30.05.2021

Beuys – Soziale Zukunft und Deutscher Idealismus

Der tiefe Zusammenhang von Novalis bis zu Beuys.


Inhalt
Ein Tag vor Heiligabend 1978
Die große Sackgasse in Ost und West
Staat, Geld – und das wahre Menschenwesen
Das wahre Wesen des Geldes
Das Menschliche denken lernen
,Lizenzgebühren’ als tiefer Verrat an Beuys
Ein klarer Blick – Eugen Blume
Idealismus, Romantik und Christus-Impuls
...und der große Verrat am eigenen Wesen
Beuys ungeheurer Impuls – unverstanden
,Das Bewegungselement schlechthin’


Ein Tag vor Heiligabend 1978

Mitten im Vorfeld der Entstehung der ,Grünen’ und im Kalten Krieg der ideologischen Blöcke – Reagan war noch nicht einmal Präsident – trat der Ausnahme-Künstler Beuys mit einem großen Aufruf, der eng bedruckt eine ganze Seite der ,Frankfurter Rundschau’ füllte, Ende 1978 einen Tag vor Heiligabend an die Öffentlichkeit.

Dieser Aufruf entfaltet eine Vision, die erstmals das Menschliche zutiefst in den Mittelpunkt stellt – jenseits der Geistesdiktator im Osten und jenseits der Kapital-Diktatur im Westen. Eine Vision, die einen absoluten Freiheitsraum für das wirkliche Wesen des Menschen schafft – und die das Prinzip ,Geld’ radikal und klar ,ins Richtige denkt’, nämlich zu etwas Dienendem macht: dem Menschen Dienendem, nichts anderes mehr.

Diese Vision wurde bereits von Rudolf Steiner entwickelt, der eben gerade deshalb so ungeheuerlich bekämpft wird, weil er dem Kapitalismus eine ganz klare Absage erteilt – wie auch jedem anderen diktatorischen oder auch nur autoritären System. Und es waren Anthroposophen der nächsten Generation, die den Impuls der ,sozialen Dreigliederung’ (Freiheit im Geistesleben, Gleichheit im Rechtsleben, Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben) aufgriffen und in einer ungeheuren Klarheit immer weiter ausarbeiteten. In hingebungsvoller Gedankenarbeit entfalteten sie die von Steiner angedeuteten Ideen und Impulse zu einer Blüte grundlegend neuer Begriffe – solcher Begriffe und Anschauungen, die ganz aus dem Menschlichen entsprangen und dieses Menschliche ganz in sich aufzunehmen vermochten. Begriffe, die die Frage beantworten konnten: Wie muss über die gesellschaftlichen Formen gedacht werden, damit die Seele unmittelbar spürt, hier geht es um das Menschliche und nur um das Menschliche?

Es waren die ,Dreigliederer’ um Wilfried Heidt und Wilhelm Schmundt am Internationalen Kulturzentrum Achberg, die diese gedankenklare visionäre Arbeit geleistet hatten, aber Beuys hatte das ungeheuer Revolutionäre dieses Impulses erkannt und stellte sich mitten in diesen hinein, vertrat ihn leidenschaftlich – und brachte ihn so an eine größte Öffentlichkeit.

Die große Sackgasse in Ost und West

Der Aufruf richtete sich an alle Menschen Europas und betonte gleich zu Beginn, dass es um nichts weniger gehe als um den DURCHBRUCH IN EINE NEUE SOZIALE ZUKUNFT – eine Zukunft, die erreichbar sei, indem eine Bewegung entstehe, ,die durch ihre Erneuerungskraft die Mauern abträgt zwischen Ost und West und die Kluften zuschüttet zwischen Nord und Süd’. Von Anfang an ist hier auf das Seelisch-Geistige des Menschen gewiesen, denn nur hier kann das wahrhaft Verbindende entstehen – in einer im Zeichen des Menschlichen vereinigten Gesinnung.

Im weiteren spricht der Aufruf von einem ,den Zeitforderungen gemäßen Weg des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens in unseren Staaten und Gesellschaften’ – und deutet damit an, dass diese ganz neuen Formen des Zusammenlebens und -arbeitens längst in der Luft liegen, als Zeitforderungen, als unbewusste Forderungen der Menschenseelen selbst und auch der längst entstandenen Vernetzungen, die nur noch nicht als das erkannt werden, was sie eigentlich sind. Und dann wird ganz offen auf die Bedeutung erneuerter, lebendiger Begriffe verwiesen:

Vor der Frage: WAS KÖNNEN WIR TUN? muß der Frage nachgegangen werden: WIE MÜSSEN WIR DENKEN?, damit der phrasenhafte Umgang mit den höchsten Idealen der Menschheit, die alle Parteiprogramme heute verkünden, nicht weiterhin sich fortpflanzt als Ausdruck des krassen Gegensatzes zur Lebenspraxis der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Wirklichkeit auf der Welt.

Es geht also um absolute Wahrhaftigkeit – bedingungsloses Ernstmachen mit dem, was in den Seelen als Ideale und als Sehnsucht lebt und immer gelebt hat.

