05.06.2021

Klarer Geist und reines Herz

Zur Rettung der menschlichen Seele.


Inhalt
Von tiefster Dekadenz
Beispiel Rudolf Steiner
Aufgeschlossene Seelen?
Was bedeutet ,klarer Geist’?
Von der Zartheit des Neuen
,Jeder Mensch ist ein...’?
Die befreiende Wahrheit
,Kraftvergeudung’ als nährendes Mysterium
Vom Nicht-geboren-werden-Wollen
Und wenn der Weg zu Beuys zu weit ist?
Mädchenherz
Mnemosyne und Menetekel
Das Schöpferische der Unschuld
Das Mädchen als Zukunft
Die Unschuld als Essenz
,Plastik tötet das letzte Einhorn’
Die Realität des Einhorns
Vom Wesen der Ent-führung
,echt müll’
Das Vollidiotentum der Postmoderne
Das Mädchen als Wesen des Lebens
,Unemanzipative Imagination’?
,Tue nun Herz-Werk...’
Hingabe und Bewusstsein
Gendersternchen in einer maskulinen Schein-Welt?
Was die Postmoderne bekämpft
Nur ein Quentchen Vernunft?


Von tiefster Dekadenz

Vor einigen Tagen schrieb ich ausführlich über ,Beuys und das Mädchen’. Daran möchte ich heute anknüpfen.

Die Frage ist: Sind wir uns darüber klar, dass wir unsere Seele verlieren? Nein, natürlich nicht – denn dafür bräuchte man eine spirituelle Weltanschauung, und dann noch eine sehr bestimmte.

Wer keine spirituelle Weltanschauung hat, der lebt einfach so dahin – und die Dinge sind eben, wie sie sind. ,Gut’ oder ,schlecht’, sehr selbstbezogen betrachtet. Oder er ist vielleicht sogar gesellschaftlich oder politisch engagiert, damit bestimmten Idealen verbunden – aber weiß überhaupt nicht, was Ideale ihrem tiefsten Wesen nach sind. Auch dies nimmt er einfach hin.

Alles wird einfach hingenommen. Wir haben verlernt zu staunen. Wir haben die Ehrfurcht verloren. Wir sind profan geworden – in gewisser Weise sogar vulgär. Denn wir kümmern uns ,einen Dreck’ um das wahre Wesen des Menschen – kennen es nicht mehr und wollen es auch gar nicht kennen. Bezeichnen spirituelle Weltanschauungen, die es wieder kennen, als ,Spinnerei’. Und so ist die Seele endlos, wirklich endlos tief gesunken.

Und das Endlose drückt sich gerade darin aus, dass sie sich einen Dreck dafür interessiert, wie sie gesunken ist. Sie fühlt sich ja gar nicht gesunken – sie fühlt sich wunderbar. In all ihrem Elend...

Einer a- oder sogar antispirituellen Seele kann man von Spiritualität gar nicht sprechen – es wäre, wie wenn man einem Blinden von Farben sprechen wollte. Man spricht zwei verschiedene Sprachen und hinüber gibt es keinen Weg. Denn das Auge des Geistes im Anderen ist blind, gar nicht vorhanden, und das Tor des Herzens ist verschlossen, auch nicht vorhanden.

Christus sagte: ,Lass die Toten ihre Toten begraben.’ (Lk 9,60). Daran fühlt man sich erinnert – wenn man sieht, wie Menschen Befriedigung finden in einer geistlos gewordenen Welt; die großen Fragen abgeschrieben haben, nicht einmal mehr persönlich haben: Was kommt nach dem Tod? Was war vor der Geburt? Wie ist die Welt entstanden? Gibt es Engelwesen?

Der Materialismus ist als allgemein herrschende Grundstimmung so beherrschend und so lastend geworden, dass es unzähligen Menschen geradezu peinlich vorkommt, überhaupt noch in eine andere Richtung zu denken. Und so ,belastet’ man sich damit gar nicht erst, schwimmt einfach mit im Blei-Strom der allgemeinen Sinnlosigkeit, die als die angebliche Wirklichkeit verkauft wird.

Ist dies nicht tiefste Dekadenz? Der Mensch als das Wesen, das Fragen stellen kann – das einzige auf Erden – und er tut es nicht mehr! Nicht die großen, nicht mehr die Ur-Fragen – erdrückt von einer materialistischen Wissenschaft, die angeblich alle Antworten schon gegeben hat. Und das Wesen Mensch lässt sich erdrücken. Armselig!

Religionen etc. dürfen dann noch existieren als ,persönliche Seelenbeglücker’ – aber die große Welt rollt darüber hinweg. Ob man nun subjektiv-privat ,Christ’ oder ,Buddhist’ oder was-auch-immer ist – der große Materialismus und Kapitalismus hat die ganze Erde überzogen, und es ist ihm stink-egal, womit der Einzelne in seinen armseligen vier Wänden ,glücklich’ wird. Die eine Totalreligion ist der materialistische Kapitalismus – hier kann sich niemand entziehen. Jeder unterwirft sich – und der Dämon vernichtet die Welt, Tag für Tag.

Das ist die absolute Bankrotterklärung des menschlichen Geistes. Und sobald sich eine Stimme erhebt, die wieder auf den Geist verweist – sammeln sich gleich Tausende, um sie wieder zu ersticken und auf jede erdenkliche Art zu morden. Wir kennen die Mechanismen: Totschweigen. Wenn das nicht geht, lächerlich machen. Wenn das nicht geht, diffamieren. Wenn das nicht geht, auf jedwede andere Art bekämpfen.

