsenz’? Am eigenen Home-Bildschirm kann man dann auch singen, wie es einem gefällt. Nur – leider hat auch die Frau des Afghanistan-Soldaten gemerkt, dass die digitale Live-Schaltung eben nicht funktioniert. ,Skype essen Seele auf’, könnte man sagen. Besser ein ausgefallenes Weihnachten als eine tote Oma, könnte Lehming kontern. Aber hier werden Äpfel mit Birnen verglichen. Man könnte auch einmal untersuchen, wie viele Menschen beim weihnachtlichen Kirchbesuch auf glatter Straße stürzen und sich ein Bein brechen.

Und man wird untersuchen können, wie rasant die Kirchenaustritte voranschreiten, weil die Menschen nicht etwa merken: ohne Religion geht’s auch, sondern weil sie merken: Religion mit Maske, mit Abstand, ohne Gesang und unter dem ständigen Druck, es eigentlich auch ganz sein zu lassen, ist irgendwann schlicht keine Religion mehr. Es ist nur noch eines: Unterwerfung unter das Virus.

Hier also haben wir den neuen Gott. Der Mensch ,denkt’ – das Virus lenkt. Jeder nicht infizierte Christ ist ein guter Christ. Jeder, der zu Weihnachten ,in die Kirche rennt’, ist ein schlechter. Es ist einfach nur noch eine brutale Schlacht um die Deutungshoheit – und um Zahlen. Aber die Massentierhaltung geht weiter, die Schlachtungen gehen weiter, bei Amazon wird weitergearbeitet (und ausgebeutet), alles geht heimlich weiter – auch nur mit ,Hygienekonzepten’ und ohne Zauberformel, mit Arroganz, mit Ignoranz, Gott Kapitalismus thront unangefochten, aber Weihnachten soll ausfallen.

Lehming hat nicht die geringste Ahnung von Spiritualität. Er weiß nicht im allergeringsten, was Weihnachten, das Geschehen Weihnachten, eigentlich bedeutet. Es interessiert ihn auch nicht – wozu auch? Für ihn ist das alles nur Verschiebemasse – und heute trötet er eben in dieses Horn. Bringt unter dem Strich ein paar Infizierte weniger. Möglicherweise. Und genau darauf kommt es an. Ausschließlich. Also hört auf, arrogant zu sein und auf euren Weihnachts-Firlefanz zu dringen! Zeigt Flagge und verzichtet auf den Mist. Ihr verdient euch damit die kurzfristige Achtung der Brei-Generation – ist das nichts?

So sagt es Lehming nicht, aber er meint es. Selbstverständlich drückt er es diplomatischer und eindrucksvoller aus. Ich zitiere:[3]

Ihrem eigenen Anspruch nach haben Religionsgemeinschaften eine Vorbildfunktion. In einer pandemischen Notlage, ausgelöst durch ein hochgradig infektiöses Virus, dürfen Christen folglich nicht den Eindruck erwecken, privilegiert zu sein. Alle Bevölkerungsgruppen bringen in einem harten Lockdown große Opfer. […] Wollen Kirchen sich wirklich auf eine Debatte darüber einlassen, welche Opfer zu groß sind? […] Es wirkt grotesk, wenn ausgerechnet jene, die oft am lautesten Opferbereitschaft einfordern, partout nicht auf Weihnachts-Gottesdienste verzichten wollen.

                                                                                                                     *

Die Arroganz dieser Argumentation ist unerträglich. Und nur in einem bereits absurden System, nämlich dem kapitalistischen, ist so etwas überhaupt möglich. Denn lebten wir nicht in diesem Irrsinn, könnte die Lösung auch ganz, ganz anders sein: Lockdown bedeutet, der Kapitalismus wird zumindest für einige Monate schlicht und einfach abgeschafft, das Notwendigste (Lebensmittel etc.) wird weiter produziert, alles andere ruht, soweit irgend möglich. Niemand muss etwas zahlen, niemand verdient etwas, das Geldsystem ist einfach eingefroren, und jeder bekommt Bezugsrechte für das Lebensnotwendige. Lebensmittel werden hergestellt und können empfangen werden – und der Rest ist nicht notwendig.

Man überlege sich einmal, wie schnell das Virus unter Kontrolle gebracht und verschwunden wäre! Ohne irgendwelche ,Opfer’ zahlloser Selbstständiger, Kulturschaffender, Gastronomie-Betreiber etc. etc. etc. Niemand wäre in Verschuldung geraten, jeder hätte nur dasjenige sein gelassen, was möglich ist zu unterlassen, ohne dadurch geschädigt zu werden.