Und dann wird der ganze, abgewirtschaftete, menschenfeindliche Ist-Zustand vor die Seele gestellt, ebenso wahrhaftig und schonungslos:

Die Probleme, die uns zur Abkehr vom Bestehenden allen Anlaß geben, können als bekannt vorausgesetzt werden. Es mag genügen, in einer stichwortartigen Zusammenfassung die schwerwiegendsten Faktoren der Gesamtproblematik vor Augen zu rücken.
Die militärische Bedrohung
Auch ohne aggressive Absichten der Supermächte besteht die Gefahr der atomaren Weltvernichtung. [...] Trotz des angehäuften Potentials zur hundertfachen Zerstörung der Erde verschärft sich hinter den Kulissen sogenannter Abrüstungsverhandlungen das erbitterte Rüstungswettrennen von Jahr zu Jahr.
Folge dieses kollektiven Wahnsinns ist ein riesenhafter Verschleiß von Energie und Rohstoffen und eine gigantische Vergeudung der kreativen Fähigkeiten von Millionen von Menschen.
Die ökologische Krise
Unser Verhältnis zur Natur ist dadurch gekennzeichnet, daß es ein durch und durch gestörtes geworden ist. Es droht die restlose Zerstörung der Naturgrundlage, auf der wir stehen. Wir sind auf dem besten Wege, diese Basis zu vernichten, indem wir ein Wirtschaftssystem praktizieren, das auf hemmungsloser Ausplünderung dieser Naturgrundlage beruht. Ganz klar muß ausgesprochen werden, daß das privatkapitalistische Wirtschaftssystem des Westens von dem staatskapitalistischen des Ostens sich in diesem Punkt grundsätzlich nicht unterscheidet. Die Vernichtung wird weltweit betrieben. Zwischen Bergwerk und Müllkippe erstreckt sich die Einbahnstraße der modernen Industriezivilisation, deren expansivem Wachstum immer mehr Lebenslinien und -kreisläufe des ökologischen Systems zum Opfer fallen.
Die Wirtschaftskrise
Sie äußert sich in einer Fülle von Symptomen, mit denen täglich die Zeitungsseiten gefüllt und die Nachrichtensendungen bestritten werden. Streik und Aussperrung, Abermillionen – weltweit gesehen – sind arbeitslos, können ihre Fähigkeiten nicht für die Gemeinschaft einsetzen. Da werden, um die heilige Kuh – die „Marktgesetze“ – nicht schlachten zu müssen, Riesenmengen von wertvollsten Nahrungsgütern, die sich aus subventionierter Überproduktion ansammeln, ohne mit der Wimper zu zucken vernichtet, während in anderen Weltgegenden gleichzeitig Tausende täglich an Hunger sterben. Da geht es nicht darum, für den Bedarf der Konsumenten zu produzieren, sondern um den geschickt getarnten Verschleiß der Güter. [...]
Verzichten wir auf eine weitere Charakterisierung dessen, was uns andauernd als die „Währungskrise“, die „Demokratiekrise“, die „Erziehungskrise“, die „Energiekrise“, die „staatliche Legitimationskrise“ usw. frei Haus geliefert wird, und kommen wir abschließend noch kurz auf
Die Bewußtseins- und Sinnkrise
zu sprechen. Die meisten Menschen fühlen sich den Verhältnissen, die sie umgeben, hilflos ausgeliefert. Das führt zur Vernichtung auch ihrer Innerlichkeit. Sie können in den Destruktionsprozessen, denen sie unterworfen sind, in dem undurchschaubaren Knäuel staatlicher und ökonomischer Macht, in den Ablenkungs- und Zerstreuungsmanövern einer billigen Vergnügungsindustrie keinen Lebenssinn mehr erkennen.

Staat, Geld – und das wahre Menschenwesen

Das bisherige Denken und die vom Menschen geschaffenen Strukturen haben also nur immer neue Katastrophen geführt – und sie münden in unterschiedliche Formen des Seelentodes, worauf Beuys immer wieder hingewiesen hat. Seien es Alkohol-, Drogen-, Bildschirmsucht, Selbstmord, Resignation, Weltflucht oder wachsender Egoismus (,nach mir die Sintflut’). Es ist nahezu egal, wie der Mensch seelisch-geistig zugrunde geht – er geht in diesem System und durch dieses System zugrunde. Aber was sind die pervertierenden Elemente?

Der Aufruf fährt fort:

Auf den Kern der Sache zurückgeführt, kann gesagt werden, daß zwei Strukturelemente der im 20. Jahrhundert zur Herrschaft gekommenen Gesellschaftsordnungen die eigentlichen Ursachen der ganzen Misere darstellen: DAS GELD UND DER STAAT, das heißt die Rollen, die dem Geld und dem Staat in diesen Systemen eingeräumt werden.

In der Geistesdiktatur des Ostens ist es vor allem der Staatsmacht, in der Kapital- und Profitdiktatur des Westens ist es vor allem die Geldmacht, die das Menschliche unterdrücken und beseitigen und an dessen Stelle Anpassung, Resignation und unterschiedlichste Entfremdungsprozesse setzen – eben auch Machtstreben, Materialismus, Geistlosigkeit, Seelenleere. Kapitalismus und Kommunismus haben die Menschheit gleichermaßen in eine absolute Sackgasse geführt.

Und nun verweist der Aufruf auf Wilhelm Schmundt und dessen zentrale Betonung des ,Ins-Rechte-Denken der Begriffe’ – wie auch Eugen Löbl, der Wirtschaftstheoretiker des Prager Frühlings, von einer unaufschiebbaren ,Revolution der Begriffe’ spricht. (Bezeichnend ist, dass Löbl, der das Zentrum in Achberg ebenfalls mit begründete, nicht einmal einen deutschen oder englischen Wikipedia-Eintrag hat!).

