31.03.2021

Darf ein Mann ein Mädchen lieben (und umgekehrt)?

Ein Briefwechsel.


Ein Mann schrieb mir:

Sehr geehrter Herr Niederhausen,

lange nichts gehört voneinander. Der Text vom 27.03 Ihrer Website ("Dünnes Eis...") hat mich ermuntert, selber etwas zu schreiben.
Falls Sie mir öffentlich, auf Ihrer Website, antworten wollen, bitte anonym und vor allem nur den vollständigen Text abdrucken
Freundliche Grüße, X.X.

Einige Gedanken zu den Texten Ihrer Website. Sie mögen mir erwidern, dass ich keines Ihrer Bücher gelesen habe – stimmt. Es gibt aber sehr lange textauszüge, auf die will ich eingehen.

Ich bin auch davon überzeugt, dass es für die eigene seelisch-geistige Entwicklung absolut notwendig ist, an die verlorengegangenen Gefühle und Zustände wie „Unschuld/Reinheit/Zärtlichkeit“ usw. anzuknüpfen, bzw. diese im Heiligtum der eigenen Seele wieder zu entdecken und zu beleben.

Aber warum denn ausschliesslich im Aussen suchen? In einer zutiefst ersehnten, auf ca 10.000 Buchseiten beschworenen „face to face“ Begegnung eines, sorry, „älteren Herren“ (indem sich nur unschwer das alter Ego des Verfassers erkennen lässt) mit einer beispiellos idealisierten und mythologisierten Mädchengestalt?

Das, wonach man sich zutiefst sehnt, findet man in der eigenen Seele. Natürlich auch die Reinheit, Keuschheit und Zärtlichkeit. Wenn es dann – zusätzlich – zu einer entsprechenden Begegnung im Aussen kommt, sehr schön. Wenn nicht, auch sehr schön. Die Zartheit und Reinheit der eigenen Seele bedarf überhaupt keiner äußeren Bedingung oder Fixierung auf ein  bemüht herbeigesehntes äußeres Ereignis. Man kann vielmehr den Eindruck bekommen, dass das jahrelange schriftlich-gedankliche Kreisen um gerade diese eine Form der Begegnung die eigene seelische Reinheit korrumpiert und manipuliert hat. Nach etwa 40 Mädchenbüchern geht es dann los, dass das Jungfernhäutchen der Gottesmutter thematisiert wird, meine Güte, was geht in Ihnen vor, bei solchen Reflektionen? Sehen, ahnen Sie nicht auch das Würdelose von diesen Dingen?

Vielleicht ist das eine gewisse Tragik: Dass die spirituelle Richtung, mit der Sie sich seit langem verbunden fühlen – Anthroposophie – häufig etwas sehr „einseitig-männliches“ hat: Der strenge, ernste Denkwille. Das Ich, welches höhere, sinnlichkeitsfreie Erkenntnisse anstrebt und erlangen will. Durch zahllose Meditationen und Übungen, in denen man sich selbst verbessern, läutern, überwinden sollte. Man blickt zudem viel auf ein Aussen: Der Engel, der Naturgeist, der Christus, Michael, der/die etwas macht oder gemacht hat und dem man sich annähern will.

(Nebenbei, ich habe auch die Bücher Ihrer  (einstigen?) „Lieblingsautorin“ Mieke Mosmuller, mit ihren Variationen der Denkschulung, immer als sehr „männlich“ erlebt).

Was bleibt auf der Strecke? Genau, die Einfachheit, die Zartheit, die Keuschheit und die Berührung.

In anderen, „moderneren“ spirituellen Richtungen sowie im tibetischen Buddhismus ist so etwas selbstverständliche Übung: Ein sich-verbinden mit verloren gegangenen „heiligen“ Anteilen der Seele wie Unschuld und Zartheit. Mit Hilfe von Symbolen oder Bildern, die diese Anteile repräsentieren. Ebenso gibt es in der christlichen Mystik und im Katholizismus eine Verbindung zur Reinheit des Weiblichen – in einer demutsvollen und andächtigen Kontemplation der Gestalt der Maria. Um ihr Jungfernhäutchen geht es nicht.

Auf 2 Zitate Ihrer Website möchte ich näher eingehen:

„Wenn er jedoch wahr wäre, dann könnten wir sämtliche Märchen in den Abfalleimer der Geschichte entsorgen, in denen Mädchen so erschütternd berührend dargestellt werden, dass sich auch ein Mann nur in sie verlieben kann – und Gleiches gilt für sämtliche Poesie des Abendlandes und der ganzen Welt, in denen Mädchen und ihr Wesen besungen wird – nicht etwa von Jungen, sondern von Männern!“

Genau, von der Mädchen-Gestalt Rotkäppchen oder Schneewittchen bin ich, „als Mann“ berührt, ähnlich wie ich von dem Prinzen oder den Zwergen berührt sein kann. Diese Gestalten repräsentieren Teile meiner Seele. Sich in diese oder eine von diesen Gestalten zu „verlieben“ kam mir, der ich seit über 50 Jahren mit Märchen lebe, nie ansatzweise in den Sinn.

Und „sämtliche Poesie des Abendlandes...“ (!!) Dante hat seine Beatrice idealisiert und in den Himmel versetzt. Das war aber eine erwachsene Frau, der er auch als Frau im konkreten Leben begegnet ist. Jemand, der sehr viel von den Mädchen gedichtet hat, war Rilke („Siehe, innerer Mann, dein inneres Mädchen...“) Er ist nie auf die Idee gekommen, sich zu Mädchen im Alltagsleben hingezogen zu fühlen, er suchte vielmehr gezielt den Kontakt zu reifen, selbstbewussten Frauen seines Alters.

