01.04.2021

Der Visionär Beuys und der ewige Denunziant

Eine Antwort an alle, die es sich sehr, sehr einfach machen.


Inhalt
Beuys als Ikone – oder worum geht es?
Wie man Beuys einen Satz lang erkennt – und dennoch kaputtschreibt
Wyss und der Hitlerjunge – wer ist hier eigentlich auf Droge?
Die Achtundsechziger = Hitlerjugend 2.0 !?
Perfide Versuche der ,Bräunung’
Verworrener Unsinn pur
Der Zukunftsimpuls der Dreigliederung
Das lebendige Denken und der MENSCH


Beuys als Ikone – oder worum geht es?

Im Jahr seines hundertsten Geburtstages ist Beuys in aller Munde – und meist redet man über ihn, schließt den Text ab und das war es. Wir leben in einer ,Informationsgesellschaft’, und das heißt oft immer mehr nur noch ,Datenverarbeitung’. Als Zeitungsmedium etwa muss man die Spalten voll bekommen, auch am nächsten Tag wieder, und Leser halten – irgendwo zwischen Polarisieren und Anpassung.

Um die wirklichen Inhalte geht es kaum, allenfalls um Fakten, um Urteile, um Meinungsmache, aber nie um das Eigentliche. Die eigentlichen Fragen hat diese Gesellschaft vielfach schon abgeschrieben – zu gefährlich.

Daran muss ich denken, wenn ich all die Artikel zu Beuys lese, die selten einmal über Beuys geschrieben sind, eher immer nur über die Sicht auf Beuys, und das ist fast immer nur die Sicht des aufgeklärten Intellekts, ja des aufgeklärten Mit-dem-Strom-Schwimmers, der sich geschickt ein paar Puzzleteile zusammenstückelt und dann meint, er könne etwas schreiben.

Die Tragik eines Künstlers ist es zunächst, nicht nur ,ikonisiert’ zu werden, sondern nach seinem Tod auch ,inventarisiert’ zu werden – er wird selbst als etwas Totes behandelt, wie sehr man ihn auch ,feiert’. So heißt es im Berliner ,Tagesspiegel’:[1]

Beuys gehört zu Düsseldorf wie das Altbier und der Rhein, 35 Jahre nach seinem Tod ist der Übervater der Kunst zur Folklore geworden.

Dieser Artikel ist im Übrigen jedoch sehr gehaltvoll – so zitiert er Beuys eben auch selbst, der 1985 im Jahr vor seinem Tod sagte:[1]

Wenn ich vom erweiterten Kunstbegriff rede und sage, jeder ist ein Künstler, stelle ich ganz klar in Rechnung, daß dieses eines der wichtigsten Gestaltungsmomente der Menschen ist – aus der Freiheit, also aus der Kreativität, aus der Schöpferkraft aller Menschen es zu einer demokratischen Verfassung kommen zu lassen.

Solche Sätze sind bis heute nicht verstanden. Inzwischen zieht man hier Assoziationen zu ,Reichsbürgern’, die aus ganz anderen Gründen die jetzige Verfassung nicht anerkennen – aber bei Beuys geht es um etwas völlig anderes als dumpf-rechte Empörung, man möchte sagen: um das absolute Gegenteil. Und so bringt derselbe Artikel Beuys gerade in Verbindung mit Frieden und einer wahrhaft menschlichen Zukunft:[1]

Für Thich Nhat Hanh, den buddhistischen Mönch, der in den 1960er Jahren Martin Luther King und Papst Paul VI. dazu brachte, sich für das Ende des Vietnamkriegs einzusetzen, dürfte Beuys allerdings ein Begriff sein. Die beiden haben eine Menge gemeinsam: Politik, Kultur, Menschen- und Tierrechte, Leben im Einklang mit der Natur.

Nun wiederum kann man an Schamanismus, Wohlfühl-Esoterik etc. denken – aber auch diese Assoziationen hat Beuys gebrochen, denn kaum jemand hat die Dinge immer wieder so scharf und unerbittlich auch denkerisch in Begriffe gebracht wie er. Beuys ist also weder rechts noch spirituell-schwammig, sondern progressiv und kristallklar. Dass dies nicht immer gesehen wurde, hat ganz andere Gründe – dazu später.

Der Einfluss von Beuys auf sein Jahrhundert ist mit kaum einem anderen Künstler vergleichbar – Beuys hat wirklich Geschichte geschrieben. Allein schon dies ruft Neider auf den Plan. Man täte gut daran, diese unbewusste Tendenz der modernen Seele, alles wieder ,herabzerren’ zu wollen, was die eigene ,Größe’ übersteigt, in Rechnung zu stellen, wenn wieder einmal Kritik ,aufploppt’. Natürlich gibt es auch jene gewissenhaften Historiker, die einfach nur alles dokumentieren wollen, wie es wirklich war – das ist wichtig und legitim. Doch auch darüber sollte man nicht den Blick auf das Wesentliche verlieren, wie der Erbsenzähler, der sein Leben vertat. Und man sollte genau aufmerken, wo es dann doch unvermerkt ideologisch wird – wo Beuys mit dem Holzhammer unschädlich gemacht werden soll…

Wie man Beuys einen Satz lang erkennt – und dennoch kaputtschreibt

Natürlich war es niemand anders als die konservative ,Welt’, die einen besonders negativen Artikel brachte. Da schreibt der Berliner Kunstkritiker Pofalla etwa:[2]