Der Entwurf des ,Dritten Weges’ geht ganz vom Menschen aus – als dem Bildner der Sozialen Plastik, eines ,sozialen Organismus’, der das Menschliche ganz in den Mittelpunkt stellt, überall. Dieser Mensch hat heute drei Grundbedürfnisse, die gleichsam aus der lebendigen Substanz seiner Menschenwürde hervorgehen:

1. Er will seine Anlagen und seine Persönlichkeit FREI ENTWICKELN und seine Fähigkeiten in Verbindung mit den Fähigkeiten seiner Mitmenschen FREI für einen als SINNVOLL erkannten Zweck einsetzen können.
2. Er erkennt jede Art von Privileg als untragbare Verletzung der demokratischen Gleichberechtigung. Er hat das Bedürfnis, als mündiger Mensch hinsichtlich aller Rechte und Pflichten [...] als GLEICHER UNTER GLEICHEN zu gelten und am demokratischen Vereinbaren auf allen Ebenen und in allen Bereichen der Gesellschaft mitbestimmen zu können.
3. Er will SOLIDARITÄT SCHENKEN UND SOLIDARITÄT IN ANSPRUCH NEHMEN. [...] Zwar mag der Egoismus noch im Vordergrund stehen und das Verhalten bestimmen. Aber: Ein Bedürfnis, ein angestrebtes Ideal ist er nicht. Er ist ein Trieb, der herrscht und beherrscht. Gewollt jedoch ist: DIE GEGENSEITIGE HILFE AUS FREIER ENTSCHEIDUNG.

Und damit haben wir bereits die großen drei Ideale der Französischen Revolution – nun aber ,ins Richtige gedacht’, nämlich nicht beliebig, sondern sehr spezifisch: Freiheit für die Fähigkeiten eines jeden Menschen und seine ganze Individualität. Gleichheit für das ganze große Feld des menschlichen Miteinanders und der lebendig daraus hervorgehenden Rechte und Pflichten. Und schließlich Brüderlichkeit und gegenseitige Hilfe aus freiem Wollen und freiem Bedürfnis heraus.

Das wahre Wesen des Geldes

Grundlegend wendet sich der Aufruf nun dem Wirtschaftsleben zu – denn hier sind die Begriffe und Strukturen am allerfalschesten und aller-unmenschlichsten. In Wirklichkeit hat sich das Wirtschaftsleben in unserer tief arbeitsteiligen modernen Gesellschaft längst zu einem ,integralen System’ (Löbl) entwickelt, zu einer wahrhaftigen Welt-Wirtschaft, aber ohne jeden Hauch von neoliberaler Bedeutung, die man diesem Wort heute angeheftet hat, sondern rein im Sinne von: Heute arbeitet jeder Mensch längst ganz objektiv für andere, im Dienste der Bedürfnisse seiner Nächsten – und der Nächste arbeitet für ihn. Wir haben die Brüderlichkeit längst als objektive Struktur – aber die gelebte Realität ist eine ganz andere! Und daran sind nur die perversen heutigen Begriffe und Ideologien schuld.

Der Aufruf legt nun dar, dass die wahre Realität ist, dass die erbrachten Leistungen der Menschen und ihr Einkommen keinerlei reale Beziehung mehr haben – damit darf das Einkommen nicht mehr als ,Tauschwert für erbrachte Leistungen’ angesehen werden, gerade dies ist die fortlebende Lüge und Ideologie. Sie stimmt schlicht nicht mehr. Damit kann das Einkommen aber nur noch eine einzige Funktion haben: Es ist unmittelbares Menschenrecht, um die eigenen Bedürfnisse zur Erhaltung und Entfaltung des eigenen Lebens erfüllen zu können – und dadurch überhaupt erst in die Lage zu kommen, verantwortlich und aus eigener Verantwortung für Andere arbeiten zu können.

Als Grundrecht unterliegt das ,Einkommen’, das eben nicht mehr ,Lohn’, sondern Voraussetzung für das Tätigwerden auch für Andere ist, nicht mehr der ,freien’ (in Wirklichkeit: sozialdarwinistischen) Vereinbarung unter ungleichen Partnern (von denen der eine den anderen häufig genug ausbeutet) – sondern demokratischer Vereinbarung nach bedarfsorientierten Gesichtspunkten. Das Gleiche gilt für das Maß und die Art von Arbeiten – auch sie sind demokratische Fragen der ganzen Gemeinschaft. Eine Gesellschaft bestimmt, was und wieviel gearbeitet werden sollte. Erst damit bekommen die Menschen die volle Souveränität über die Bedingungen ihres Lebens und Zusammenlebens.

Was vor allem ,ins Rechte gedacht’ werden muss, ist der Geldbegriff. Schon als die Zentralbanken eingeführt wurden, hörte Geld auf, ein Tauschmittel zu sein. Es entstand ein völlig neues Kreislaufsystem – nur vergleichbar ,dem Evolutionsschritt in der Biosphäre von einem niederen zu einem höheren Organismus’. Geld hätte heute eine völlig neue Funktion, und dieser Schritt muss nun bewusst vollzogen werden. Es ist ein neues Funktionssystem geworden: ,Es wurde zum RECHTSREGULATIV für alle kreativen und konsumtiven Prozesse.’ Deswegen kann sich Geld auch nicht ,vermehren’ – der Zinsbegriff, der noch immer an den Kreditbegriff gekoppelt ist, ,kommt aus einem wesenswidrigen Geldverständnis, welches das Geld noch als Wirtschaftswert betrachtet’.

,Ins-Rechte-Denken’ führt den Menschen in die volle Verantwortung für seine Angelegenheiten: Will er sich weiter alten, dogmatischen Begriffen unterwerfen – oder hat er die Kraft, sie so neu und umzudenken, dass sie nur noch das Menschliche enthalten? Dass sie ihm dienen statt umgekehrt?