Aber natürlich, es gibt noch viele andere, Novalis und Nabokov und noch viele mehr, die dieses Thema berühren und die man so und so deuten kann.

„Denn ganz zweifellos ist es, dass ein Mädchen schon sehr früh beginnen kann, zu lieben. Auch in einem mehr als nur ,kindlichen’ Sinne. Man kann sicher sein, dass bereits zahlreiche zwölfjährige, in jedem Fall aber vierzehnjährige Mädchen in einem Sinne lieben können, der nicht mehr so keusch ist wie ein Sonnenstrahl...“ (Himmelsgeheimnis der Liebe)

Man kann sicher sein...? Wäre es dann nicht angebracht oder sinnvoll, nachdem Sie in etwa 40 Büchern auf, wie gesagt, ca 10. - 12.000 Seiten „das Heiligste“ der Gestalt des Mädchens wieder und wieder im stets wiederkehrenden Muster (älterer Mann trifft Mädchen und wird von ihm „erlöst“) dargestellt haben – dass Sie glaubwürdige oder aussagekräftige Erfahrungsberichte in Ihre konstruierten Phantasien einfliessen lassen? Etwa: Die jetzt 25 jährige XX berichtet, dass sie in einem Alter von 13 eine Beziehung zu einem 40 Jahre älteren Herrn gehabt hatte und dass sie frei und selbstbestimmt...usw.usf.

Ich muss gestehen, dass ich gerade bei letzterem Zitat nicht wenig entsetzt bin. Was geschieht, wenn das in „falsche Hände“ gerät? Wenn ein Mann eine Art von Hingezogensein zu einem ihm anvertrauten Mädchen erfährt und dann auf Ihre Texte stösst?

Man kann sich bemühen, dass man Zugang zu seinem „inneren Kind“ findet, zu den verborgenen seelischen Anteilen, die schutzbedürftig, grenzenlos offen, verspielt und unschuldig sind. Da gibt es viel sehr positive Forschung und empfehlenswerte Publikationen in den letzten Jahrzehnten. Niemand kommt da auf die Idee, diesen Anteil anderswo als in der eigenen Seele suchen zu wollen.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie irgendwann eine selbstbewusste Frau in Ihrem Alter finden und dass Sie dann vielleicht sehen, dass exakt in dieser Frau „das Mädchen“ zu finden ist, verborgen unter viel gelebtem Leben und etwas älter und fleckig gewordener Haut.

Und wenig später schrieb er noch:

Ich muss gestehen, dass ich durchaus leicht entsetzt bin, je mehr ich Ihre Texte lese.

"Wenn es in der Begegnung zwischen einem Mann und einem Mädchen, und sei der Eros noch so zart, im geheimnisvollen Hintergrund immer auch um das Mysterium des Geschlechts geht – und vielleicht irgendwann auch sehr real um die zärtliche Annäherung auch auf dieser Ebene –, kann das Mädchen dann über diesen intimsten Bereich seines Leibes selbst bestimmen ... oder tut dies noch immer die Umwelt, das kollektive Dogma?"

Eigentlich schreiben Sie hier, mehr oder weniger verblümt, dass Sie sich eine sexuelle Handlung mit einer Minderjährigen vorstellen könnten, oder? Nach 10.000 Seiten "unendlich allerheiligste Empfindungen" kommt "man(n)" endlich auf den Punkt. Dabei ist es natürlich sehr, sehr erfreulich, dass sich die Selbstbestimmung des Mädchens mit der "sehr rücksichtsvollen und behutsamen" Intention des älteren Herren deckt.

Ich habe Ihre Website vor einiger Zeit einem Freund gezeigt, der sich mit dem Thema Missbrauch/Pädophilie usw. beruflich und menschlich-psychologisch gut auskennt. Er war zutiefst irritiert von der Seite, meinte allerdings auch, dass es gut sein kann, dass das exzessive Schreiben über diese Dinge eine Umsetzung in eine Handlung vielleicht verhindert.

Kennen Sie die Filme von David Hamilton ("Bilitis", "Zärtliche Cousinen") ? Er hat junge, mädchenhafte Frauen in seinen Bildern und Filmen versucht zu idealisieren. Später kam heraus, dass er eine 13 Jährige vergewaltigt hatte.  

Zuletzt noch einmal meine Bitte um Nachweise/Erfahrungsberichte von Frauen die entsprechende Erfahrungen in ihrer Mädchenzeit hatten und die diese Erfahrungen eher in Ihrem Sinne deuten. Das kann ja zudem eine Möglichkeit sein, den Vorwürfen/Verdächtigungen zum einen etwas den Wind aus den Segeln zu nehmen und zum anderen werden Ihre eher idealistischen Darstellungen mit "konkretem Leben" unterfüttert.

Meine Antwort

Die folgenden Zwischenüberschriften sind eingefügt.

Ich antwortete ihm:

Sehr geehrter Herr X,

vielen Dank für Ihre Gedanken. Gerne gehe ich darauf ein.

Von der Läuterung der Seele

Der Hinweis auf den eigenen inneren Seelenweg ist mir schon aus unserem früheren Mailwechsel bekannt. Allerdings ist mir auch bekannt, dass Sie den ganzen saloppen Humor und auch Spott [...] früher mitgemacht haben. Und ebenso haben sie schon vor über vier Jahren eine kleine, fast meditative Geschichte von mir in Richtung Missbrauch ,umgedichtet’ und damit absolut nicht verstanden, sondern pervertiert. Später dann haben Sie offenbar das ,Sehnsuchtswesen’ sehr wohl tiefer verstanden, und daran möchte ich anknüpfen.