Beispiel Rudolf Steiner

Nehmen wir Rudolf Steiner. Kaum trat er auf, wurde er bekämpft – damals insbesondere von der katholischen Kirche. Die Wissenschaft hatte es schon schwerer, denn sie wusste selbst, dass sie über viele Gebiete gar keine Aussagen treffen konnte. Aber heute löst man auch dieses Problem ,elegant’: Man bezeichne einen Mann, der die Tore zum Geist wieder aufstieß, die Wege zur Geist-Erkenntnis wieder offenlegte, einfach als ,rassistisch angehaucht’ – und das ,Problem’ erledigt sich von selbst.

Und warum? Weil bei bestimmten Worten das Denken aussetzt. Man muss sie nur fallenlassen – und eine Person wird zum absoluten Pariah. Niemand will mehr etwas damit zu tun haben. So arbeitet die Lüge. So arbeitet die Ungeistigkeit, so arbeitet die stinkende Faulheit. So arbeiten Kleingeister, die sich für moralisch Auserwählte halten, wenn sie anderen Leuten nachplappern, dass man bei dem-und-dem das-und-das gefunden habe und er darum ,nicht mehr diskutabel’ sei. Die Armseligkeit eines solchen ,Urteils’ müsste man einmal empfinden!
Mit Wahrheitsliebe hat das nichts zu tun – eher mit dem vollen Gegenteil. Die angebliche ,political correctness’ erstickt manchmal geradezu an ihrer eigenen Selbstgerechtigkeit. Mehr dekadenten Hochmut hatten auch nicht die römischen Cäsaren, wenn sie angesichts eines Gladiatoren, der ihnen nicht gefiel, den Daumen nach unten streckten. Oder die selbstgefälligen Pharisäer, die einen Christus ans Kreuz schlugen, weil er – Gott lästerte!

Wie bitte? Ja, Jesus hatte gesagt: ,Ich und der Vater sind eins.’ Das war ungefähr das, was heute schlimmster Rassismus ist. Die Frage ist nur, wer die Definitionsmacht hat. Wenn es aber nun gar keine Gotteslästerung war?

Und wenn es tiefste Gotteslästerung ist, einem absoluten Wegbereiter des Geistes die Worte im Munde herumzudrehen und aus seinem Hunderttausend-Seiten-Werk die Handvoll Stellen aufzuklauben, die es einem ermöglichen, ihn als ,rassistisch angehaucht’ hinzustellen? Ja, das ist es – Gotteslästerung. Denn es lästert den Geist des anderen Menschen, der so unendlich anders ist, als man es mit seiner Afterweisheit hinfabriziert. Und anstatt wie ein Hund im Kadaver zu wühlen, sollte man lieber einmal zur Kenntnis nehmen, was die 99,97 % des Werkes ausmacht, die man nicht missbraucht hat – es sei denn, man hat auch hier weiter alles nachgeplappert, was die Hunde auf der Straße bellen.

Der Teufel fürchtet das Weihwasser – und die materialistisch degenerierte Seele hat einen ungeheuren Hass gegen den Geist, weil sie ihn unglaublich fürchtet. Man könnte sagen: Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht – wenn es nicht so tragisch wäre. Denn jede einzelne Seele kennt den Geist, sie ist von ihm stammend, aber sie verleugnet ihn: und das ist tausendmal schlimmer. So begeht sie nicht nur geistigen Mord an dem Menschen, der so sehr den Weg zum Geist wies wie kein anderer – sondern Mord an sich selbst. Sie schließt sich selbst ab von den Quellen des Geistes ... die auch in ihr wieder fließen wollten. Sie hat den Zugang völlig verloren. Sie gräbt sich ein in die Bleikammern des Materialismus. Verloren. Wenn kein Wunder geschieht.

Rudolf Steiner wies darauf hin, dass alles, was mit ,Rassen’ zu tun hat, längst aufgehört hat zu existieren. Dass aber das Individuelle dasjenige ist, was das tiefste ,Gesetz’ der Zukunft sein wird – und dass enorme Kräfte dem entgegenarbeiten werden: das Individuelle zur Wirksamkeit kommen zu lassen. Und wir können hinzufügen: Diese Gegenkräfte können sich gerade als pseudo-individuell tarnen. Man denke nur an das materialistische Massenangebot, in dem alle mit der Botschaft des ,Individuellen’ kommen (,Denn es werden falsche Christusse und falsche Propheten aufstehen’, Mt 24,24). Denn man ist ja, ach so ,individuell’, wenn man den neuesten Nike-Schuh hat, das neueste Nokia, das neueste Ikea-Regal. Und wie die gesamte EU-Apparatur das ,Individuelle’ preist, die Entwicklung von ,Kompetenzen’ etc. etc. – und doch nur das Bildungswesen immer weiter darauf zurichtet, dass Menschen ,produziert’ werden, die keine Fragen stellen, ihre Bedürfnisse im Privatleben ausleben, aber ansonsten gut ,funktionieren’ – für den ,europaweiten Arbeitsmarkt’ mit seinen ,steigenden Anforderungen’ an ,Flexibilität’ und anderen Segnungen des Turbokapitalismus mehr.

Aufgeschlossene Seelen?