Die neue Funktion des Geldes ist eine Dienende, so wie im Leib das Blut eine dienende Funktion hat – und in der spirituellen Menschenerkenntnis der Anthroposophie auch physisch-leibliches Korrelat für das Ich-Wesen des Menschen ist, das rein geistige, aber sich inkarnierende Wesen. In ähnlicher Weise hat auch das Geld Bewusstseinsfunktion – und nicht Machtfunktion. Und es ändert fortwährend seine Bedeutung:

Als ,Produktionskapital’ in der Hand des Unternehmers ist es ein Rechtsdokument: Es verpflichtet ein Unternehmen (das dem Unternehmer nicht gehört, sondern nur von ihm geleitet wird) zum Einsatz der Fähigkeiten der mit ihm verbundenen Mitarbeiter. Als Einkommen fließt es in die Hand der Tätigen, dort wird es zum ,Konsumkapital’, ist erneut ein Rechtsmittel und berechtigt zum Erwerb von Konsumwerten, die zur Erfüllung der individuellen Bedürfnisse benötigt werden. Indem es im Kauf zurück  zum Produktionsbereich fließt, ändert es erneut seine Bedeutung, nun hat es keine Beziehung mehr zu einem Wirtschaftswert und berechtigt zu nichts mehr. Die Unternehmen tilgen damit Kredite, und damit sind die Schuldkonten ausgeglichen.

Auf diese Weise ist die Wirtschaft ganz und gar brüderlich geworden – ein organischer Zusammenhang überall füreinander arbeitender Menschen. Und auch Einrichtungen des Geisteslebens (Schulen, Universitäten) gehören zu den ,Unternehmen’, denn sie produzieren gerade geistige Fähigkeiten, helfen den Menschen, ihre individuellen Fähigkeiten zu entfalten, die dann wieder in den Dienst der Gemeinschaft gestellt werden können. Da die Arbeit der Unternehmen auf geistigem Felde keinen ,Preis’ haben kann, müssen sie durch das übrige Wirtschaftsleben getragen werden – die Überschüsse der materiell produzierenden Unternehmen fließen durch fortwährenden Kontenausgleich an jene Institutionen, die für ihre Leistungen keine Preise verlangen.

Das Menschliche denken lernen

Wo erkannt wird, dass ,Geld’ in Wirklichkeit nicht das Geringste mehr mit der alten römischen Eigentumsvorstellung zu tun hat, sondern längst ein Teil der Rechtssphäre geworden ist, ist das Tor offen für brüderliches Zusammenwirken aller Menschen – und haben Kategorien von ,Gewinn’, ,Verlust’, ,Profit’, ,Ausbeutung’ etc. keinen Platz mehr. Damit fällt auch das Prinzip eines Eigentums im Produktionsbereich weg. Hier geht es nur um bestmögliche Verwaltung und Leitung im Dienste des Ganzen – um nicht mehr und nicht weniger. Damit aber kann sich auf einen Schlag die ganze Produktion ganz nach dem Bedarf der ,Konsumenten’ richten. Kein einziges egoistische Interesse steht diesem ,einzig sachgemäßen Wirtschaftsziel’ mehr hemmend oder ablenkend im Wege. Assoziationen von Vertretern der verschiedenen Unternehmen, der Banken, der Händler und Konsumenten beraten und gestalten immer wieder lebendig gemeinsam grundlegende Fragen der Produktion, der Preisgestaltung etc. – nicht gegeneinander, sondern miteinander, als gleichsam gemeinsames Bewusstseinsorgan des sozialen Organismus:

Der überwundene Gegensatz von „Arbeitgeber“ und „Arbeitnehmer“ öffnet das Feld für eine Sozialgestalt, in der miteinander verwoben sind Prozesse des FREIEN BERATENS, des DEMOKRATISCHEN VEREINBARENS und schließlich des GEMEINSAMEN WIRKENS für die soziale Umwelt.

Hier erweist sich, warum ein ,Ins-Rechte-Denken’ so zentral ist: Alles andere ist nicht grundlegend genug. Erst hier beginnt wahrhaft die ,Soziale Plastik’, in der jeder Mensch ein Künstler ist und an der jeder einzelne als Künstler mitgestaltet – weil es auf seine Fähigkeiten, seinen Beitrag, seine Wahrnehmungen ankommt. Ohne diesen umfassenden Begriff des zutiefst schöpferisch gestalteten ,sozialen Organismus’ kann es keine wahre Erneuerung geben im Sinne des MENSCHEN geben:

Wer sagt, daß es eine Veränderung geben muß, aber die „Revolution der Begriffe“ überspringt und nur gegen die äußeren Verkörperungen der Ideologien anrennt, wird scheitern. Er wird entweder resignieren, sich mit Reformieren begnügen oder aber in der Sackgasse des Terrorismus landen. Drei Formen des Sieges der Strategie des Systems.

Der ,Dritte Weg’, den der Aufruf auf diese Weise entfaltet hat, ist keinerlei Ideologie – er ist gleichsam aus den Tiefen des Menschen selbst geschöpft – und für jeden Menschen unmittelbar einsichtig, denn jeder Mensch trägt die genannten Freiheits-, Gleichheits- und Brüderlichkeits-Ideale in sich. Und so ist der hier gemeinten ,Revolution der Begriffe’ auch:

[...] jeder Absolutheitsanspruch fremd. Wer die Kraft hat, die Theorien des Marxismus, des Liberalismus, der christlichen Soziallehre usw. zu Ende zu denken, wird feststellen, daß er durchaus zu den gleichen Ergebnissen kommt wie wir.