Ich schrieb in meinem letzten Aufsatz, dass das Wesen des Mädchens die männliche Seele unendlich läutern könne. Das meine ich ernst, und ich bezweifle nach wie vor, dass die rein ,inner-männliche’ Läuterung jemals jene Tiefe erreichen kann wie die durch die Begegnung mit dem Wesen des Mädchens mögliche.

Diese läuternde Wirkung offenbart sich übrigens auch in der Seele eines Jungen. Und wenn Sie behaupten, meine Bücher behandelten auf 10.000 Seiten eine zutiefst ersehnte ,face to face’-Begegnung – was soll eigentlich dieser seelenlose Anglizismus? – ,älterer Herren’ (denn es sind immer andere) mit einem Mädchen, so verkennen Sie, dass der größte Teil gar nicht von älteren Männern handelt, sondern von Jungen oder sehr jungen Männern – oder auch nur vom Mädchen oder vom Geheimnis der Seele überhaupt.

Mit ihrer Deutung haben Sie selbst die Frage völlig vereinseitigt und umgewendet (per-vertiert) – und fokussieren auf jene Gestalten, die von einem Mädchen berührt sind, fokussieren darüber wieder auf das vermeintliche Alter Ego – und schon ist die zentrale Gestalt meiner Bücher, eben das Mädchen, ganz aus dem Blick geraten. Warum? Weil es Sie nicht sonderlich berührt. Sie erkennen im Mädchen nichts – oder aber behaupten, das alles könne und solle man in der eigenen Seele suchen und fertig.

Dieser Standpunkt ist legitim. Nur, warum gehen diesen Weg so Wenige? Oder wenn sie ihn gehen – warum bleiben so viele irgendwo stehen und stecken? Sie wissen doch selbst, dass auch spirituelle Wege den Selbstbezug nur ganz, ganz schwer auflösen können, weil man sein Selbst eben doch immer mitschleppt. Man kann dann stolz auf seinen spirituellen Weg sein, sich schon weit wähnen, sich wohlfühlen etc. etc. Aber wo wird man wirklich liebefähiger? Wo hört man wirklich auf zu urteilen? Wo versteht man den Mitmenschen wirklich tiefer – anstatt ihn nach wie vor nur zu deuten? Wie weit sind wir von einer Liebe (und Sehnsucht) entfernt, die am liebsten von heute auf morgen alles anders machen würde, damit die Welt endlich menschlich wird – bis in die Begegnungen hinein, bis in alle Strukturen hinein?

Meine Bücher zielen überhaupt nicht auf ein ,bemüht herbeigesehntes äußeres Ereignis’ – selbstverständlich kann man sie in dieser Weise missverstehen. Es wundert mich allerdings, dass man weder Krimiautoren noch Schreiber von Fantasy-, Action- oder anderen Romanen in dieser Weise missversteht. Ich sehne nur eines herbei: Dass Menschen beginnen, an einem Punkt einmal in eine solche Handlung einzutauchen und einem dieser Mädchen wirklich einmal zu begegnen – anstatt nur fruchtlos, fort und fort, den Autor zu deuten. Es ist natürlich auch die Krankheit unserer Zeit – immer gleich die naheliegende Deutung zu haben und sich im übrigen zurückzulehnen und sich nicht einzulassen.

Ich schrieb es ja schon in meinem letzten Text, dass ich das auch könnte. Auch ich könnte mir meine Inhaltsangaben, Leseproben, Aufsätze von außen anschauen, sie lesen – und zu dem Urteil kommen: ,Du meine Güte, da ist aber jemand hoffnungslos auf dem falschen Dampfer... Ein bemitleidenswerter Typ, echt...’ Es ist nichts leichter als das, wirklich!

Begegnung mit dem Wesen

Ich verlange von niemandem, dass er das Wesen des Mädchens versteht. Nur wird jeder, der es nicht einmal versucht, zu den gleichen Fehlschlüssen kommen wie Sie – und das Ganze allzu sehr auf die äußerliche Ebene ziehen – oder aber ganz als Aufgabe in die eigene Seele verlagern, ganz im Sinne der spirituellen Selbsterziehung nicht nur der Anthroposophie, sondern auch anderer Richtungen. Aber das Mädchen, das Wesen des Mädchens, kann die Seele noch etwas anderes lehren als nur ,Unschuld/Reinheit/Zärtlichkeit’, wie Sie es sehr wohl auch ganz richtig benennen. Es geht aber noch darüber hinaus – und gerade das ist eben das Mysterium: dass man es nicht vermag, mit einigen schnellen Begriffen das Wesen des Mädchens zu erfassen und schon erfasst zu haben. Das wäre bequem und vielleicht auch beruhigend (um so schneller kann man sich wieder dem ,eigenen Weg’ widmen) – aber so ist es nicht.

Und gegen all diese vorschnellen Deutungen muss ich geradezu paradox argumentieren. Wer mir nämlich vorwirft, ich beschwöre auf tausenden von Seiten eine äußere Begegnung, den muss ich darauf verweisen, dass es um fiktive Geschehnisse geht, die vom Leser miterlebt werden sollen – so innerlich beteiligt, als wären sie real, aber dieses geheimnisvolle Geschehen ist etwas völlig anderes. Es geht um das Mitleben mit den Figuren. Dabei kann etwas geschehen, was niemals geschieht, wenn man bequem auf seinem Deuter-Sitz verbleibt oder ein solches Buch nicht einmal in die Hand nimmt. Nehmen Sie einmal wirklichen Anteil an den Figuren – und es wird etwas geschehen, was Sie verändern wird. Darum geht es, und um nichts anderes.