Aber auf diese einfache Idee kam man nicht – denn der Kapitalismus musste weitergehen. Nur deswegen haben unzählige Menschen echte Opfer gebracht, die den Ruin bedeuten können und vielfach bedeuten, während andere gut durch die Krise kommen, als sei (fast) nichts gewesen. Das ist das Eine. Die Krise hätte gut und einfach für alle bewältigt werden können, wenn man die absurde Logik des Kapitalismus einfach ausgeschaltet hätte. Aber die Verdienstzwang-Maschine blieb angeschaltet, die letzten Monate forderten unzählige Opfer – und der Kapitalismus rollt über sie hinweg, trotz Milliardenhilfen des Staates, die am Ende auch wieder neue Ruine bedeuten werden, während der Reichtum sich weiter konzentriert und bei immer Wenigeren sammelt, weil man es nicht wagt, ihn dort wieder wegzunehmen und der Gemeinschaft zuzuführen.

Der Lockdown wurde also mit völlig untauglichen Mitteln gefordert und durchgesetzt, man hat sinnlose Opfer gefordert, anstatt konsequent zu sein und einen wirklichen Notstand auszurufen, den Kapitalismus auszusetzen und damit gerade Opfer zu verhindern!

Weil man das nicht tat, gibt es jetzt unzählige Opfer, ist die sogenannte ,Corona-Krise’ eine Zeit ungeheurer Opfer von Vielen, die geopfert werden, weil man nicht den Mut hatte, es richtig zu machen.

Und aufgrund dieses Dilettantismus, man muss sagen Irrsinns, werden weitere Opfer gefordert. Jetzt also stellt sich ein Lehming hin und fordert das letzte Hemd der Religion: Blast Weihnachten ab. Hört auf mit den Gottesdiensten. Lasst es sein. Alle bringen Opfer – bringt auch ihr das letzte. Schmeißt den Sinn selbst über Bord. Nächstes Jahr könnt ihr ja wieder anfangen. Vielleicht.

                                                                                                                     *

Lehming sagt es so nicht, aber es ist der Subtext. Und dann endet seine Meinungsspalte mit einer unüberbietbaren Arroganz, einer Arroganz ohnegleichen. Denn in einer wirklich perfiden Weise schreibt er:[3]

Hätte Jesus gewollt, dass sich zu seinem Geburtstag viele Menschen versammeln und das Risiko eingehen, sich und andere mit einem gefährlichen Virus anzustecken? Die Frage zu stellen, heißt bereits, die Antwort zu kennen.

Das Eine ist bereits die flapsige Pervertierung dessen, was Weihnachten eigentlich ist. Es ist nicht nur ein ,Geburtstag’, es ist nicht einmal nur ein Fest der Erinnerung an die Geburt des Kindes – es ist ein Geschehen. Wer das nicht begreift, hat von Spiritualität und Religiosität nicht das geringste Verständnis.

,Hätte Jesus gewollt...?’ Und dann: ,Die Frage zu stellen, heißt bereits, die Antwort zu kennen.’ Lehming also, der Prophet des digitalen Breis, kennt die Antwort, was Jesus gewollt hätte – und verkündet sie den Lesern auf der Titelseite der heutigen Zeitung. Billig, preiswert, schnell, einfach. Einfach nur lesen – und wissen. Wie Lehming. Man fragt sich nur: Wusste er es schon vorher … oder erst, als er den Satz ausgespuckt hatte (siehe Dieter Bohlen)?

Mit seinem Billig-Artikel dieses Tages missbraucht Lehming die heiligen Werte des christlichen Impulses, nämlich die Liebe selbst, um sie für seine Zwecke zurechtzubiegen. Der Teufel selbst hätte es nicht besser machen können. ,Hätte Jesus gewollt, dass der Glaube und die Treue gegenüber dem Heiligen mehr wert ist als die Unterwerfung unter abstrakte Infektionsrisiken?’ Laut Lehming hätte er gewollt, dass man diesen heiligen Glauben mit Füßen tritt, weil es ja nur darauf ankäme, sich und den nächsten als Hochrisikoquelle zu betrachten, Gott nicht mehr zu geben, was Gottes ist, sondern nur noch dem Kaiser (aktuell: dem Virus), was des Kaisers ist. Maske vors Gesicht! Abstand oder Schließung! Kein Gesang! Und wenn das alles noch nicht reicht, weil ja selbst Hygienekonzepte wert-frei über Bord geschmissen werden: Abblasen, sein lassen, vernünftig sein, einfach nur zu Hause Religion spielen – oder eben am Bildschirm den Gottesdienst verfolgen, wozu leben wir denn verdammt nochmal im digitalen Zeitalter?