Und in diesem Sinne sah Beuys auch die von ihm gegründete ,Freie Internationale Universität’ – als Keimstätte freier Geistigkeit, der viele weitere folgen sollten. Ebenso ermutigte der Aufruf dazu, dass Betriebe, die in diesem Sinne völlig umdachten, einen Zusammenschluss alternativer Wirtschafts- und Kulturunternehmen bilden sollten. Und schließlich wollte der Impuls im Sinne einer neuen sozialen Bewegung auch politisch aktiv werden, aber in ganz neuem Stil – sodass der neue Impuls auch direkt im Parlament eine lebendige Stimme hätte. Letztlich wandte sich der Aufruf an die gesamte Zivilgesellschaft, die das Bewusstsein vereinte, dass die jetzigen Systeme in eine Sackgasse geführt haben:

Gemeinsame Wahlinitiative heißt aber nicht: Parteiorganisation, Parteiprogramm, Parteidebatte im alten Stil. Die Einheit, deren es bedarf, kann nur die EINHEIT IN DER VIELFALT sein.
Die Bewegung der Bürgerinitiativen, die ökologische, die Friedens- und die Frauenbewegung, die Bewegung der Praxismodelle, die Bewegung für einen demokratischen Sozialismus, einen humanistischen Liberalismus, einen Dritten Weg, die anthroposophische Bewegung und die christlich-konfessionell orientierten Strömungen, die Bürgerrechtsbewegung und die 3. Welt-Bewegung müssen erkennen, daß sie unverzichtbare Bestandteile der Gesamtalternativenbewegung sind; Teile, die sich nicht ausschließen und widersprechen, sondern ergänzen.
Eine gemeinsame Wahlinitiative der Gesamtalternativenbewegung ist nur lebenswirklich als ein BÜNDNIS vieler autonomer Gruppen, die ihr Verhältnis untereinander und gegenüber der Öffentlichkeit im Geiste AKTIVER TOLERANZ gestalten. Unsere Parlamente brauchen den befreienden Geist und das Leben einer solchen Union, der UNION FÜR DIE NEUE DEMOKRATIE.

,Lizenzgebühren’ als tiefer Verrat an Beuys

Dieser Aufruf hat nichts von seiner Aktualität verloren. Ich selbst habe nach der unfassbaren Finanzkrise mit den perversen ,Bankenrettungen’ im Jahr 2011 zwei dicke Bände über die Gesellschaftskrise und neue Begriffe in genau diesem Sinne verfasst – und auch eine kleine Schrift, die ich ,Das Menschliche Manifest’ nannte und die ebenfalls den Impuls der Dreigliederung für jeden Einzelnen unmittelbar verständlich machte. Damals kannte ich diesen konkreten Aufruf von Beuys noch gar nicht. Jetzt stelle ich fest, dass zwischen seinem Aufruf und meinem Manifest dreiunddreißig Jahre lagen – der Christus-Zeitraum.

Beuys wollte diesen Aufruf damals so weit wie möglich verbreiten. Und es gehört zu den perversen und falschen Begriffen, dass nach dem Tod dieses Visionärs auch für Beuys die sogenannten ,Künstlerrechte’ bei der Verwertungsgesellschaft ,VG Bild-Kunst’ liegen, die nunmehr den Wiederabdruck nur gegen eine ,Lizenzgebühr’ gestattet, sodass etwa das ,Institut für soziale Dreigliederung’, das ganz im Sinne von Beuys und jenes Impulses, aus dem heraus dieser Aufruf einst entstanden ist, wirken will, diesen auf seiner Webseite nur hätte wiedergeben dürfen, wenn es mehr als zehn Euro monatlich an die VG Bild-Kunst abgeführt hätte. So werden Künstler noch posthum zu Tode verwaltet – und wird ihrem Geist diametral entgegen gehandelt.

Ein klarer Blick – Eugen Blume

Eine derer, die Beuys auf geradezu erlösende Weise verstehen, im Sinne echter Geistigkeit und frei von all der Kleinkariertheit, Böswilligkeit, Ignoranz und Arroganz, ist Eugen Blume, der Beuys’ erweiterten Kunstbegriff seit den 80er Jahren auch in der DDR vertrat, ab 1993 bei den Staatlichen Museen das Beuys-Medienarchiv aufbaute und von 2001 bis 2016 fünfzehn Jahre lang Leiter des Hamburger Bahnhofs wurde.

In einem auf der Webseite der pädagogischen Ausbildungsstätte ,Rudolf Steiner Institut Kassel’ veröffentlichten Aufsatz über Beuys’ Aufruf weist er 2012 darauf hin, in welcher Tradition dieser Aufruf zu sehen ist:

Beuys hatte sich zunächst im Geiste Immanuel Kants die Freiheit genommen [...] „[...] von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen.“ [...] 1978, nahezu 200 Jahre später, erschien dies in der politischen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland wie eine Selbstverständlichkeit. Heute, 2012, sind wir von diesem Selbstverständlichen des kritischen Denkens weit entfernt. [...] das Meinen hat vielmehr Konjunktur, aber die kritische Rede oder das ihr vorausgehende kritische Denken, das in den Kern der Verhältnisse zielt, ist beinahe aus der Öffentlichkeit verschwunden. Im selben Jahr wie Beuys, 1978, konstatierte der französische Philosoph Roland Barthes: „Man kann sagen, daß sich die Medienzivilisation durch die (aggressive) Ablehnung aller Zwischentöne definieren läßt.“

Statt eines klaren, umfassenden, selbstlosen, auf das Ganze gerichteten Denkens (wie bei Beuys) herrschen heute Schlagworte, schnelle Urteile, Meinungen, Unterstellungen, Verdächtigungen, Anpassungen, Reaktionen auf Sachzwänge und tausend andere Varianten vor, die man kaum noch mit wirklichem Denken im Sinne auch nur von Kant bezeichnen kann.