Interpretieren kann ich mich selbst. Ich kann auch die ganze Deutung niedersausen lassen, die andere parat haben. War das jemals eine Kunst? Wieso interpretiert man nicht die Lerche, die in den Himmel aufsteigt, und sagt: ,Du meine Güte, kann sie nicht einmal aufhören, derart ,bemüht’ den Himmel herbeizusehnen? Soll sie doch im Sand sitzenbleiben und den Himmel in sich selbst finden...’ Aber vielleicht tut auch die Lerche etwas ganz anderes?

Und die andere Seite der notwendigen paradoxen Argumentation ist, dass ich das Mädchen ebenso wenig in eine völlig transzendentale Welt versetzt wissen will, wo man es ebenso bequem ,entsorgen’ kann, weil der eigene spirituelle Weg ja viel zielführender ist. Das Mädchen kann eben beides sein – eine Art ,Himmelskönigin’, aber auch ein berührend irdisches Wesen. Und in meinen Romanen ist es eben gerade beides. Es ist selbstverständlich ein irdisches Wesen, auch irdisch berührend, aber es sind Romane, und das bedeutet, das Reich, in dem sie sich abspielen, ist die miterlebende Seele. Die Seele kann auf verschiedensten Ebenen berührt werden, und jedes Berührtwerden ist ein Verstehen. Wird man weniger berührt, versteht man weniger. Und wenn man es alles schnell auf eine allgemein-menschliche Ebene hebt, versteht man nahezu gar nichts. Denn, sehr richtig, dafür bräuchte es keinerlei ,Mädchen-Bücher’, oder vielleicht eines und ,gut wär’s’.

Wie dem auch sei, das Mädchen behütet ein Geheimnis, und ich kann nicht verhindern, dass man es nur umso mehr verschüttet, je mehr man meine Bücher in eine ganz bestimmte Richtung deutet, nur weil man in dem Mädchen nichts anderes sieht als das, was man auch woanders finden kann, nämlich in der eigenen Seele.

Und wiederum paradox, eine weitere paradoxe Wendung – glauben Sie wirklich, ich hätte auch nur eines dieser Bücher schreiben können, wenn ich nicht die ganze Zeit (meines Lebens) auch innerlich gegangen wäre? Meine Bücher sind eben keine ,Suche im Außen’, wie Sie behaupten. Sie verlegen etwas in eine fiktive äußere Handlung, die aber stets innen bleibt, weil der Leser sie innen mitvollzieht und miterlebt – und so ist es kein ,Suchen im Außen’, sondern ein ,Arbeiten nach innen’, in jeder Hinsicht. Mit jedem Satz, den der Leser nicht unbeteiligt liest wie irgendeinen beliebigen, belanglosen Roman, sondern Anteil nehmend mit allen Kräften seiner Seele, die er bereits hat, geht er auch selbst nach innen ... und auf Wegen, die nun nicht er wählt, sondern der Roman selbst, die Handlung, die handelnden Figuren. Er kann nur folgen, und soll es auch, denn sonst hat ein Buch keinen Sinn. Was sich aber wirklich ergibt, kann nur die Seele empfinden, die den Weg mitgegangen ist. Alle anderen können reden, aber wissen gar nichts.

Vom Ich-Sinn und vom Eros

Ich glaube, bei vielen Menschen verkümmert der Ich-Sinn, der wirkliche, zutiefst wirkliche Sinn für die andere Individualität. Inzwischen ist jeder ein Meister der Argumentation, aber immer mehr bewegen wir uns nur noch in Allgemeinheiten. Rudolf Steiner sprach einmal davon, dass die wirkliche Durchchristung von Idealen bedeuten würde, dass sie wirklich gleichsam ,Fleisch und Blut’ annehmen, statt blasse Abstrakta zu bleiben, so feurig man sie scheinbar auch wahrnimmt, welcher Strömung man auch angehört. Aber sind sie wirklich zutiefst individuell geworden? In welcher Seele sind sie das? Wo? Wo wirklich?

Ein Ideal liebt man noch nicht wahrhaft, wenn man gleichzeitig damit verbunden das eigene Rechthaben liebt. Im Grunde liebt man es erst wirklich, wenn man es wie ein Verliebter liebt. Die Mystiker kennen diese Erfahrung ja auch. Um das Rechthaben geht es dann nicht mehr, sondern nur noch um die Hingabe. Und ich glaube, man kann nichts wahrhaft erkennen, was man nicht auf diese Weise liebt. Wenn Sie also erkennen wollen, was das Mädchen wirklich hütet, müssten Sie lernen, es zu lieben. Das brauchen Sie nicht, aber Sie sollten mir nicht vorwerfen, dass ich es tue.

Aber es geht nicht um eine bloße Idee – so wie auch ein bloßes Ideal ,blutleer’ und damit nicht durchchristet wäre. Es hätte noch keineswegs die heilige Tiefe, um die es geht, wenn die Erde und die Menschenwesen ihr Ziel erreichen sollen. Ich glaube, wir haben noch nicht ansatzweise verstanden, wie tief eine wirkliche Ich-Begegnung gehen würde – ein Mysterium, das mit der Berührung bei der Kommunion angedeutet ist, aber auch bei den Worten des Christus an den zweifelnden Thomas. Und ich glaube, dass wir diese Tiefe nie finden werden, wenn wir allzu körperbezogen bleiben – aber auch nie, wenn wir allzu ausschließlich in das Rein-Geistige gehen. Bereits heute allein die heilige Muttergottes verehren, das Wesen Buddhas meditieren oder anderes. Das ist sehr wesentlich, um uns vom Körperlichen und Allzu-Körperlichen loszureißen, aber auf andere Weise sollen wir wieder in das Leibliche hineinkommen, denn das Christusgeheimnis hat auch mit dem Leib zu tun, mit dem allertiefsten Geheimnis des Leibes, das geistig-physisch ist.