Rudolf Steiner hat vor all diesen Dingen schon vor hundert Jahren weitsichtig gewarnt. Er wusste, dass dies alles kommen würde – und auch vor hundert Jahren wurde das Individuum ja unterdrückt. Wir sollten uns aber nicht einbilden, dass die Entwicklung steil aufwärts zu immer mehr Individualismus geführt habe. Es könnte sein, dass wir hier allergrößten Täuschungen unterliegen! Ja, die gigantische Explosion materialistischer ,Wertschöpfung’ hat das Privatleben geradezu in ein ,Schlaraffenland’ verwandelt. Wir sind eine ,mustergültige Demokratie’ etc. etc. Aber hinter den Kulissen dieses Lackes stimmen die Teufel doch bereits längst ein ungeheures Gelächter an. Ich will hier nicht unbedingt die vielfach berechtigte Rede von unsichtbaren Strippenziehern wiederholen – genauso gut könnte man sagen, die ganzen Figuren auf der politischen Bühne wissen selbst nicht, dass sie genau dies sind: bloße Figuren, die keine einzige wesentliche Entscheidung mehr treffen.

Weil das einzige Wesentliche heute sein müsste: dem Verständnis des MENSCHEN wieder Bahn zu brechen – aber wie soll das gehen, wo doch alles zu seiner Erstickung angetreten ist? Es ist doch nirgendwo mehr freier Himmel sichtbar, nirgendwo mehr Luft zum Atmen – die Geistfeindlichkeit ist eine allgemeine Atmosphäre geworden, und selbst aufgeschlossene Seelen können nicht einmal mehr nachvollziehen, wovon man redet! Das beweist doch, wie sehr die anti-geistigen Mächte, Kräfte und Entwicklungstendenzen auf ganzer Linie gesiegt haben!

Aber gibt es sie denn noch? Wirklich aufgeschlossene Seelen? Woran sollte man sie denn erkennen? Es gibt diesen frühen Science-Fiction-Film, der beschreibt, wie die Menschheit von Außerirdischen unterwandert werden, die die Körper der Menschen übernehmen, sodass man denkt, man hätte einen Menschen vor sich, aber das stimmt gar nicht... Woran aber würde man einen Marsianer erkennen? Die Wahrnehmung verwirrt sich. Woran erkennt man Menschen? Und jetzt, hier, die Frage: Woran würde man aufgeschlossene Seelen erkennen? Was wäre, wenn selbst die Aufgeschlossenheit nur ... eine Illusion wäre? Woran würde sich wirkliche Aufgeschlossenheit einer Seele zeigen? Denn dass etwas da sein könnte, was wie Aufgeschlossenheit wirkt, heißt ja noch nicht, dass wesenhaft etwas da ist, was diesem Begriff wirklich entsprechen könnte. Was, wenn selbst die ,aufgeschlossenste’ Seele es nicht mehr vermögen würde, das Geistige zu begreifen? Dann befänden alle Seelen sich wirklich in einer ,okkulten Gefangenschaft’, aus der es keinen Ausweg mehr gäbe...

Woran also würde man aufgeschlossene Seelen erkennen? Man würde sie daran erkennen, dass sie noch verstehen können, was mit der subtilen Verschüttung alles Individuellen gemeint ist – und sei es unter der Schein-Flagge des (Pseudo-)Individuellen. Dass sie verstehen würden, wenn man auf das Lähmende hinweist, das Vereinheitlichende, das Kontrollierende, auf all jene Tendenzen, die im angeblichen Dienste der ,Globalisierung’ gerade zur Vereinheitlichung führen – zwar ,Diversity’ predigen, aber die Verwässerung, ja Beseitigung aller wesentlichen Unterschiede meinen. Denn wenn irgendwann ,der letzte Baum gefällt ist’ und jeder Arbeitsplatz Amazon oder Google oder Instagram gehört, wird es auch egal sein, welche Hautfarbe ich habe, ob ich Nike- oder Puma-Schuhe trage und welche Aspekte von ,Individualität’ ich mir sonst noch einbilde – die schöne neue ,Diversity’-Welt wird eine sein, in der alle gleichermaßen versklavt sind – durch tausende kleine subtile Zwänge, Kontrollen und Ketten. Und aus allen Lautsprechern wird tönen, wie schön ,frei’ diese Welt ist, wie demokratisch, wie ,divers’ und wie überhaupt optimal...

Aufgeschlossene Seelen würde man daran erkennen, dass sie begreifen – mit ihrem Denken, ihrem Herzen, ihrer ganzen Seele –, dass wir in der ungeistigsten aller Zeiten der gesamten Menschheitsgeschichte leben, und dass es gerade diese Ungeistigkeit ist, die auch in eine immer größere Unfreiheit führen wird und wir schon mitten auf dem Weg dorthin sind. Denn eine dumpfe Verwaltungs- und Kontroll-Logik hat die Macht übernommen, zusammen mit der ungebremsten Macht des Kapitalismus und Materialismus. Und dieses machtvolle Zusammenspiel wird das wehrlose eigentliche, wahre Wesen des Menschen so sehr an die Wand drücken, dass nichts mehr davon übrig bleiben wird – und das Schlimmste ist, ich wiederhole es: Die wenigsten begreifen bereits jetzt überhaupt noch, wovon man eigentlich redet. Denn sie kennen schon jetzt das Geistige nicht mehr. Was also soll schon Schlimmes verloren gehen? Die meisten Seelen werden auch mit einer dystopischen Zukunft von ,Brot und Spiele’ zufrieden sein – weil sie nichts anderes mehr kennen werden.

Was bedeutet ,klarer Geist’?