Auch Blume weist auf die Krebskrankheit hin, in die das heute dominierende System immer mehr hineinschlitterte:

Der Industriekapitalismus erreichte durch die digitale Revolution eine Geschwindigkeit und effiziente Berechnungsdichte, die vor allem die Finanzmärkte in schwindelerregende Spekulationen führte und das Geld endgültig in eine magische Dimension hineintrieb, in der intransparente Spekulationen für grenzenlose Gewinne sorgten. Die Finanzeinrichtungen wurden nun die mächtigsten Unternehmen der Welt. Großbanken im Verbund mit einigen wenigen Großunternehmen halten heute das soziale und ökologische Schicksal dieser Erde und damit der Menschheit in ihren Händen.

Und dann stellt er ganz klar fest, dass diese Krebskrankheit das Wesen des Menschen selbst angreift:

Eine Gesellschaft, die alles auch ihre Imponderabilien unter das Maß der Wirtschaft oder Gesetz der Kapitalrendite stellt, beraubt sich naturgemäß der Freiheit des Denkens, das nur in einem unbedingten geistigen Klima gedeihen kann.

Idealismus, Romantik und Christus-Impuls

Gerade gegen dieses Erstarrende, Dogmatische, in der Sphäre des Menschenfeindlichen Verharrenden wandte sich Beuys mit seinem erweiterten Kunstbegriff und dem Wort ,Jeder Mensch ist ein Künstler’. Und Blume verweist nun ganz klar auf den großen Hintergrund:

Beuys hat diesen Satz nicht erfunden. Er ist aus einem Prozess des Denkens hervorgegangen, den Beuys als eine seiner geistigen Wurzeln benannt hat, aus dem deutschen Idealismus und dessen Verzweigungen, der Romantik und schließlich der Naturphilosophie. Die erstmals in der Frühromantik vollzogene Verbindung von Naturphilosophie und Autonomie der Kunst, die zugleich eine Freiheitsphilosophie war, ist eine wesentliche geistige Voraussetzung, ohne die Beuys sein System des Erweiterten Kunstbegriffs nicht hätte entwickeln können. Auch seine Vorstellungen von einer ökologischen Kunst führen in ihrem Versuch, die geistigen Kräfte der Natur bildnerisch anzusprechen, über jede notwendige präventive Vorsorge eines Naturschutzes hinaus in den geistigen Zusammenhang der aus der Naturphilosophie entwickelten Subjektphilosophie.

Blume weist darauf hin, dass es Novalis war, der einst 1798 geschrieben hatte: ,Jeder Mensch sollte Künstler seyn. Alles kann zur schönen Kunst werden’. Und Beuys hat diese Worte aus dem Konjunktiv herausgenommen und damit das in jedem Moment vorhandene Potenzial unwiderruflich betont. Er hat damit aufgezeigt, dass in jedem Menschen in jedem Moment die Fähigkeit des Schöpferischen, des wahrhaft Menschlichen schlummert. Zugleich ist die Verwirklichung dieses Schöpferischen die ,Lösung’ im doppelten Sinne – denn damit löst sich der Mensch von einem dem Tod verbundenen Denken und erhebt sich aus dem Toten, Abstrakten, Erstarrenden in eine lebendige Sphäre hinein. Er erhebt sich über das, was ihn bestimmen, lähmen, erstarren lassen und nicht Mensch sein lassen will. Als schöpferisches Wesen ist er erst der wahre ,Souverän’ – dieses Wort stammt von der Wurzel ,souv-/sup-’, was so viel wie ,über’ (etwas stehend) bedeutet.

Und Blume zieht den Kreis noch weiter, verweist auf die christliche Substanz, die ja insbesondere bei Novalis unmittelbar herausleuchtet:

Novalis Vorstellung, dass „Jeder Mensch sollte ein Künstler sein “, lag die auf die Mystik zurückgehende Idee der Ausfaltung innerer Kräfte zugrunde, die sich auf das Christuswort stützte: „Das Reich Gottes ist inwendig in Euch.“

Rudolf Steiner hat umfassend darauf hingewiesen, dass Christus-Impuls und Freiheits-Impuls gar nicht getrennt voneinander zu denken sind, dass sie zutiefst miteinander zu tun haben: Der Christus-Impuls ist letztlich der Freiheits-Impuls. Das vom Menschen zu erringende Freiheitsmysterium ist auf geheimnisvolle immer durch Christus gegeben – aber eben nicht ohne Zutun des Menschen. Dieser muss das Schöpferische wahrmachen. Dass er es aber kann, verdankt er Christus – und zwar in jedem Moment.

...und der große Verrat am eigenen Wesen

In seiner Umkehr bedeutet dies: Wer das Schöpferische nicht verwirklicht, weil er in Blindheit oder in ,Faulheit und Feigheit’ (Kant) verharrt, der verrät in tiefster Weise sein Menschentum. Blume weist darauf hin, dass Schelling im Verlust des Glaubens etwas sah, was er ,Transzendenzverrat’ nannte. Heute muss man dies auf den gleichsam ,freiwilligen’ Verzicht auf das eigene Schöpfertum beziehen. Es ist ein Verrat. Man leugnet sein heiligstes Wesen, indem man es von Materie und Bequemlichkeit absorbieren lässt:

Ein Verrat dieser Vorstellung [der Mensch als der Transzendenz fähiges Wesen, H.N.] bedeutete Schelling einen in der Menschheitsentwicklung unvergleichlichen Verlust des Menschenbildes und zugleich dem Bösen in einem nicht gekannten Maße Vorschub zu leisten.

Von hier aus zieht Blume die direkte Verbindung zum Grauen der Nazi-Zeit, in der der Verrat des Menschentums einen ungeheurlichen Höhepunkt erreichte. Die Nazi-Zeit war den Idealen der Aufklärung, des Deutschen Idealismus und der Romantik diametral entgegengesetzt.