In einer heiligen Form hat auch das Geheimnis des Eros eine Erkenntnisqualität – und führt in einen Erkenntnis-Bereich hinein, der sonst nie betreten würde. Dieser Bereich hat mit dem Ätherischen zu tun, und zwar sehr konkret. Aber hier liegt auch ein Zugang zum Ich-Geheimnis, zur wirklichen, heiligen Begegnung. Dieser Eros ist eine Form der Liebe – und zugleich ein Schlüssel zu ihr, zum Geheimnis der Liebe überhaupt. Oder auch umgekehrt: Die Liebe zieht einfach keine kategorische Grenze zum Eros.

Das ist es, was ich angedeutet habe in meinem ,Weihnachts-Aufsatz’. Das historische Christentum hat Leib und Seele auseinandergerissen – und das hatte sein Gutes und sein Fatales. Die Seele wurde auf sich selbst verwiesen, aber sie lernte, das Leibliche zu verachten. Später, als man auch noch die Religion selbst fallen ließ, erhob sich der bloße ,Geist’ (Intellekt) über alles und erklärte sich zum Alleinherrscher – nur, dass in der auf diese Weise seelen- und ehrfurchtslos gemachten Welt Hochmut und Selbstbezug nur um so freier wüten konnten. Und wir haben heute keinen heiligen Bezug zum Leib – entweder, wir vernachlässigen ihn völlig, weil wir fast nur im Kopf leben, oder wir zelebrieren ihn von vorne bis hinten mit Fitness-Studio und anderem mehr. Und selbstverständlich haben wir auch kein heiliges Verhältnis zum Leib und zum Wesen unseres Nächsten. Im Grunde müsste man das ganze demütigende neoliberale System des Gottes Mammon ändern, wenn dies je anders werden soll.

Die Frage nach dem Hymen der Gottesmutter

Die Muttergottes kann die Ehrfurcht vor dem Leib und eine zutiefst heilige Liebe zum Geheimnis des Leibes nicht lehren – denn zu ihr wendet man sich gerade leibfrei. Irgendwo kommt es bei ihr natürlich auch auf das Geheimnis des Leibes an – und doch ist es so, als sei er gar nicht beteiligt gewesen, das habe ich ja angedeutet. Die Kirche hat jeden Hinweis darauf abgeschafft, dass es so gewesen sein könnte. Marias Leib interessiert nicht, darf und soll nicht interessieren, wie durch ein Wunder war er – schlicht wie nicht anwesend. Sofern wir ,gute Christen’ sind, haben wir diese Gedanken absolut verinnerlicht. Nur deswegen können Sie unmittelbar fragen, in einem völlig überzeugten eigenen Urteil, ob ich nicht auch das ,Würdelose’ darin sähe, wenn ich die Frage nach dem Jungfernhäutchen auch nur thematisiere. Nein – daran darf nicht gerührt werden. Es war bei der Muttergottes einfach stets unverletzt – die Geburt war wahrscheinlich genauso geistig wie die Empfängnis, und allein danach zu fragen, ist ... würdelos.

Ich frage mich, wie sehr wir den Leib heiligen und lieben, wenn wir alles, was die real existierende Kirche irgendwann behauptet hat, ohne jeden eigenen Gedanken einfach nur hinnehmen. Sehen, ahnen Sie nicht, dass auch dies würdelos im tiefsten Sinne sein könnte? Dass unsere heilige Würde gerade darin besteht, die Mysterien nie abschließend durch irgendeine Instanz als geklärt anzusehen – bloß weil sie einmal als Dogma verkündet wurden?

Für mich wäre es würdelos, nach dem Hymen der Muttergottes nicht zu fragen, nach allem, was dies alles angerichtet hat. Sie wissen es ja selbst: In der Gestalt Marias wurde das Weibliche erhöht und geheiligt, zugleich aber auch zur Asexualität verdammt – und jede Frau, die sexueller war, als der Mann es wollte, konnte verachtet werden. Man machte die Frauen zu Heiligen oder Huren. Und wer nicht so demütig und selbstlos war wie Maria, war es eben auch nicht wert, gut behandelt zu werden – denn das Haupt der Frau war und blieb nun einmal der Mann. Die Marienverehrung war ein Surrogat und Substitut, ein Sediermittel gegen die Befreiung der Frau – und auch ein bequemes Kampfmittel gegen die Frauenverehrung des Minnesang, denn soweit wollte die Kirche niemals gehen... Dass man irdische Frauen verehrt und zutiefst geachtet hätte!

Auch für mich hat die Marienverehrung eine tiefe Bedeutung – aber ich möchte nicht die Augen vor der anderen Seite verschließen. Und deswegen hat die Frage nach dem Jungfernhäutchen der Gottesmutter eine sehr tiefe Bedeutung. Und es geht ja noch weiter: Sämtliche anderen Frauen wurden in den Schmutz getreten, wenn man herausfand, dass ihr Hymen, anders als (angeblich) das der Gottesmutter eben verletzt war – obwohl ihr vorbestimmter Herrscher annahm, dass erst er es tun würde. Man kann sagen, eine Frau war nicht mehr wert als ihr kleines Häutchen – war es verletzt, war auch die Würde der Frau dahin. So war es doch wirklich! Können Sie nicht sehen, ahnen, wie sehr dies durch das Dogma der Gottesmutter gestützt wurde, in jeder Hinsicht? War es vorher schon ein patriarchales Machtinstrument, so wurde es nun regelrecht in höchste Höhen verabsolutiert, als ein Mysterium, an dem niemand zu rütteln habe.