Beuys hatte seine Rolle im NS zeitlebens beschönigt. Er hatte etwa nicht eigenhändig Bücher aus der Nazi-Bücherverbrennung an seiner Schule gerettet, wie er gern behauptete. Er beschäftigte sich zwar mit dem Holocaust, sah Auschwitz aber vor allem als Metapher für das unheilvolle Wirken des Materialismus. Seine
Vergangenheitsbewältigung war eine Mythologisierung, keine Aufarbeitung. [...]
Der ehemalige Bordschütze aus Kleve kandidierte für die frühen Grünen, aber auch auf der Liste einer nationalkonservativen Partei, die AUD. Er redete noch kurz vor seinem Tod von der „Auferstehungskraft“ des deutschen Volkes, eine Auferstehung, die sich „durch radikal erneuerte Grundlagen des Sozialen hindurch ereignen“ würden, ja müssten. […] Alles in seinem Werk dreht sich um Heilung, aber wer wen warum verletzt oder getötet hat, wird nicht thematisiert.
[…] Die Schulen im Dritten Reich, sagte Beuys 1982 zu Schülern aus Kassel, seien weniger stark „zentralisiert
und in der Hand des Staates“ gewesen als in der Gegenwart.

Andererseits schreibt er auch: ,Ein Unangepasster, der berührende, wunderbare und seltsame Kunst schuf und der sich vor keiner Debatte fürchtete.’ Mit anderen Worten: Ein Künstler in jeder Hinsicht – einer, der das, wovon er immer wieder sprach, selbst bis ins Letzte wahrmachte: Kreativität, und zwar aus einem tief menschlichen Impuls heraus, mit einer echten Botschaft, auch wenn sie immer wieder nicht verstanden wurde. Allein um dieses einen Satzes willen muss man Pofalla dankbar sein – dieser Satz enthält eine Essenz. Sollte es nicht das Ziel sein, so ein Mensch zu werden? Wäre man nicht dann erst wahrhaft Individuum, Mensch…? ,Ein Unangepasster, der berührende, wunderbare und seltsame Kunst schuf und der sich vor keiner Debatte fürchtete.’ Das erinnert auch an Nietzsches Zarathustra. Es erinnert aber auch an Jesus. Es erinnert schlichtweg an den MENSCHEN. Und das war Beuys Lebensaufgabe – an den MENSCHEN zu erinnern…

Wie sehr sind wir heute angepasst, wie wenig berührend, wie unkünstlerisch – und wir furchtsam? Vor allem: Wie wenig brennt es in uns, so wie es mit einer heiligen Flamme in Beuys brannte, weil er wirklich etwas zu sagen hatte! Immer wieder wies er auf die radikal zu erneuernden Grundlagen des Sozialen hin – wir aber schließen Krankenhäuser, die in privater Hand zu wenig Profit abwerfen, wir beten noch immer den Kapitalismus und den Mammon an, wir hören nicht auf, der neoliberalen Selbstoptimierung nachzulaufen und besitzen nicht den politischen Mut, hier auch nur einen Hauch zu ändern … aber wir glauben, wir könnten Beuys verstehen!? Welch ein Hochmut…

Und daran scheitert auch Pofalla, der nach diesem einen einzigen wunderschönen, wundersam wahren Satz wieder zurückfällt in sein Einschlagen auf Beuys:[2]

Diese Dialogbereitschaft wiederum könnte heute tatsächlich Vorbild sein. Die erste große Schau von „beuys 2021“ glaubt denn auch fest an sein progressives Potenzial: „Jeder Mensch ist ein Künstler – kosmopolitische Übungen mit Joseph Beuys“ soll diese Woche in der Kunstsammlung NRW in Düsseldorf eröffnen – wenn die Corona-Inzidenz es zulässt.
Ausgerechnet der deutschtümelnde Beuys soll also ein progressiver Kosmopolit gewesen sein. Eine steile These. Eine Phalanx von Künstlern wird aufgeboten, um sie zu belegen. Darunter sind schwarze Bürgerrechtler wie Angela Davis, Edward Snowden, Greta Thunberg und die feministisch-kritischen Künstlerinnen Jenny Holzer und Zoe Leonard. Feminismus und Beuys? Beat Wyss schrieb 2008, Beuys’ Vorstellung von Politik als sozialer Plastik sei „patriarchal bis ins Mark“.

Zu Wyss kommen wir gleich. Zunächst noch einige Sätze, mit denen Beuys dann völlig ,zerlegt’ werden soll:[2]

Was erfährt das Publikum nun über die Ideen, die Beuys so eifrig verbreitete und die maßgeblich vom Anthroposophen Rudolf Steiner stammen, der eine Art erleuchteten Ständestaat schaffen wollte? Kann man 1943 im Sturzkampfbomber losfliegen und dann 2021 mit dem emissionsfreien Solargleiter im Anthropozän ankommen, in der Gegenwartskunst, beim Klimawandel, im feministischen Postkolonialismus? Es ist zu bezweifeln.