Das wahrhaft Menschliche ist nur zu retten, wo klarer Geist dieses wahrhaft Menschliche wahrmacht. Andernfalls hat das tief Menschliche bereits aufgehört zu existieren. Wurde verleugnet, mit Füßen getreten, blind ignoriert – aber nicht geliebt, gewusst, als tiefstes Wesen des Menschen erinnert.

Klarer Geist – aber was ist das? Ich meine hier nicht jene spirituellen Ansätze, die allzu schnell und allzu leicht beanspruchen, das eigene Bewusstsein zu einem ,reinen Spiegel’ zu machen und sich dann ,wunschlos-glücklich’ und ,erleuchtet’ zu fühlen. Meist sind diese Dinge viel zu seicht – und fast immer auf eine gewisse Art der Loslösung von den Dingen gerichtet, so, wie auch Buddha sich lösen wollte. Der spirituell-christliche Weg ist aber gerade ein grundlegend anderer: Er führt zu einem tief liebenden Sich-Verbinden und Eintauchen. Christus bringt den Liebes-Impuls, nicht den der Entsagung und Loslösung.

Und so bedeutet auch ,klarer Geist’ in diesem Sinne ein intensiv-inniges Tätigsein des seelisch-geistigen Wesens des Menschen. Ein Entfalten innerer Aktivitätskraft – seelisch, gedanklich, empfindungsmäßig –, die sich durch ihre eigene Entfaltung ihres eigenen seelisch-geistigen Wesens bewusst wird und dieses durch Verwirklichung wahrmacht. Fortwährend. Immer wieder neu. Klarer Geist bedeutet: Anwesenheit des innerlich innig-aktiven Wesens des Menschen. Damit beginnt es. Und diese Kraft wird, indem sie immer wieder neu hervorgebracht wird, stets stärker, auch stets klarer, kann als Kraftentfaltung mit Bewusstsein immer mehr anwesend in sich selbst bestehen – und es wird absolut undenkbar, den Menschen nicht als ein seelisch-geistiges Wesen zu erleben, denn diese Wirklichkeit wird unmittelbar und fortwährend von einem selbst hervorgebracht.

Zugleich damit aber erkennt man das ganze Ausmaß der Verschüttung und des Verschwindens des Menschenwesens überall. Seine Nicht-Anwesenheit. Der bewusstlose Schlaf der Menschen. Das gewöhnliche Leben, das gerade so verläuft, dass diese unendlich gesteigerte Aufmerksamkeit und Kraftentfaltung nicht geschieht. Damit aber ist der volle Mensch nie anwesend. Der wahre Mensch bleibt nicht-anwesend, er ist nicht da.

Und für die tätige Seele, innerliche Aktivität entfaltende Seele, die in diesem wahrhaftigen Anwesend-Sein den eigentlichen Beginn des Menschentums erkennt, ist das Erleben, wie fast alle anderen Seelen ohne dieses Mysterium dahinleben – gleichsam schlafend – ein furchtbares. Denn sie weiß, dass das wahrhaft Menschliche auch im Großen, im Wesen des menschlichen Zusammenlebens, sich niemals ereignen wird, solange dieser Schlaf währt. Das Nicht-Wahrmachen des Menschlichen zunächst in der eigenen Seele, als Einzelseele. Das In-die-Anwesenheit-Bringen des eigenen, einzelnen Wesens. Bevor dies nicht geschieht, ist auch die Hoffnung auf anderes vergebens.

Und die größte Sehnsucht einer so ins wirkliche Leben gefunden habenden Seele – ein Weg der damit überhaupt nicht zu Ende ist, sondern überhaupt erst begonnen hat! –, ist, dass sich dieses ,Lebens-Kraft-Licht’ ausbreitet. Dass auch andere Seelen dieses wahre, heilige Menschentum finden, sein Mysterium. Dass Schlaf und Seelenfinsternis aufhören mögen. Dass die Verleugnung des Geistigen aufhören möge. Dass die Seelen wieder beginnen zu verstehen... Eine Sehnsucht gewinnen. Ein reines Streben – nach Licht, nach Kraft, nach Wahrheit, nach Wirklichkeit, nach wirklichem Mensch-Sein, nach Entfaltung dieses Mysteriums, weil es ohne Entfaltung nicht vorhanden ist.

Von der Zartheit des Neuen

Erst jene Seele, die in dieser Art innig innerlich-aktiv wird, kann dann begreifen, wie groß und wie geistdurchwoben, auch von Lebenskräften durchwoben die Welt und alles überhaupt ist. Als eine Wahrheit verstehen kann man dies schon vorher – aber nun kann man beginnen, es begreifend zu erleben. Denn das, was durch die innere Kraftentfaltung, Wesensentfaltung innerlich in einem wächst und zunimmt, das ist zugleich seelisch-geistiges Sinnesorgan für anderes Seelisch-Geistiges. Wo die Seele früher blind war, wird sie nun immer sehender, immer empfindsamer, immer fühlender, immer erlebender – und sie war bis dahin nur deshalb blind, weil sie gar nicht anwesend war. Sobald sie aber anwesend ist, treten nach und nach auch alle anderen Wirklichkeiten in die Anwesenheit – werden erlebbar, weil sie immer schon anwesend waren, nur die Seele war es nicht.