Beuys wurde in der Nachkriegszeit, Mitte der 50er Jahre, in eine tiefe Sinnkrise geführt, in der er, so Blume, ,wohl erstmals realisierte, woran er sich als junger Fliegersoldat beteiligt hatte’. Was aber dann geschah, war eine tiefe Heilung, ein tiefes Freiwerden, eine wirkliche Auferstehung: Beuys erfuhr eine wirkliche Neugeburt – und vollzog zugleich eine tiefe Neuschöpfung. Er wandte sich radikal einer Freiheitssphäre zu, in der er sich mit jenen Intuitionen verband, die er als heilend und zukünftig erkannte:

Beuys hat sich auf Rudolf Steiner und u.a. auf dessen Entdeckung der Dreigliederung des gesellschaftlichen Organismus berufen und mit ihm die uneingelöste Forderung der Französischen Revolution von 1789 nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit auf das Geistesleben, Rechtswesen und die Wirtschaft bezogen.

Für die Freiheit im Geistesleben setzte er sich zum Beispiel dadurch ein, dass er den staatlich verordneten ,Numerus clausus’ missachtete und alle Kunststudenten aufnahm, die ein Studium beginnen wollten – was ihn die staatliche Lehrbefugnis kostete. Stattdessen gründete er die Freie Internationale Universität – die eine Stätte freien Geistes sein sollte, wie sie auch von Humboldt, Schleiermacher, Fichte und anderen angestrebt worden war.

Wie sehr die Anti-Freiheit des Geisteslebens unserer Gesellschaft unter der Diktatur des Mammon voranschreitet, wie sehr die geistige Verwüstung und damit auch die äußere generell immer weiter zunimmt, zeigt sich an unzähligen Symptomen. Und der langjährige Museumsleiter weist nur auf ein sehr dramatisches dieser schwerwiegenden Krankheitssymptome des sozialen Organismus hin: ,Auch Museen arbeiten zunehmend unter wirtschaftlichen Prämissen, produzieren angepasste populistische Programme zugunsten der Erhöhung von Besucherzahlen.’ Wenn aber Museen populistische ,Kassenschlager’ brauchen, um ,Besucherzahlen zu generieren’, dann steht eine Gesellschaft kurz vor dem seelisch-geistigen Kollaps.

Beuys ungeheurer Impuls – unverstanden

Beuys suchte überall die echte Belebung, suchte seelisch-geistiges Leben zu erwecken. Er suchte immer wieder die Begegnung, das Gespräch – und ist gerade in diesem Punkt der noch immer Unverstandene:

Der sprachliche Austausch, die permanente Konferenz, kurz das Sprachwerk von Beuys, was ich als seine umfassendste Plastik verstehe, ist der nach seinem Tode am meisten negierte Teil seines Oeuvres. In der relativistischen Gestimmtheit einer neoliberalen Wirtschaftskultur in der die Dinge nur durch geldwerten Tausch ihre Realität bezeugen, geraten die der Nuance verpflichteten Impoderabilien unter Verdacht unwahr oder nicht real zu sein.

Dies zeigt schlicht den ungeheuren Niedergang des Geistes – wie er sich gerade im Nichtverstehen und Nicht-ernst-Nehmen von Beuys’ Impuls beispielhaft, ja fast urbildlich offenbart. Hiermit beweist die Postmoderne, dass sie den geistigen Ursprung des Menschen verraten hat. Unter Verweis auf ein Zitat von Heidegger lenkt Blume den Blick auf die Tatsache, dass im griechischen Mythos Mnemosyne die Mutter der Musen und damit der Künste ist. Mnemosyne aber ist die Göttin der Erinnerung und bedeutet Erinnerung. Sie ist ihrerseits die Tochter des Himmels und der Erde (Gaia und Uranos), steht also in innigster Beziehung zum kosmischen Ursprung. Wahre Kunst ist damit nur aus der Erinnerung heraus möglich – aus einem Geist-Bewusstsein heraus, dass seinen eigenen Ursprung nicht vergessen hat, nicht verrät, nicht verleugnet.

Beuys wies auf den Künstler in jedem Menschen – aber damit wies er auf nichts anderes als auf sein Geistwesen, sein individuelles, einzigartiges Fähigkeitenwesen, das Geist ist. Wird dieser Geist verschüttet, wird auch der Künstler verschüttet – und der Mensch hört auf, mit den Quellen seiner schöpferischen Fähigkeit verbunden zu sein ... und erstarrt. Heidegger sprach in seiner ernsten Schrift ,Was heißt Denken?’ davon, dass die Menschen noch gar nicht denken, weil dies erst da begänne, wo man ,das Bedenklichste’ denken würde. Was aber ist das Bedenklichste? Es ist der Verlust des Schönen und Wahren im tiefen Sinne des Idealismus – und dieser Verlust hat einzig und unmittelbar damit zu tun, dass der Mensch seinen eigenen Ursprung verloren und verraten hat. Dass ihn das Schöne und Wahre gar nicht mehr (nennenswert) interessiert. Damit aber entzieht es sich – und ,die Wüste wächst’. Und der Mensch denkt nicht mehr, es ist allenfalls noch ein oberflächliches ,Gedankenhaben’, wovon ja auch Rudolf Steiner sprach.

Mit seinem Aufsatz hat Blume ein klares Licht auf größte Perspektiven geworfen. Beuys wollte das wesenhaft Geistige im Menschen wieder befeuern, bevor es ganz erlischt. Man sah in ihm nur den ,Schamanen’, ja ,Scharlatan’ – aber man sah nicht, wie unendlich viel seine Installationen, seine Aktionen, sein ganzer Impuls enthielt. Er enthielt tatsächlich nicht weniger als die Rettung der menschlichen Seele – und ihres Zusammenhanges mit einer sie umgebenden, universell lebendigen und auch übersinnlichen Welt. Eines im wahrsten Sinne lebendigen Kosmos. Einer Ganzheit. Der ganze Mensch – und der ganze Kosmos im Sinne eines lebendigen Beziehungsgefüges. Und im lebendigen Zentrum, ja das lebendige Zentrum dieses Ganzen jenes Wesen, das von sich selbst sagte: ,Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben’.