So also funktioniert ,Künstlerkritik’ heute. Man nehme Splitter einer Biografie, garniere sie mit seinen gesammelten Vorurteilen, seinem Scheinwissen und seinen Pseudowahrheiten und serviere sie dann mit einer rhetorischen Frage, die man gleich selbst beantwortet, seinem Publikum. Ideologischer geht es nicht. Auch Pofalla sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht – oder will ihn sogar abholzen, um einen Stangenforst zu errichten, der keine Ecken und Kanten mehr hat. Wäre das Gegenwartskunst? Oder feministischer Postkolonialismus? Dass wir einen Künstler entsorgen und ,kaputtschreiben’, weil er sich zum Beispiel von Rudolf Steiner inspiriert fühlte? Von einem Mann also, der die Frauenrechte bereits vertrat, als fast alle anderen sich noch in ihrem dumpfen Patriarchat suhlten?

Wyss und der Hitlerjunge – wer ist hier eigentlich auf Droge?

Beat Wyss schrieb 2008 im Magazin ,Monopol’ einen Beuys-Artikel mit dem Titel ,Der ewige Hitlerjunge’.[3]

Von Anfang an wird in diesem Artikel die Achtundsechziger-Generation diskreditiert:

Mit Adorno gesprochen, geriet den Achtundsechzigern der Protest zur "ästhetischen Formante" eines revolutionären Habitus. Nicht nur die Agitprop, die Protestkultur überhaupt war ein einziges, autonomes Gesamtkunstwerk. Während viele Beteiligte heute ihr damaliges Mitlaufen herunterspielen, schamvoll verstecken oder noch immer lustig finden, hat Beuys als Künstler die Gebärden der siebziger Jahre ästhetisch vollendet ins Museum gebracht.

Um welches ,Mitlaufen’ es wirklich gehen soll, wird kaum artikuliert – nur kurz war zuvor vom ,militanten Auftritt der Studenten’ die Rede. Es entstehen Assoziationen bis hin zum RAF-Terrorismus, der einen noch immer autoritären, kapitalistischen Staat mit seinen Mitteln attackieren wollte. Was dies aber mit den Studenten zu tun hat, erschließt sich nicht, standen die Studenten doch auch auf, um ,den Muff von 1000 Jahren’, der unter den autoritären Talaren der Professoren steckte, endlich loszuwerden – und auch die Generation ihrer Eltern mit dem längst nicht völlig losgewordenen Faschismus zu konfrontieren. Und man vergesse nicht, wie sehr Zeitungen wie die ,BILD’ gegen die Studenten hetzten – bis es zum Attentat auf Rudi Dutschke kam.

Wer also die studentischen Proteste von damals – gegen Autorität, gegen Vietnam, gegen das Schweigen des eigenen Mitlaufens im Faschismus, gegen alles Unmenschliche, Unsoziale und Undemokratische überhaupt – als ,Mitlaufen’ diskreditiert, der könnte auch direkt ein Schreiber des Kaisers sein, der alle Proteste im Keim als ,unzulässig’ niederschlagen will. Schon dieser Einstieg von Wyss ist einfach aberwitzig.

Perfide kommt dann gleich der nächste Schlag:

Wenigen Zeitgenossen war bewusst, dass die Rezeptur in Beuys’ Heilmethode für die Gesellschaft aus blanker Anthroposophie bestand. Der Kontext wurde erst posthum seit den späten achtziger Jahren öffentlich. Beuys unterwanderte die Ideologien der Studentenbewegung mit einer homöopathischen Kur nach den Lehren Rudolf Steiners. Die harmlose Droge mochte viele junge Leute davon abgebracht haben, sich in der harten Droge des Terrorismus zu verlieren.

Das typische demagogische Mittel: Beide Alternativen als fast gleich schlecht hinzustellen. Um die protestierenden Studenten wieder ,einzuhegen’, und sei es im historischen Rückblick, unterstellt man ihnen, sie wären alle Terroristen geworden, wenn sie sich nicht von der anderen Droge hätten einlullen lassen. Anderswo wird die Wirkweise der Homöopathie geleugnet – hier wird sie in Anschlag gebracht, um die Studenten zu diskreditieren. Dass Rudolf Steiner bereits diskreditiert ist, setzt man gleich ganz voraus. Denn sonst könnte die ,Droge’ Anthroposophie ja vielleicht wirklich bewusstseinserweiternd sein! Aber so weitgehend meinte man es natürlich nicht…

Ebenso wenig wird einem bewusst, dass vielleicht gerade der Kapitalismus oder auch der Materialismus eine regelrechte Droge sein könnten, die nichts anderes mehr zulässt als den von ihr geschaffenen Tunnelblick. Was, wenn Beuys wirklich das Heilmittel in der Hand hatte – und nur die Studenten auch selbst auf ihre Weise gemerkt hatten, wie krank die Gesellschaft eigentlich war … und bis heute ist?

Aber weiter Wyss … und nun wird es wirklich abgründig, denn jetzt skizziert er gerade Beuys als Demagogen und fast als einen Schwarzmagier, der sehr gezielt auf das Unterbewusste wirke:

Mit seiner Fantasieuniform tritt der Akademieprofessor in Düsseldorf auf den Plan und trifft in der Hitze der Studentenbewegung auf ein kollektives Unbewusstes, das ihn sofort versteht. Der Künstler als Priester, ein eigentlich veralteter Topos aus dem romantischen 19. Jahrhundert, wurde über die paramilitärische Semantik der Kleidung wieder aktuell. Beuys bestätigte im Interview, das Andreas Quermann zitiert, bewusst diese Rolle angenommen zu haben: "Ich benutze diese Figur, um etwas Zukünftiges auszudrücken, indem ich sage, dass der Schamane für etwas gestanden hat, was in der Lage war, sowohl materielle wie spirituelle Zusammenhänge in eine Einheit zu bekommen."