Das ist Lehming. Goethe hätte den Mephisto sofort erkannt.

                                                                                                                     *

Was Jesus gewollt hätte, ist bereits die falsche Frage. Die richtige Frage ist, was Christus heute will, denn Er ist der Auferstandene. Wir haben es nicht mit einem rein historischen Ereignis zu tun – sondern mit Gegenwart. Einer Gegenwart, die Lehming zwar nicht begreift, aber leugnet.

Die Frage ist nicht, was Christus wollen würde, sondern was der Impuls des Christus-Wesens ist. Und würde man diesen wirklich erleben und würde man ihn in Worte zu fassen versuchen, so würde man vielleicht zuerst folgende Worte finden – Seine eigenen Worte: ,Fürchtet euch nicht – Ich bin bei Euch!’

Dieses Todbesiegende, dieses Nur-Leben-Seiende, was in diesen Worten liegt, ist absolut eins mit den Erlebnissen derer, die an der Todesschwelle stehen und sie überschreiten und manchmal von dort wieder zurückkehren – mit anderen Worten, den Erlebnissen all derer, die einmal eine alles erschütternde Christus-Begegnung gehabt haben. Diese Menschen fürchten den Tod nicht mehr, weil er keinen Stachel mehr hat. Neben dem Wesen des Lebens, dem Wesen der Liebe, hat der Tod keinen Bestand. Er hört schlicht auf, etwas Essenzielles zu sein.

Und so könnte ein anderes Wort, das man ringend sucht, um dieses Erlebnis in Worte zu fassen, sein: ,Klammert euch nicht an etwas, was euch von mir trennt…’

Nicht das physische Erdenleben ist ein absoluter Wert, sondern das Leben – das Leben der Seele und des Geistes, das sich wiederverbindet mit ihrer heiligen Quelle, mit jenem Wesen, das alles Leben gibt und ohne das nichts Leben hat, was Leben hat. Ohne diese Verbindung oder Wiederverbindung (Re-ligion) ist alles ,Leben’ immer mehr nur noch Schein-Leben.

Möge jeder dieses bloße Schein-Leben leben, wenn er irgendeinen Sinn darin findet und der ,Brei’ ihn irgendwie ,glücklich’ macht – der wirkliche Christ kann dies nur mit Grausen ansehen und die verlorenen Brüder und Schwestern mit Mitleid fragen, ob sie es denn wirklich so wollen. Aber – umgekehrt von dem Christen zu fordern, auf sein Leben zu verzichten, weil etwas anderes höherstehe, nämlich die ,Reduzierung der Infektionszahlen’ (die von anderen in die Höhe getrieben werden), ist schlicht und einfach materialistisch fundierter religiöser Rassismus – die Behauptung, das Religiöse sei weniger wert als das reine, nackte, physische Leben oder auch nur ein paar Promilleunterschiede in den Infektionsrisikowerten.

Was Jesus ,gewollt hätte’ und was das Christus-Wesen jetzt, heute und auch in Zukunft will und als freilassenden, zarten, verborgenen Impuls in die menschlichen Seelen sendet, das ist ein Vertrauen in die Kräfte der Seelen-, der Geistes-, der Gotteswelt, ein Brechen der Übermacht und Terrorherrschaft des Rein-Irdischen.

Auf dass einst der Mensch ganz geboren werde – und sich nicht abschaffe. Weihnachten – das heilige Geheimnis der Geburt…

Petrus hatte Christus dreimal verleugnet, ehe der Hahn krähte. Warum? Aus Angst vor dem eigenen nackten Leben, das ihm auf einmal wichtiger war als sein wahres Wissen. Und als er es bemerkte, ,weinte er bitterlich’. Wie viele Tränen haben wir noch, wenn wir das Heiligste verraten, weil der ,Fürst dieser Welt’, in welcher Verkleidung auch immer, es befiehlt?

Das Fest der Liebe mit Angst zu feiern oder aus Angst abzuschaffen, ist tiefste Christus-Verleugnung. Dies ist nur möglich, wenn man gar nicht mehr weiß, wer Christus ist. Dann aber weiß man auch nicht mehr, was der Mensch eigentlich ist. Nur so kann man des Virus und der Angst Sklave werden.

,Fürchtet euch nicht...’
 

Quellen


[1] Malte Lehming: Wer schreit, bleibt länger. Tagesspiegel.de, 17.6.2014
[2] www.theeuropean.de/malte-lehming.
[3] Malte Lehming: Die Kirchen müssen Nein sagen – auch an Heiligabend. Tagesspiegel.de, 14.12.2020. [In der Druckausgabe: Ihr Opfer ist gefragt].