Die übersinnlichen Wirkungen und Wirklichkeiten sind zunächst fein – aber auch das Seelische ist ja zunächst viel feiner als das Physisch-Materiell-Stoffliche. Aber für die seelisch-geistigen Wesen und Wirklichkeiten ist es umgekehrt: Für sie ist der Mensch gleichsam gar nicht vorhanden, solange er dumpf und ungeistig dahinlebt. Das Wesentliche ist für die (äußeren) Augen unsichtbar. Das ist eine tiefe Wahrheit. Erst wenn sich die Augen der Seele öffnen, wird das Wesentliche und Wesenhafte erlebt – und dieses wird dann als unendlich wirklicher erlebt als alles bloß Äußere.

Und dennoch: Zunächst dringen die nicht bloß physisch-materiellen Wirklichkeiten als zarte Erlebnisse zur Seele durch. Aber das ändert nichts an ihrer Fülle. Denn die Welt ist durchdrungen von Übersinnlichem – und der Mensch ist umgeben davon. Wäre ihr Erleben nicht zunächst zart, würde der Mensch von dem, was ihn umgibt und sogar durchdringt regelrecht überwältigt. So und noch unendlich viel stärker, wie einen bereits ein Sonnenuntergang überwältigen kann, wenn man ihn mit allen Sinnen der Seele erlebt – auch den übersinnlichen... Auch solche Erlebnisse wären ein Beginn für das Erleben noch viel weitergehender Wirklichkeiten, für die die Seele offen werden kann, wenn sie erst einmal begonnen hat, ihr eigenes Wesen durch innige innere Tätigkeit ins Leben zu rufen.

Und dann beginnt das kleine Weltbild des Menschen endgültig zusammenzubrechen – und es wird groß. Es wird groß, weil die Erlebnisse und Empfindungen der Seele groß werden – weil sie ungeheure Zusammenhänge, Wirksamkeiten, Kräfte und Wesen wahrzunehmen oder zunächst leise zu ahnen beginnt. Immer stärker. Immer klarer. Sie dringt zur vollen Realität durch – und diese zu ihr. Es erschließt sich das Große. Und inmitten dieser unendlichen Fülle von Wahrnehmungen und Wirklichkeiten, Kräften und Wesenhaftigkeiten (die zunächst vielleicht gar nicht verstanden werden, sondern eben nur wahrgenommen) wird der Mensch zunächst klein, kann wieder Staunen und Ehrfurcht lernen.

Aber seine Kleinheit ist ja nur scheinbar. Sein heiliger Adel besteht ja darin, dass er all dies immer tiefer wahrnehmen – und auch immer tiefer erkennen kann, dass gerade ihm diese höchste Fähigkeit zugedacht ist. Und über die Fähigkeit der Demut wird der Mensch gerade ein höchstes Wesen – während sein heutiger postmoderner Hochmut auf seiner Blindheit und Kleinheit beruht. Der innerlich erwachende Mensch wäschst überhaupt erst aus der Winzigkeit heraus – und heute ist der gewöhnliche Mensch gerade die winzigste Ameise, ein regelrechtes Nichts. Je mehr er sich einbildet, desto weniger ist er.

Der Mensch ist um so größer, je größer sein Weltbild ist, je größer sein Erkennen ist – und er ist um so winziger, je winziger und armseliger sein (materialistisches) Weltbild ist. Der materialistische Mensch ist tatsächlich nur das Staubkorn, als dass er sich im Weltganzen sieht – aber nicht, weil diese Sicht wahr wäre, sondern weil sein Erkennen nur so umfassend ist wie ein Staubkorn und weil er aus seinem Wesen ebenfalls nicht mehr macht als ein Staubkorn. Würde er sein Wesen entfalten, so entstünde etwas viel Größeres – und das Erkennen hätte keine Grenzen. Und der Mensch würde gleichzeitig die Zusammenhänge erkennen, die sein Wesen mit allem übrigen hat, was nun in sein Wahrnehmen und Erkennen eintritt. Und während er sich zunächst klein fühlen könnte, wächst sein Wesen mit allem mit, was es mehr und mehr erkennt – und erkennt mehr und mehr auch ... die Größe des MENSCHEN.

,Jeder Mensch ist ein...’?

Aber wer kann diesen Weg betreten, wer kann auf diesem Weg folgen? Und die Frage ist bereits falsch gestellt, denn sie muss richtig lauten: Wer will dies? Wer vermag den Willen zu diesem Weg zu entfalten?

Wer das zuvor Beschriebene wirklich mit der Seele begreifen würde – dieser vielleicht. Wer davon berührt würde, weil er tatsächlich die Wirklichkeit dessen ahnt, oder wer sie ahnt, weil er berührt wurde – dieser vielleicht... Aber wer sonst? Und wie viele werden das sein? Eine Handvoll? Weniger?

Und alle anderen werden den Willen nicht entfalten, werden keinen einzigen Schritt machen – weil sie es nicht wollen, weil sie es nicht verstehen, weil sie nicht berührt wurden, weil es sie völlig kalt lässt oder zumindest schlicht hauptsächlich kalt. Zu kalt eben. Seelen, die weiterhin schlafen und weiterhin gestorben sind, weil sie weiterhin nicht existieren – sich nicht ins Leben rufen. Seelen, die übersinnlich gesehen dahinvegetieren, wie sie es zuvor schon taten. Seelen, in denen sich nichts geändert hat und die selbst nichts ändern. Seelen, die sich wie der Stein im Vorher und Nachher völlig gleichen. Nichts ist geschehen, nichts wird geschehen – und Christus sprach: ,Lass die Toten ihre Toten begraben.’