Und weiter:

Beuys übersetzt, erstens, bewusst Revolutionsrhetorik in autonome Kunst. Sein Aktionismus wirkt als Beruhigungsmittel für die gescheiterte Jugendbewegung von 1968. Zugleich unterzieht sich Beuys, zweitens, unbewusst einer Selbstheilung vom Kriegstrauma in der wiederholenden Mimese. Sein Aktivismus ist das kathartische reenactment eines Hitlerjungen.
Es gehört zu den Gesetzen des Neuen, dass wissenschaftliche Interessen und Haltungen in der übernächsten Generation wiederkehren können. […] Die Achtundsechziger interpretierten ihre eigene Zeit, als lebten sie in der Weimarer Republik, indem sie deren Konflikte und Probleme im Sinne eines mimetischen reenactment neu heraufbeschworen. […] Beuys gelingt die habituelle Verschmelzung von völkischem Wandervogel und Achtundsechziger-Rebell.

Die Achtundsechziger = Hitlerjugend 2.0 !?

Der Gedankengang von Wyss in Kürze ist: In einer Art Uniform-Look traf Beuys das Autoritätsbedürfnis der Studenten, die dem neuen ,Priester’ so begeistert hinterherliefen wie ihre Großeltern dem ,Führer’. Er unterlegt diesen Gedanken mit Hinweisen aus dem Buch ,Flieger, Filz und Vaterland’ von Gieseke und Markert und schreibt weiter:

Im Künstlerhabitus verinnerlichte Beuys Ideen und Symbole, die er als Hitlerjunge eingeimpft bekommen hatte: An erster Stelle stand die antiautoritäre NS-Jugendpolitik, die es darauf anlegte, die Kinder als verwegene Phalanx des Systems und Aufpasser gegen Eltern und Lehrer einzusetzen. Denn die Jugend unter dem Hitler-Regime war bildbarer und kontrollierbarer als die Elterngeneration; indoktriniert von Schulen und Vereinen, kannte sie nichts anderes als die Ideologie des Dritten Reichs. Die Jugend wurde geradezu angehalten, sich gegen die Autorität der alten, liberalen, aber auch religiösen Eliten respektlos, zugleich aber der "Neuordnung" autoritär verpflichtet zu zeigen. Diese Doppelstrategie funktionierte bei den Achtundsechzigern nicht anders: Sie waren aufsässig gegen das "faschistoide Bürgertum", hörig den kommunistischen Ideologien. Sie waren beherrscht von antiautoritärem Autoritarismus. Beuys hat diese Zangenoperation ins Kunstsystem übertragen.

Perfider kann man nicht argumentieren. Die Studenten wären also genauso führer-hörig gewesen, weil sie ja Dutschke, Mao, Beuys und anderen hinterherliefen. Und Beuys habe mit seinem ,Führerkult’ und seinen seltsam revolutionären Gedanken nichts anderes getan, als den einstigen ,Hitlerjungen’ ins Ewige fortzuspinnen.

Solch eine Argumentation ist wirklich schwarze Magie! Denn mit ihrem Tüpfelchen an Wahrheit lullt sie das Denken ein wie das Gift einer schwarzen Witwe. Man ist gebannt von der inneren Logik und sieht nicht mehr den Punkt, wo es absurd wird und sich als völlige Lüge erweist. Denn in Wirklichkeit ist die ganze Argumentation nur ein Sediermittel, ein Narkotikum gegen jede echte Veränderung. Allein schon die Erkenntnis, dass es auch echte Führerfiguren geben kann, eben nicht nur Hitler, sondern auch Martin Luther King, Gandhi, Mandela, den Dalai Lama, Thich Nhat Hanh. Sie alle verstanden sich nicht als Demagogen – und waren es nicht. Aber es waren Führergestalten im allerbesten Sinne – Menschen, an denen sich das Bewusstwerden eines Ideals wieder neu in den Herzen Vieler entzündet.

Und auch Beuys war eine solche Gestalt. Beuys brachte Menschen zum Nachdenken – unzählige Menschen. Er schenkte Menschen Gedanken, die in der Lage waren, das gegenwärtige Gefängnis der viel zu verfestigten Begriffe wieder zu sprengen, zumindest an manchen Stellen. Das war die uneinholbare Leistung von Beuys, seine unglaubliche Bedeutung für diese so bedeutsamen Jahrzehnte des letzten Jahrhunderts – und bis heute, weiterwirkend, längst nicht zu Ende.

Wyss pervertiert diese Wahrheit völlig, weil er sie völlig deckeln will – ebenfalls unbewusst. Über die Motive kann man nur rätseln. Ist es auch bei ihm der Wunsch, einen ganz Großen mit gestürzt zu haben? Ist es unbewusster Hass gegen den Geist, das Spirituelle in seiner ganz konkreten Realität? Oder ist es einfach nur grandiose Denkschwäche, die alles, was entfernteste Ähnlichkeit miteinander hat, auch miteinander gleichsetzt – und so in einen völligen Un-Sinn hineingerät?