Sehen Sie nicht, wie würdelos jahrhundertelang mit den Frauen umgegangen wurde – um dieses Häutchens willen? Wie sehr sie auf dieses Eine reduziert wurden? Es ist, wie wenn Generationen von Männern, die Maria verehrten, den Frauen gesagt hätten, die sie in Schimpf und Schande traten: ,Siehst du? Hättest du es gemacht wie Maria und es ebenso bewahrt, du würdest noch immer in Achtung stehen – aber du hast es nicht verdient...’ Was hat wohl die Muttergottes all diese Jahrhunderte darüber gedacht und empfunden? Dass man ihre Geschlechtsgenossinnen so würdelos behandelte...? Indem man von ihrem Hymen etwas behauptete, was gar nicht sein kann!

Nein – der Leib der Frau wurde nicht geachtet, weder der Leib noch der ganze Rest. Und auch heute haben wir keinen Sinn für das Mysterium des Leibes – denn wir leben immer mehr ganz im Kopf. Und die Bedürfnisse in Bezug auf das Leibliche wuchern in unserer materialistischen Kultur dennoch vor sich hin. Gerade haben wir eine irrsinnige ,Pandemie-Situation’, weil es ja um jeden Preis gilt, ,Leben zu retten’. Um die seelischen Realitäten kümmert sich niemand – hier ereignen sich schlicht stille Katastrophen. Millionen Menschen, deren Existenz vernichtet wird und längst ist, psychische Probleme, ich mag mir die Folgen und ihr Offenbarwerden gar nicht ausmalen, sie werden noch furchtbar sein. Aber alles, weil wir das pure Leibesleben verabsolutiert haben und die übrigen Maßstäbe viel zu sehr verloren. Also Leib und Intellekt – und die Seele wird zerrieben, verkümmert, in unserer ganzen Kultur, zwischen Fernsehprogramm, Ich-Optimierung und fortwährend sich verdichtender, neodarwinistischer Leistungsgesellschaft.

Von der Liebe zu einem Mädchen

Glauben Sie wirklich, dass es belanglos wäre, wenn in einer solchen Kultur einzelne Seelen gerade durch die Liebe zu einem Mädchen tiefgreifend geläutert werden würden? Glauben Sie wirklich, die Liebe zu einem Mädchen könne einen nichts lehren, was man nicht auch auf andere Weise gewinnen könnte? Ich glaube, dann haben Sie das Mysterium des Mädchens noch immer nicht verstanden.

Ja, ich beschreibe in einigen Romanen Begegnungen zwischen einem Mädchen und einem Mann – zutiefst individuelle Begegnungen, man könnte sagen, schicksalshafte Begegnungen, wenn man diesen Begriff nicht beliebig missbrauchen könnte. Ich finde es jedoch zutiefst billig, meine Romane als ,Handlungsanweisungen’ für auch nur irgendetwas zu missdeuten. Allenfalls sind sie Anweisungen, gelesen zu werden – um überhaupt zu begreifen, was eigentlich ein Mädchen ist ... und zugleich zu begreifen, wo überall man darin versagt, einem solchen Mädchen überhaupt begegnen zu dürfen. Diese Bücher sollen heilige Elemente eines Berührtwerdens sein – nichts anderes. Jeder glaubt, zu wissen, was ein Mädchen ist – aber keiner weiß es!

Alle wissen nur, dass man kein Mädchen missbrauchen darf – welche triviale Wahrheit! Und wie traurig, dass selbst das immer wieder nicht erkannt oder berücksichtigt wird. Und warum nicht? Weil man nicht empfindet, was ein Mädchen ist. Jeder Übergriff, jeder Missbrauch geht auf einen Mangel an Empfindungsfähigkeit zurück. Daran wollen meine Bücher etwas ändern! An dem Mangel an Empfindungsfähigkeit – den die moderne Seele aber durchgehend hat, ob sie ihn wahrnimmt oder nicht. Die Begegnung mit dem Mädchen heilt diesen Mangel – und man sollte diese Begegnung tunlichst auf der fiktiven Ebene halten. Dafür sind meine Bücher da – denn sie geben diese Begegnung.

Aber nun noch einmal zurück zur wirklichen Begegnung mit einem Mädchen – denn in den Romanen sind diese Begegnungen ja wirklich. Glauben Sie wirklich, dass in einer Schicksalsbegegnung, also einer wirklichen Begegnung, es immer nur der Mann wäre, der sich diese Begegnung wünscht? Mögen sie noch so selten sein – es ist eine zweifellose Wahrheit, dass auch das Mädchen in einer solchen Begegnung glücklich sein kann. Und auch, dass diese dann nicht unbedingt platonisch bleiben muss, auf keiner Seite. Oder meinen Sie wirklich, dass ein vierzehnjähriges Mädchen ,keusch wie ein Sonnenstrahl’ ist – und ein, zwei Jahre später aus ganz heiterem Himmel plötzlich nicht mehr?

Sie wissen selbst sehr gut, dass Mädchen mit Jungen alles Mögliche machen – und dass nur ein Tabu es verhindert, dass Sie es auch mit Männern machen, weil das Tabu natürlich zunächst vor allem die Mädchen vor allen möglichen Männern schützt. Das ist sehr notwendig, aber ich habe im letzten Aufsatz die Frage aufgeworfen, warum dies so ist. Denn offenbar braucht man für die Begegnung mit einem Mädchen eine ganz andere Seelenqualität als für die mit einem erwachsenen Gegenüber. Diese Qualität haben die meisten Menschen nicht – selbst wenn sie es glauben. Und sie haben sie auch deshalb nicht, weil unsere Kultur eine solche ist, wie sie es ist – durch und durch materiell, das Seelische völlig vernachlässigend. Hinzu kommt, dass das Tabu das (falsche) Interesse an Mädchen geradezu nährt, so wie jedes Tabu die Anziehung vergrößert. Dem Paradox, dass man das, was man schützen will, erst recht erotisiert, kann man nicht entgehen – es ist eine Tatsache und macht das Problem nicht besser.