Wie viele Seelen also werden erkennen, was der Mensch ist und sein sollte – wahrmachen sollte, aber in jedem Moment auch vollkommen verraten kann?

,Jeder Mensch ist ein Künstler’ – damit ist in tiefstem Sinne eben nicht eine postmodern-oberflächlich verstandene ,Selbstverwirklichung’ gemeint, wie sie etwa die Nike-Werbung und tausend andere Botschaften ebenfalls suggerieren, sondern ein tiefes, heiliges Bewusstsein vom Wesen des Menschen. Und im Grunde wäre genau dies: Anthroposophie. Und einmal sagte Beuys auch: ,Jeder Mensch ist ein Anthroposoph’ (hier bei 59:40 min). Aber das ist das Potenzial. Aber selbst ein König, der nicht weiß, dass er ein König ist, ist keiner. Wenn er es nicht wahrmacht, dann ist er kein König. Es geht hier um heiligste Fragen – und bereits an der Frage, ob man dies empfindet, entscheidet sich alles. Wer die Frage nach dem Menschen nicht als eine heiligste, tiefste erkennt, hat sie noch nicht einmal ansatzweise verstanden. Er ist noch blind und taub, Sklave seines eigenen Bewusstseinsschlafes.

Die Frage nach dem Menschen ist groß – sie ist weltenweit groß, weil das Menschenwesen in Wirklichkeit mit unzähligen Wirksamkeiten, Kräften und Wesenhaftigkeiten anderer Art verbunden ist und über diese wieder mit dem ganzen Kosmos – dieser nun wiederum nicht als unendlicher, toter Raum verstanden, sondern als lebendiges, heiliges, vielfältigstes Ganzes. Nur der originale griechische Begriff des kosmos enthält all dies in seiner Bedeutungsfülle, zusammen mit dem darin liegenden, übersinnlichen Schönheitsglanz. Die Frage nach dem Menschen ist also unendlich groß, und die Seele wird gleichsam schon dadurch ,geweiht’, dass sie sie in aufrichtigster Weise stellt – denn in dem Moment tritt sie ein in den heiligen Dom des Mysteriums ... der eigenen Selbsterkenntnis. Es sind Mysterien, um die es hier geht. Und die Seele, die dies wieder ganz und gar ernst nimmt, wird sie erfahren.

Die befreiende Wahrheit

Wer den Menschen so groß denken kann, und wer von dieser Größe zugleich heilig-bescheiden wird, der hat zu der einzig wahren Einstellung gefunden. Denn es ist eine tief reale Erkenntnis, eine Realität. Er hat den Boden der Wahrheit betreten – jener Wahrheit, von der Christus sagte: ,Und (Joh 8,32). Jene Wahrheit, in deren Sphäre das Menschsein aufhört, eine bloße Illusion zu sein. Die Sphäre des Wesentlichen.

In dieser Sphäre hört auch aller Drang nach falscher Selbstverwirklichung auf. Dieser ist ja nur Symptom der Entfremdung von der Wahrheit. Je blinder und bewusstloser die Seele dahinlebt, um so selbstbezogener wird sie ja – bis sie im Krebsgeschwür des materialistischen Kapitalismus der Proto-Egoist schlechthin wird. Das aber ist der absolute Abgrund an Selbstentfremdung. Das menschliche Wesen ist ein diametral anderes. Und erst da, wo der Egoismus und allein schon der dumpfe Selbstbezug schwinden, fühlt die Seele auf einmal einen freieren Atem. Fühlt sie die wahre, die reale Heimat des Menschentums nahen. Der Mensch findet das wahre Menschentum gar nicht bei irgendeinem ,Selbst’ – er findet es in dem Mysterium der Hingabe: an anderes. Er findet es gerade da in seiner Tiefe, wo er von sich absehen kann. Denn da hat er sich gerade am allermeisten. Und jene großen Geister der Menschheit, die die dienendsten von allen waren, hatten sich am meisten.

Und das selbstloseste Liebe-Wesen überhaupt – das Christus-Wesen – ist gerade jenes Wesen, das den Menschen das wahre Ich bringt und gebracht hat. Christus verdanken wir unser wahres Ich. Dieses aber lebt fortwährend im Zwischenland: zwischen ,mir’ und allem anderen. Inter-esse, lateinisch: dazwischen-sein. Das wahre Ich ist gerade die Kraft, die von sich absehen kann, weil sie sich immer schon besitzt, unverlierbar – und sich deshalb vollkommen anderem hingeben kann. Die Seele hat diese Haltung schon bei jeder aufrichtigen Wahrnehmung. Und in heiliger Tiefe ist hier auf die Selbstlosigkeit verwiesen – etwa auf ein Leben aus Idealen heraus. Das lebendige Wollen der Seele ist dann, etwas zur Verwirklichung zu helfen. Einem Wachstum von etwas um dieses selbst willen. Es ist Liebe zum Guten an sich – und das wahre Ich liebt dieses und findet seine größte Erfüllung darin, zu diesem Guten beitragen zu können.

Und so sagte auch Joseph Beuys: ,Ich ernähre mich durch Kraftvergeudung’. Und damit meinte er eben absolut nicht ,Verschwendung’, sondern Selbstlosigkeit. Hingabe. Ein Sich-Verbrennen für etwas, was in keiner Weise dem eigenen Selbst dient – und gerade deshalb so unendlich nährend ist, denn es ist das Einzige, was das wahre Ich erfüllen kann. Das wahre Ich ernährt sich von Handlungen der Liebe. Für den äußeren, selbstbezogenen Blick ist dies reinste ,Vergeudung’. Erst recht ist für den materialistischen Blick alles über das Notwendigste Hinausgehende sowieso ,Vergeudung’ – für ein übersinnliches Wesen beginnt hier jedoch erst das wahre Schöpfertum.