Perfide Versuche der ,Bräunung’

Wie es funktioniert, Beuys zu einem angeblich ,tief braunen’ Künstler zu machen, zeigen folgende Passagen:

[...] impften ihn die auf Partei getrimmten Lehrer gegen den bildungsbürgerlichen Kanon des Humanismus und begeisterten ihn stattdessen für nordische Heldensagen, die später in Kunstaktionen wie "Celtic" zum Blühen kommen sollten. Der Künstler schwärmte von seiner Jugend, in der Biografie "Joseph Beuys, Leben und Werk" (1973) wird er wie folgt zitiert: "Man muss ja zugeben, dass – etwa im Gegensatz zu heute – damals die Situation für die Jugendlichen in gewisser Weise ideal war, um sich auszuleben. Es kann keine Rede davon sein, dass wir manipuliert worden sind; gut, man stand in Reih und Glied und trug die Uniform, aber ansonsten fühlten wir uns unabhängig." Beuys schwamm wie ein Fisch im Wasser des braunen Zeitgeists.

Vielleicht sprach er auch nur für sich – denn er war ja ein Unangepasster. Er wäre also überall wie ein Fisch geschwommen, ohne sich verschmutzen zu lassen. Dass Kinder gezwungen wurden, in Reih und Glied zu stehen, ist eine Schande an sich, aber selbst in der schlimmsten Diktatur kann es sein, dass Kinder einfach Kinder bleiben… Und heute? Heute müssen sie fast schon mit der Muttermilch aufsaugen, dass man genug Leistung bringen muss, um im immer gnadenloseren Wettbewerb der nun schon über dreißigjährigen Diktatur des Neoliberalismus zu überleben. Die alltäglichen Manipulationen des Kapitalismus und Turbokapitalismus übersehen wir gerne, denn sie sind ja ,demokratisch geweiht‘…

Die Nazi-Propaganda versuchte, die Seelen der Jugend in den Griff zu bekommen – die kalte Realität des Kapitalismus hat sie immer schon im Griff…

Und wie sehr dieselbe kalte Logik in jemandem wie Wyss wirkt, zeigt sich daran, dass er subtil versucht, selbst noch über nordische Heldensagen eine braune Linie hineinzubringen, als wären nordische Heldensagen per se etwas Schlechtes – und mehr noch, als hätte die Kunstaktion ,Celtic’ irgendetwas damit zu tun. Hat sie nicht. Sie hat kaum mit dem Mystisch-Faszinierenden des Keltentums zu tun, das erst recht nichts Negatives wäre. Jedoch kommt das tief christliche Motiv der Fußwaschung vor – das Wyss in seinen ,braunen Bemühungen’ natürlich nicht erwähnt.

Wyss weiß weiter davon zu erzählen, dass der 19-jährige Beuys sich 1940 freiwillig zur Luftwaffe meldete und Bordfunker wurde, im okkupierten Polen zum Einsatz kam, wo Beuys unter anderem ,Umgang mit der faschistischen Fliegertruppe Mussolinis’ gehabt habe. Bei einem Flug über der Krim stürzte Beuys ab und wurde nach eigenen Aussagen angeblich von Tartaren gerettet, die den für etwa zwölf Tage Bewusstlosen mit Fett eingerieben und in Filz eingewickelt hätten. In Wirklichkeit war er nach existierenden Akten bereits am Tag nach dem Absturz, am 17. April 1944, in einem mobilen Feldlazarett registriert und mit einer Gehirnerschütterung davongekommen.[4]

Solche Mythisierung durch Beuys bleibt rätselhaft, macht ihn aber nicht einmal im Ansatz zu einem ,ewigen Hitlerjungen’. Die Substanzen, um die es ging hatten für ihn trotz allem spirituelle Bedeutung – und offenbar sympathisierte er mit den Tartaren unendlich viel tiefer als mit den deutschen Lazarettmedizinern.

Verworrener Unsinn pur

Wyss geht noch weiter, Beuys habe nicht nur die historische Vergangenheit verdrängt, er sei überhaupt nur ein ,Märchenonkel’ gewesen und lulle das Bewusstsein ein:

Der restaurative Geist der achtziger Jahre begünstigte die historische Verdrängungsarbeit, die Beuys buchstäblich ins Werk setzte. Die postmoderne Sehnsucht strebt nach Friede, Freude, Eierkuchen im Fabulieren von "individuellen Mythologien". [...] Noch heute wird an der Botschaft von Beuys fleißig weitergehäkelt: vom Heer der Kunsterzieherinnen und Kunsterzieher, die aus Kunst ein Kinderland machen. Beim Fördern von Kreativität möchte man nicht auf die gemütliche Wärme verzichten, die beim gemeinsamen Basteln aufkommt. Sie vertreibt die hässlichen Gedanken der Zweifel, gesät von den kritischen Intellektuellen, die Beuys stets ein Dorn im Auge waren.