Beuys war einer der wecken wollte – und der auf einzigartig-individuelle Weise sein Bestes versuchte und eine unglaublich künstlerische Genialität für diesen Impuls hingab. Ein Leben.

,Das Bewegungselement schlechthin’

Der erweiterte Kunstbegriff ist nichts anderes als der absolute Hinweis auf das Wesen des Menschen. Aber der Mensch hat und ist dieses Wesen dank des Logos-Wesens, das das Schöpferwesen von allem ist – auch des Menschen. Den Menschen aber hat es selbst zum Schöpfer gemacht. Nicht nur dieses Wesen hat gesagt ,Siehe, ich mache alles neu’ (Off 21,5) – sondern auch der Mensch kann alles in alle Richtungen gestalten, er ist das Freiheitswesen schlechthin. Er muss nur eines tun: diese Freiheit ergreifen, in seinem innersten Wesen. Im Erleben des Freiheitspunktes aber erlebt er, dass ein Wesen dieses Mysterium schenkt – die Verbindung des menschlichen Wesens mit der Freiheitssphäre.

Die Christuskraft, das Evolutionsprinzip kann nur aus dem Menschen quellen, es kann aus dem Menschen hervorbrechen, denn die alte Evolution ist abgeschlossen. | Das ist der Grund der Krise. Alles was an Neuem sich auf der Erde vollzieht, muss sich durch den Menschen vollziehen… Wer mit dem inneren Augen zu sehen sucht, der sieht, dass der Christus längst wieder da ist. Nicht mehr in einer physischen Form, aber in der b e w e g t e n Form, einer für das äußere Auge unsichtbaren Substanz. Das heißt, er durchweht jeden einzelnen Raum und jedes einzelne Zeitelement substanziell. Also ist er ganz nah da… | Die Form, wie diese Verkörperung Christi sich in unserer Zeit vollzieht, ist das Bewegungselement schlechthin. Das sich B e w e g e n d e… Es ist also das Auferstehungsprinzip: die alte Gestalt, die erstirbt oder erstarrt ist, in eine lebendige, durchpulste, lebensfödernde, seelenfordernde, geistfördernde Gestalt umzugestalten. Das ist der erweiterte Kunstbegriff.
Beuys in: Volker Harlan: Was ist Kunst? Werkstattgespräch mit Beuys. Stuttgart 2011.

Und mit dieser Erkenntnis steht Beuys in unmittelbarer Tradition der großen Vertreter des Deutschen Idealismus, die diesen Ursprungspol des Menschen, diese Sphäre, wo der Mensch tatsächlich MENSCH ist, ebenfalls gesucht und beschrieben haben – allen voran Schiller und Novalis. Beuys ist daher einer der größten Geistes-Boten des letzten Jahrhunderts gewesen. Und der große Brückenbauer war Rudolf Steiner, der das Tor zu einer bewussten Geist-Erkenntnis weit aufgestoßen hat. Beuys hat sich auf seine Weise in eine absolute Zukunftssphäre hineingestellt – und er hat den Menschen die Augen dafür geöffnet, dass diese existiert ... und dass sie wartet...

Für die meisten Menschen bleibt es jedoch leider weiter eine Tatsache, dass sie schlafen – und schlafen wollen. Dass es ihnen egal ist, was die größten Fragen der Menschheit sind – und wo sie entschieden werden. In Goethes Wilhelm Meister (Lehrjahre, 7. Buch, 9. Kapitel) bekommt jener einen Lehrbrief, in dem in dichter Form tiefe Grundwahrheiten ausgesprochen sind. Dort heißt es:

Die Kunst ist lang, das Leben kurz, das Urteil schwierig, die Gelegenheit flüchtig. Handeln ist leicht, Denken schwer; nach dem Gedanken handeln unbequem. [...] Die Nachahmung ist uns angeboren, das Nachzuahmende wird nicht leicht erkannt. Selten wird das Treffliche gefunden, seltner geschätzt. Die Höhe reizt uns, nicht die Stufen; den Gipfel im Auge, wandeln wir gerne auf der Ebene. Nur ein Teil der Kunst kann gelehrt werden, der Künstler braucht sie ganz. Wer sie halb kennt [...] [jene] haben keine Geheimnisse und keine Kraft, ihre Lehre ist wie gebackenes Brot schmackhaft und sättigend für einen Tag; aber Mehl kann man nicht säen, und die Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden. Die Worte sind gut, sie sind aber nicht das Beste. Das Beste wird nicht deutlich durch Worte. Der Geist, aus dem wir handeln, ist das Höchste. Die Handlung wird nur vom Geiste begriffen und wieder dargestellt. [...] Des echten Künstlers Lehre schließt den Sinn auf; denn wo die Worte fehlen, spricht die Tat. Der echte Schüler lernt aus dem Bekannten das Unbekannte entwickeln und nähert sich dem Meister.

In diesem Sinne kann man nur eines noch hoffen: dass die Sehnsucht in den Seelen der Menschen wachsen wird. Beuys hat sie berührt, aber viele Seelen sind sich selbst zu fern geworden. Mögen sie eines Tages daran leiden... Denn dann werden auch sie beginnen, sich zu bewegen – und dann wird der Tod ein Ende haben und etwas Neues beginnen. Eine Art Heimkehr, die aber zugleich eine neue Schöpfung sein wird. Und man wird sich erinnern. An das eigene Wesen, des Menschen – und auch an Beuys.