Beuys wollte auf ein Paradox hindeuten, das nur für den entfremdeten Blick einer dem tiefen Wesen des Menschen fernen Seele ein Paradox ist. Das wahre Ich ist gerade das fortwährende Paradox, denn die Liebe ist das Mysterium der Kreativität im Sinne von Beuys: eine fortwährende Schöpferin aus dem Nichts. Sie braucht nichts – und gibt alles, weil sie alles schöpferisch ins Leben ruft. Sie braucht nur eines: wirken zu dürfen. Sie selbst sein zu dürfen. Sein zu dürfen, was sie ist: Kraftvergeudung... Das Einzige, was wirklich schenken kann. Und damit der einzige Quell des Lebens überhaupt.

,Kraftvergeudung’ als nährendes Mysterium

Viele Menschen werden die Freude schöpferischer Kreativität sehr wohl kennen – und auch die Freude der ,Kraftvergeudung’ im Schaffen von etwas, was über das Notwendige hinausgeht. Jedes Kunstwerk, jede schöne Gestaltung, und sei es der eigenen Wohnung. Diese ,Kraftvergeudung’ ist sehr leicht in ihrem tief befriedigenden Wesen erlebbar. Doch welche Seele geht weiter? Welche Seele geht mit Beuys weiter zu dem noch viel tieferen Sinn seines Satzes? Nämlich zu einem Handeln, das schöpferisch ist und nicht selbstbezogen, sondern der Welt dienend.

Hier hört es bereits auf und scheiden sich die Geister – in die vielen, die mit dem Begriff der Hingabe an absolut überpersönliche Ideale nicht das Geringste ,anfangen’ können, und jene wenigen, die hier erst den wahren Sinn und die heilige Erfüllung des Lebens erleben. Man könnte sagen: Beuys auf der einen Seite – und der selbstbezogene ,Mainstream’ auf der anderen Seite. Und dieser Mainstream ist in der Postmoderne noch einmal radikal am wachsen.

Sich ausbreitend ist das Heer derjenigen, die im Materialismus und korrespondierend im Selbstbezug geradezu versinken. Beides bedingt einander. Wir erkannten diese Tragik schon. Wer keine Wesen über sich anerkennt – sie nicht einmal mehr denken kann, selbst hier völlig dumpf und unfähig und auch dumpf-unwillig geworden ist –, der wird oft in einem primitiven Selbstbezug regelrecht versanden. Die bewusstseinsgeschichtlich notwendige Entwicklung eines immer stärkeren Ich-Bewusstseins ist längst unglaublich verbreitet in eine tiefe Dekadenz geraten – unter der Dominanz des vulgären ,Materio-Kapitalismus’ zu einem abstoßenden ,Feiern’ (Zelebrieren) des eigenen Selbstes geworden. Unzählige Menschen ruhen übersinnlich gesehen wie feiste Dickwanste in ihrem eigenen kleinen Selbst – und alles Übrige ist nur Peripherie.

Konsum-Mentalität, Genuss-Denken, Bequemlichkeit, Anspruchshaltung, platte schnelle Urteile über alles und jedes – und anderes mehr kennzeichnet diese tiefe Degeneration der Seele. Viele solcher Seelen haben nicht einmal mehr irgendeine Lust auf, ja nicht einmal mehr Sinn für irgendein Schöpferischwerden. Wenn aber doch noch etwas in dieser Richtung vorhanden ist, gilt es dem eigenen Selbst. Ein selbstloses, liebendes Wirken für andere kennen solche Seelen nicht mehr. Und ein Wirken für das große Ganze erscheint ihnen geradezu wahnsinnig, wie eine Idiotie. Sie sind von solchen Empfindungen völlig abgeschnitten – weil sie es wollten. Sie selbst haben ihr Inneres völlig degenerieren lassen. Wodurch? Indem sie sich nie, zeitlebens nicht, für etwas Höheres, etwas über das Sinnlich-Gewöhnliche, die unmittelbarste dumpfe äußere Realität Hinausgehendes interessiert haben. Schon dieses Äußere haben sie dumpf und gewöhnlich behandelt. Denn sie selbst standen ja stets im Zentrum – und so wächst Dumpfheit ins Unendliche.

Anders der, der diese Todesbewegung gerade  umkehrt. Jene Seele, die nicht konsumiert, sondern sich berühren lässt. Jene Seele, die nicht dumpf und selbstsicher eine Anspruchshaltung auslebt – oder in platter Weise einen Weg der angeblichen ,Selbstverwirklichung’ entlang trottet –, sondern die innere Stille kennt. Die ein Aufblicken kennt. Die ein Bewundern von Schönem kennt, von Kleinem, von zahllosen kleinen Wundern, an denen andere einfach vorübergehen. Eine Seele, die empfindsam ist – und ihre stille, heilige Fähigkeit sogar immer weiter vertieft.