Mit anderen Worten: Wyss ist sich nicht zu schade, die sinnfreie Behauptung aufzustellen, Beuys habe all jene Generationen von ,KunsterzieherInnen’ geprägt, die im Kindergarten basteln und ,Kuschelpädagogik’ betreiben. Darauf muss man erst einmal kommen! Aber vielleicht sind ja, völlig unabhängig von Beuys, Kinder, die auch gebastelt haben, kreativer und weniger autoritätshörig als andere? Und vielleicht sind die ,kritischen Intellektuellen’ gar nicht so kritisch, wie sie meinen? Wenn aber doch, sind sie garantiert ein Erbe der Achtundsechziger – die doch angeblich so ,Beuys-verseucht’ sein sollen? Wyss verstrickt sich in Widersprüche noch und noch, alles nur, um sein eigenes Narrativ und seinen eigenen Mythos durchzupeitschen…

Aber nun wird es bei Wyss erneut absolut abgründig – denn jetzt befreit sich seine Darstellung und sein Denken erneut von allen klaren Grundlagen und wird selbst ,mystisch-verworren’, wie er es Beuys vorwerfen will. Es ist wie ein Spiegelgefecht, bei dem der Kritiker nicht merkt, dass gerade bei ihm all das an Verworrenheit wahr ist, was er dem Anderen vorwerfen will.

Denn jetzt geht es um den anthroposophischen Sozialimpuls, der von Wyss von Anfang an diskreditiert wird, noch bevor er verstanden wurde, und – wie er es schon mit den Achtundsechzigern gemacht hat – mit anderem gleichgesetzt wird, mit dem er nicht das Geringste zu tun hat:[3]

Der von Beuys immer wieder gepredigte "dritte Weg" zwischen Kommunismus und Kapitalismus war ein Gemeinplatz völkischer Nationalrevolutionäre im Klima der Lebensreform. Hier trifft sich das Nationalromantische mit dem Esoterischen der Anthroposophie [...]. Er war ein Mitbegründer des Internationalen Kulturzentrums Achberg, das 1971 ins Leben gerufen wurde. Die Gruppe ging Ende der siebziger Jahre als brauner Rand in der Partei der Grünen auf. [...]
"Honigpumpe am Arbeitsplatz" hieß jene Installation, die 1977 während der Documenta 6 raumgreifend vom Treppenhaus zum Dach des Fridericianums drei Zentner Honig [...] durch Plexiglasschläuche trieb: ein Symbol für den Bienenstaat als Gesellschaftsideal, worin dem Individuum nur "Gliedmaßenfunktion" zukam. Die Utopie findet ihre Entsprechung in Rudolf Steiners Konzept der gesellschaftlichen "Dreigliederung", angelehnt an Platons Dreiseelenlehre, die sich auch im Volkskörper seiner Staatstheorie wiederfinden lässt. Da gibt es die begehrende Seele, die ihren Sitz im Unterleib hat: die Sphäre der arbeitenden underdogs; die mutige Seele mit Sitz in der Brust: das Gemüt der heldischen Krieger; die denkende Seele im Kopf: der Ort der Herrschenden.
Beuys’ Vorstellung von Politik als "sozialer Plastik" ist patriarchal bis ins Mark. Seine Utopie einer "organischen" Gesellschaft schlägt durch in einer Materialsemantik, die wenig demokratische Transparenz verrät. Die Gemeinschaft transfiguriert zu Filz, der Wärme bewahrt; ihre Kommunikation wirkt wie Kupfer, das Energie leitet; ihr kollektiv erarbeiteter Mehrwert ist Fett, in dem Energie gelagert wird. Als Währung zirkuliert der Honig in diesem alternativen Nachtwächterstaat, dessen Subjekte sich gegenseitig versorgen wie ein Bienenvolk. So ein Gesellschaftsideal erinnert fatal an den Ständestaat, wie er etwa in Österreich als nationalkonservative, katholische Konkurrenz zum deutschen Nationalsozialismus von 1933 bis zum Anschluss ans Deutsche Reich für fünf Jahre bestand.

Hier steht nur noch absoluter Schwachsinn – und so etwas schafft es in ein großes Kunstmagazin mit einem echten Namen!

Anstatt fortwährend mit diskreditierenden Begriffen um sich zu schlagen (,nationalromantisch’, ,esoterisch’), sollte man endlich einmal selbst klar zu denken versuchen – aber bei Wyss ist da alle Hoffnung vergebens. Der Bienenstock wäre eher ein Bild für eine Gesellschaft, in der liebevoll und aufrichtig jeder für den anderen und das Ganze besorgt ist – selbst die Wärme des Bienenstockes wäre ein Bild für die Wärme, die jeder menschlichen Gemeinschaft innewohnen sollte. Und zugleich wäre der Bienenstock ein Gegenbild zum ,Ameisenstaat’, wo der Einzelne kaum mehr ist als eine Nummer (Nazi-Diktatur, falscher Kommunismus) – aber auch für all jene Gesellschaftsformen, wo unter der Diktatur des Mammon der Einzelne ebenfalls zu einem ,Rädchen im Getriebe’ herabsinkt und herabgedemütigt wird. Auch hiervon bei Wyss keine Rede.

Der Zukunftsimpuls der Dreigliederung

In dem Dreigliederungsimpuls Rudolf Steiners hat das Individuum keineswegs nur ,Gliedmaßenfunktion’. Heute dagegen ist es nicht einmal so viel wert wie der Fingernagel – der Manager oder Profitgeier kann ihn einfach abschneiden und ohne den ,Kostenfaktor Mensch’ weitermachen. In dem, was Steiner als wahrhaft menschliche Gesellschaft sah, würde jeder Mensch mit seinem Potenzial gebraucht – und fände jenen Ort, wo er es bestmöglich einsetzen könnte. Und würden diese Orte auch gemeinsam gesucht und gestaltet und geschaffen.