Ebenso wenig wird das Problem aus der Welt geschafft, indem man behauptet, Mädchen wären Kinder, bis sie erwachsen seien. Man scheint den Begriff der Jugend gerade an diesem Punkt ausrotten zu wollen – und zu behaupten, Mädchen müssten nicht nur geschützt werden, bis sie erwachsen seien, sondern seien unfähig zu einer Beziehung mit einem Menschen, der bereits erwachsen ist. Aber vielleicht sind die Mädchen sogar fähiger als diese meisten Erwachsenen, wenn sie sich aus irgendwelchen, nur allzu naheliegenden Gründen an Mädchen heranmachen. Mädchen sind durchaus fähig zu einer Liebesbeziehung, in jeder Hinsicht – nicht aber der erwachsene Mann, weil seine Seele gar nicht reif genug dafür ist, ein Mädchen zu lieben. Denn dafür müsste er es erst einmal lieben – und nicht nur begehren.

Dankte, Rilke, der Mann und das Mädchen

Sie erwähnen Dante, der seine Beatrice in einen unerreichbaren Himmel versetzt hat. Aber Sie wollen dies hoffentlich nicht zum Maßstab für alle machen? Selbst die Minnesänger waren ,irdischer’ als Dante. Aber – auch Beatrice war ein Mädchen, als Dante das erste Mal von ihr erschüttert wurde, denn sie war erst acht, und Dante war neun. Und Rilke... Nun, Rilke mag Beziehungen zu erwachsenen Frauen gesucht haben, aber in Wirklichkeit war er wenig beziehungsfähig ... er kultivierte seine Einsamkeit und forderte sie auch ein. Ich hoffe, Sie wollen auch Rilke nicht zum allgemeinen Maßstab machen. Was ist übrigens, wenn gerade ein Mädchen einen Mann begegnungsfähig machen würde, weil er viel empfindsamer sein muss als jemals sonst?

Ich komme immer wieder auf das Motiv der Läuterung – und spreche aber auch immer wieder von Schicksalsbegegnungen, die sich einfach ereignen, anders macht es ja gar keinen Sinn. Entweder ein Mann ist von einem Mädchen berührt, ohne es verhindern zu können – oder er begehrt es einfach nur. Im letzteren Fall darf er sich ihr gar nicht nähern, aber auch im ersteren Fall sollte er sich zutiefst fragen, ob er sich ihr überhaupt nähern kann, ohne ihr zu nahe zu treten. Was ich sagen will, ist: Wenn man wirklich auch nur ansatzweise spürt, was ein Mädchen ist, spürt man die Grenze selbst. Sie werden das auch in meinen entsprechenden Romanen immer wieder finden. Und andererseits ist es gerade das Mädchen, das diese Grenze dann aufheben kann – gerade dadurch zeichnen sich gegenseitige, echte Begegnungen aus, und wenn das Mädchen sie aufheben will, ist es eine Schicksalsbegegnung. Wollen Sie das bestreiten?

Natürlich kann ein Mädchen auch ahnungslos sein und nicht begreifen, dass es ausgenutzt wird – sogar der Mann kann dafür partiell blind sein. Aber von solchen Begegnungen schreibe ich nun einmal nicht. Ich schreibe von Begegnungen, die sich durch zwei Elemente zutiefst auszeichnen: Durch Liebe und durch tiefe Behutsamkeit. Und zwar letztlich auf beiden Seiten, vor allem aber auf Seiten des Mannes. Hinzu kommt, dass die von mir geschilderten Männer sich selbst tiefer hinterfragen, als es kaum jemand sonst tun würde. Hinzu kommt drittens, dass diese Mädchen tatsächlich auf die Männer zugehen, weil es Schicksalsbegegnungen sind. Und ich frage: Wer ist es, der eine solche Begegnung dann noch verurteilen wollte – und mit welchem Recht? Gegen das Urteil des Mädchens? Wie sehr wollen Sie ein solches Mädchen noch infantilisieren?

Und jetzt komme ich zu Ihrem letztlich doch ständig auf Missbrauch zielenden Subtext. Denn auch dieser kommt am Ende auf den Punkt: Da wo Sie mich fragen, ob ich an der Stelle vom ,Mysterium des Geschlechts’ nicht mehr oder weniger unverblümt schreiben würde, dass ich mir eine sexuelle Handlung mit einer Minderjährigen vorstellen könnte.

Wiederum verkennen Sie, dass es nicht darum geht, sondern um die Frage des Eros zwischen einem Mann und einem Mädchen überhaupt. Sobald dieser Eros wirkt, und sei er noch so zart, kann sich jeder der Beteiligten eine Handlung vorstellen, die mit diesem Eros zu tun hat – und das Sexuelle gehört dazu, auch dieses hat mit Eros zu tun. Was dann geschieht, wenn sich Mädchen und Mann im Zustand des zärtlichen Eros diesem Eros überlassen – das entscheiden nur die beiden. Wobei der Mann, wenn er das Mädchen wirklich liebt, wovon ich hier stets und immer ausgehe, die Grenzen des Mädchens so fein achtet wie eine Daunenfeder. Er würde es selbst dann merken, wenn das Mädchen aus Liebe über die eigenen Grenzen hinausginge – der Mann würde es merken und die Grenzen des Mädchens selbst schützen.