Mit der ,Dreiseelenlehre’ von Platon und überhaupt jeder Ständegesellschaft hat dies nicht das Geringste zu tun – aber auch gar nichts! Was die Dreigliederung wirklich für einen zutiefst menschlichen Impuls bringt, habe ich bereits vor Jahren versucht, ganz klar in einer online zugänglichen kleinen Schrift zu beschreiben, die ich ,Das menschliche Manifest’ nannte. Bei Plato und überhaupt im antiken Griechenland gab es nicht nur ,underdogs’, es gab Sklaven. Die Sklaven und ,underdogs’ gibt es heute noch immer – dass Wyss darüber hinweggeht, ist geradezu reaktionär.

In einer vom Dreigliederungsimpuls beseelten Gesellschaft gäbe es das alles nicht mehr. Es gäbe keinen obszönen Reichtum mehr und keine beschämende Armut. Die entmenschlichende Profitgier würde geheilt von Strukturen, in denen gerade das Menschliche immer wieder neu voll zur Geltung kommen könnte – das Menschliche, das Soziale, auf allen Ebenen, sich vernetzend, sich gegenseitig befruchtend; das Förderliche gestaltend und nicht das Unmenschliche; das Kooperierende, nicht das ausschließende Gegeneinander. Man könnte dies an hunderten von Beispielen konkretisieren, dafür ist hier nicht der Platz.

Nicht Beuys’ und Steiners Erkenntnis von einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft sind ,patriarchal bis ins Mark’, sondern der Platonische oder jeder andere Ständestaat – aber auch der Versuch von Wyss, von oben herab, wirklich zukunftsorientierte soziale Impulse gewaltsam und mit allen unlauteren Mitteln zu brechen. Das ist patriarchal bis ins Mark.

Patriarchal ist auch der gegenwärtige Kapitalismus – und hier wird ,patriarchal’ ein Funktionsbegriff. Wer sich ,durchsetzen’ und herrschen kann, sei es ökonomisch, sei es ideologisch, sei es durch seine Lautstärke, mit der er alles andere niedermachen will – der ist patriarchalisch. Und letztlich auch braun, weil es das Faschistoide ist, was nichts anderes gelten lassen will.

Wyss ist gar nicht klar, wie sehr er als bedingungsloser Mitläufer den Kapitalismus stützt, indem er Unwahrheit über Unwahrheit verbreitet. Er ist der ,ewige Kapitalistenjunge’.

Die sogenannte ,Materialsemantik’, von der Wyss schwafelt, hat nichts Realitätsfernes. Nur, dass sich heute das ganze Material bei immer weniger Menschen anstaut, während anderen regelrecht das ,Blut ausgesaugt’ wird oder ihnen ,das Wasser bis zum Hals steht’. Wir finden die Materialsemantik überall. Sogar im Christlichen: ,Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben.’ Hier ist wie in einem Urbild ausgesprochen, wo die ,Gliedmaßenymbolik’ wirklich Sinn macht: Da, wo Menschen in christlichem Sinne miteinander vereint sind, da offenbart sich erst das wirkliche Leben einer Gemeinschaft – und da wirkt einer für den anderen, in voller Wirklichkeit. Da wirken alle Prozesse und Strukturen wie Wärme (!) leitendes Kupfer, weil sie das Beste im Menschen hervorbringen – und nicht das Schlechteste oder Lethargie und Resignation. Wyss hat von alledem nichts verstanden, rein gar nichts.

Im Grunde gehört Wyss zum Typus des ewigen Denunzianten – der in uns allen lebt. Denn, ach, wie leicht ist es, sich über andere zu erheben und sie auf das eigene Niveau hinabzuziehen, zu verleumden und sich dabei sehr ,revolutionär’ vorzukommen. Hat da Wyss vielleicht mehr Ähnlichkeiten mit der Hitlerjugend, als er meint? Die Achtundsechziger haben durchaus verstanden, dass Beuys einer der ihren ist, dass er die Zukunft vertrat – Wyss tut es nicht, weil er sich haushoch erhaben vorkommt. Armselig.

Das lebendige Denken und der MENSCH

Die Herausforderung ist, dass man das, was Rudolf Steiner als Dreigliederungs-Impuls in die Welt bringen wollte, sehr schnell verstehen kann – dass aber die Auswirkungen so vielfältig sind wie auch ein einzelner Organismus. Rudolf Steiner hat immer wieder betont, die Dreigliederung sei kein ,Programm’ – und was er damit sagen wollte, war, dass sie nicht verwirklicht werden kann, indem man sie als ein solches auf die politische Tagesordnung setzen würde. Sondern jeder Einzelne müsste verstehen, worum es eigentlich geht – denn es geht bereits darum, andere Begriffe zu bekommen, anders denken zu lernen. Der Sozialimpuls der Anthroposophie verändert das Denken. Er macht das Denken selbst sozialer – und damit beginnt es.

Entscheidend ist also, zu verstehen, dass der anthroposophische Impuls nicht einfach äußere Rezepte hat, sondern das Bewusstsein erweitern will, im buchstäblichsten Sinne. Deshalb ist die Anthroposophie keine Droge, sondern ein Erkenntnis-Weg. Ein Weg – auf dem jeder Einzelne nur so weit kommt, wie seine Aufrichtigkeit reicht. Deswegen wird sie von vielen auch abgelehnt – sie ist ihnen schlicht zu anstrengend. Und wer aus ihr bloße Dogmen machen will, der hat sie schon rein gar nicht verstanden, sogenannte ,Anthroposophen’ eingeschlossen.

Man will heute nicht mehr denken, die meisten haben es nie wirklich gelernt. Die Anthroposophie stellt nicht weniger Anforderungen an das Denken als der ,kritische Intellektuelle’, sondern mehr. Die meisten Intellektuellen sind in ihrem Denken so erstarrt, dass sie eine auch nur etwas andere Art des Denkens bereits nicht mehr nachvollziehen können. Solange sich das nicht ändert, wird sich überhaupt nichts ändern, denn für die wirklichen Gedanken muss zunächst die Seele lebendig werden. Und das hat Beuys versucht. Er hat versucht, das Denken so sehr in Bewegung zu bringen, dass auch die Seele wieder lebendig wird – und dass dann sie es ist, die denkt, nicht mehr nur der tote Intellekt. Das hat man bei Beuys bis heute nicht verstanden. Und schon bei Steiner war es ja so.

In einem Artikel der ,Süddeutschen’ ist dies exemplarisch geschildert:[5]

Vor ein paar Jahren war jemand so gut und hat die Fernsehdiskussion ins Netz gestellt, bei der Joseph Beuys 1970 mit Max Bense, Arnold Gehlen und Max Bill über „Kunst und Antikunst“ stritt [damals konnte man wirklich noch heftig diskutieren! H.N.]: Drei gestandene Rationalisten – einer eher links, einer sehr konservativ und einer aus der Schweiz [!?] – verlangen, erbitten, erflehen da wie Verdurstende ein bisschen mehr Klarheit und Präzision. Beuys aber schwenkt unermüdlich das Weihrauchkesselchen seiner typischen Terminologie und spricht so lange von „neuen Substanzen“, die in die „Stoffesverhältnisse“ einzuführen seien, von der „Frage nach dem Menschen“ und von den „neuen Bewusstseinsebenen“, die seine „Erweiterung des Kunstbegriffs“ erschließe, bis sich die anderen in Sarkasmus und schließlich nach anderthalb Stunden aus dem Saal flüchten. (Beuys, das weiß man von den Biografen, redete nach Sendeschluss mit Unentwegten aus dem Publikum noch so viele Stunden lang weiter, bis die Veranstalter mit der Polizei drohten.)
Die drei hätten genauso gut mit einem Eurythmielehrer über Cancan und Foxtrott aneinander vorbeireden können. Man traf sich einfach nicht im Nebel der Begriffe.

Den vorletzten Satz hätte man auch weglassen können, denn was Eurythmie ist, weiß heute erst recht niemand. Aber allein schon das Reden von ,Weihrauchkesselchen’ ist einfach nur bösartig – und offenbart mehr die eigene Unfähigkeit als alles andere. Denn um das Verstehen des erweiterten Kunstbegriffes und um die Frage nach dem Menschen geht es nun einmal. Es geht um eine neue ,Substanz’ der Seele, man könnte auch sagen, eine neue Kraft. Es geht um das Sich-Ergreifen der Seele als eine Realität. Und dann ist eine neue Substanz da. Diese Erfahrung kann man jedoch nur machen, wenn man es tut. Intellektuelle haben damit genau die Schwierigkeit, die auch der Reiche hat, durch ein Nadelöhr zu gehen, wie es Christus beschrieb.

Und mit Christus sind wir auch wieder bei dem Geheimnis des übersinnlich Substanziellen … aber dafür muss man auch wiederum die Anthroposophie zu verstehen beginnen. Es ist ein Weg ohne Ende – aber ein klar umrissener. Man müsste nur den Mut haben, ihn zu betreten. Beuys hatte den Mut. Und er wurde ein Lehrer für andere.

Die Anthroposophie, an die Beuys zutiefst anknüpfte, rührt an das Geheimnis des MENSCHEN. Gerade deswegen wird sie mit aller Macht diskreditiert – auch in dem obigen Artikel, der von Steiners ,recht speziellen Lehren zu Inkarnationen und höheren Wesen’ spricht. Es ist keine Kunst, Rudolf Steiners ungeheures Lebenswerk nicht ernst zu nehmen. Und es ist keine Kunst, Beuys nicht zu verstehen. Es ist auch keine Kunst, zum Mitläufer und zur aktiven Stütze des heutigen Systems zu werden, das den MENSCHEN trotz allen ,Segnungen der Zivilisation’ noch immer verspottet – und auch noch immer kreuzigt.

Und die wahre Seele weiß dies. Aber die von dem unsichtbaren Diktator der Gedanken beherrschte Alltagsseele verleugnet es immer wieder neu – und dient so wissentlich oder unwissentlich dem Gegen-Impuls. Beuys dagegen war letztlich ein Christus-Diener. Und er hat sein Bestes getan, um Menschen aufzuwecken.

Quellen

[1] Nicola Kuhn: Künstler der Tat. Tagesspiegel, 31.3.2021, S. 19.
[2] Boris Pofalla: Schmiedet BOMBER zu Solargleitern! Welt am Sonntag, 21.3.2021, S. 47.
[3] Beat Wyss: Der ewige Hitlerjunge. www.monopol-magazin.de, 30.5.2008.
[4] Siehe auch: Tataren, Filz und Fett. taz.de, 18.5.1996.
[5] Peter Richter: Der letzte Erlöser. Süddeutsche Zeitung, 27./28.3.2021, S. 18