Das ist meine Antwort auf Ihre Fragen, die fortwährend auf bewussten oder unbewussten Missbrauch zielen. Ich weiß, dass meine Antworten ihnen allzu idealistisch vorkommen – aber Ihre Fragen kommen mir allzu irdisch vor. Noch einmal: Im Empfinden des Eros kann sich jeder Beteiligte zärtliche Handlungen vorstellen, die dem Reich des Eros angehören. Und was das Sexuelle angeht, so ist bei uns jedes vierzehnjährige Mädchen zu allem berechtigt. Wir leben nicht in Amerika, wo eine ,Minderjährige’ oft noch mit siebzehn den wenige Jahre älteren Geliebten ins Gefängnis bringen kann, weil sie mit ihm allzu zärtlich sein wollte.

Hamilton, die ,Experten’ und das absolute Gegenteil

Ich frage mich, was Sie mit dem Hinweis auf Hamilton sagen wollten – dass er notwendigerweise zum Vergewaltiger werden musste? Ich hoffe doch wohl nicht! In Hamilton lebte ein seltsamer Widerspruch: Einerseits diese sehr ätherischen Bilder und andererseits mehr in seinem Wesen eine Lüsternheit, die nichts von Verehrung hatte – und auch nichts von einer heiligen Selbsterziehung der Seele, sei es durch eigene Bemühungen, sei es durch das Wesen der Mädchen. Bei ihm wirkte letztlich eine traurige Tragik – wie bei jedem Missbrauchstäter. Ich schrieb ja, dass in Bezug auf die Gestalt des Mädchens Licht und Dunkel besonders intensiv sind. Sie aber beziehen sich immer wieder auf das Dunkle.

Ich werde Ihnen keine ,Nachweise/Erfahrungsberichte’ von Frauen nennen – vielleicht wird es im Laufe der Zeit Frauen geben, die davon erzählen werden. Ich weiß selbst, dass sie selten sind, weil die Männer selten sind, die den Frauen solche Erfahrungen hätten schenken können. Wäre es nicht so, gäbe es solche Bücher ja zuhauf, sofern es Frauen in der heutigen Stimmung überhaupt wagen würden, davon zu berichten – denn sie würden ja auch von ihresgleichen gesteinigt, oder meinen Sie nicht? Meine Bücher wollen aber eben etwas daran ändern, dass diese Männer so selten sind. Und dies auch wieder nicht in dem Sinne, den Sie sogleich vermuten würden, weil Sie dies schon die ganze Zeit tun. Denn wer meine Bücher liest, begegnet ja den Mädchen bereits – und muss das nicht in der Wirklichkeit. Vielmehr wird er erkennen, wie sehr er sich noch verwandeln muss, damit dies auch nur denkbar wäre. Meine Bücher zeigen also nicht, wie ,erstrebenswert’ es wäre, einem Mädchen zu begegnen, sondern wie unmöglich. Aber das begreift leider nur der, der aufrichtig genug liest.

Abgesehen davon werden auch die Mädchen meiner Romane für die meisten Männer, die Mädchen begehren, schlicht uninteressant sein – ganz abgesehen davon, dass sie im Grunde gar nicht mehr existieren, weil sie auch für die existierenden Mädchen selbst uninteressant sind. Und mein neuester Roman zeigt, dass schon unsere ganze Kultur, etwa das Schulsystem, dazu führt, dass sie gar nicht mehr existieren können, buchstäblich. Es beginnt also schon damit, dass ich gar keine realen Mädchen schildere. Und doch sind realere Mädchen kaum denkbar. Sie offenbaren etwas, was wir alle verlieren. Im Grunde werfen Sie mir vor, dass ich solche Romane schreibe, aber Sie sehen gar nicht, wovon ich wirklich schreibe.

Es gibt so unendlich viele Aspekte, die alle immer wieder dahin führen, dass Ihre Deutungen absolut in die Irre gehen. Sie können Ihren Freund gerne grüßen. Ich weiß selbst, dass unter der ,Missbrauchs’-Brille meine Seite irritieren muss – weil man gar nicht mehr fähig ist, das Berührende des Wesens ,Mädchen’ zu sehen, man sieht immer nur das potenzielle Missbrauchsopfer, und das ist alles. So verhindern sowohl der Missbrauch als auch seine Bekämpfung, die Wahrheit sehen zu können. Es ist wie mit der Pandemie – man ist nur noch in der Panikstimmung, und es wird immer absurder. So absurd wie die Meinung Ihres angeblichen ,Experten’ – der meint, dass ,es gut sein kann, dass das exzessive Schreiben über diese Dinge eine Umsetzung in eine Handlung vielleicht verhindert’.

Welche Handlung meinen Sie? Sagen Sie es ganz ehrlich! Einen Übergriff? Oder aber eine ,Handlung’ wie jene in einigen meiner Romane, wo sich eben tatsächlich ein Mann und ein Mädchen begegnen? Ja, meinen Sie das? Muss man das also heute schon verhindern? Dass sich ein Mann und ein Mädchen überhaupt begegnen – und vielleicht lieben, gegenseitig? Oder was meinen Sie?

Hat vielleicht Rudolf Steiner so ,exzessiv’ über das Geistige in der Welt geschrieben, um sein ,Übergriffigwerden’ in Bezug auf diese Welt zu verhindern? Perverser kann man nicht deuten, ohne einen Plan B in der Tasche – oder hätte Ihr Freund noch eine alternative Deutung? Vielleicht dass ich das Wesen des Mädchens und das Wesen von Begegnung über alles liebe – und deswegen von beidem schreibe, damit beides auch von anderen tiefer begriffen, erlebt und erkannt werden kann, als es fast immer der Fall ist?

Herzliche Grüße,
Holger Niederhausen