Vom Nicht-geboren-werden-Wollen

Schon der erste Weg des ,klaren Geistes’ ist für die allermeisten Seelen ein Buch mit sieben Siegeln – das sie auch gar nicht kennen wollen. Weil es ihnen zu ,anstrengend’ ist. Viel zu anstrengend. Warum dies? Weil die meisten Seelen gar nicht innerlich aktiv werden wollen – sie wollen konsumieren, aber nicht selber tätig sein. Sie wollen gerade abschalten, nicht die innere Tätigkeit sogar steigern. Das ist das eine. Und unendlich erschwerend hinzu kommt, dass dieses innig-innere Tätigsein eben gerade nicht dem eigenen Selbst dient – wozu sich der Narzissmus dann ja vielleicht noch überreden lassen könnte –, sondern aus Hingabe besteht: Hingabe an Schönheit, Hingabe an Wahrheit, Hingabe an das Gute, Hingabe an die größten Fragen der Menschheit, der Seele, des wahren Inneren. Hingabe – überall Hingabe und nirgendwo dieses feiste, narzisstische, bequeme Selbst, das geradezu das heimliche Symbol der Postmoderne ist.

Dabei wird die Seele – ich habe es zu beschreiben versucht – durch dieses innige Tätigsein überhaupt erst wirklich geboren. Aber das will man eben gerade nicht. Noch einmal: Es ist zu anstrengend. Man will lieber nicht geboren werden, sondern lieber seinen täglichen Krimi konsumieren und es dabei belassen. Und wer jetzt erwidert, man habe nach einem vollen Arbeitstag nun einmal schlicht keine Kraft mehr, dem wäre zu entgegnen: Da siehst du den Todesprozess des Kapitalismus – und hast dich trotzdem bequem mit ihm arrangiert? Hältst Beuys sogar für einen Spinner, obwohl er fortwährend auf den Wahnsinn dieses Systems hinweist? Du bist doch selbst ein Teil dessen – sogar eine totale Stütze mit deinen bloßen Krimis. Erschöpft ist man nur bei extremer innerer Passivität. Alles Schöpferische ist ein Kraftquell. Wer also bereits vor dem Schlafen keine Kraft mehr hat, der lebt innerlich schlicht nicht aktiv genug. Und weil man so ungeheuer passiv ist, kennt man das Geheimnis gar nicht.

Aber es wäre für einen auch deshalb zu anstrengend, weil man von seinem Selbstbezug gar nicht loskommt. Für eine solche Seele ist innere Tätigkeit tatsächlich anstrengend – denn sie kann es nicht. Sie bemüht sich vielleicht, aber rennt fortwährend gegen Widerstände. Sie weiß nicht, wie man sich aktiv hingeben kann, sie kann sich nur sich selbst hingeben. Schon jedes Durchdenken eines mathematischen Beweises wäre für sie allzu anstrengend, weil man bereits hier ,viel zu selbstlos’ sein müsste. Gerade hier liegt die allergrößte Unfähigkeit der postmodernen Seele: Sie kann es nicht. Es ist ihr zu anstrengend. Sie ist so mit sich selbst verklebt, dass sie es nicht ertragen kann, von sich loszukommen. Es ist ihr möglicherweise so unangenehm wie schwerste Entzugserscheinungen eines Drogenabhängigen. Ihr gewöhnlicher Selbstbezug ist für sie diese Droge, sie kann nicht darauf verzichten.

Für andere Seelen ist dies absolut unverständlich – sie kommen mit Leichtigkeit von sich selbst los, können zum Beispiel schon als Wissenschaftler alle möglichen Fragen objektiv durchdenken, ohne Hineinmischen des eigenen Selbst. Nun müsste man diese Fähigkeit nur noch auf philosophische, religiöse, spirituelle Fragen richten – und man würde wahrhaft erleben, was es heißt, innerliche Tätigkeit zu entfalten. Innerlichkeit. Inneres Aktivsein der Seele. Entfaltung von Gedanken, Denken, Fragen, Suche – Kraft, Bewusstsein, Anwesenheit...

Aber auch die meisten Wissenschaftler vermögen diesen Schritt niemals. Warum nicht? Weil handfeste Wissenschaft im heutigen materialisistischen Sinne (hierzu zähle ich auch die gewöhnlichen Geisteswissenschaften, die mit Geist ebenfalls nicht mehr das Geringste zu tun haben) sehr wohl so betrieben werden kann, dass das selbstbezogene, noch immer narzisstische Ich sehr wohl im Hintergrund anwesend bleiben kann. Es verschwindet nie, und nach Beendigung der wissenschaftlichen Gedankengänge ist es wieder voll da – lebt sich materialistisch, konsumistisch und selbstgewiss aus wie immer. Postmoderne.

Und wenn der Weg zu Beuys zu weit ist?

Der Schritt zu Beuys ist also zu weit. Die meisten Seelen schaffen ihn nie – kommen in ihrem stets gewöhnlich bleibenden Leben nicht einmal einen Schritt weiter.

Die Unfähigkeit sitzt nicht im Kopf – daran liegt es nicht, dass das Mysterium des ,klaren Geistes’ nicht verwirklicht werden kann. Die Unfähigkeit liegt im Fühlen und im Wollen. Hier lebt die wahre Krebskrankheit der Seele: Der klare Geist wird nicht einmal gewollt. Und selbst wenn er irgendwo ,gewollt’ würde (im Sinne eines blassen ,Wünschens’) existiert der Untergrund des Fühlens gar nicht, die ,gute Erde’, in der die Saat überhaupt nur aufgehen würde.

Denn wie will man je zur ,Kraftvergeudung’, zu einem liebenden, gleichsam heiligen Sich-Verbrennen, Sich-Hingeben kommen, wenn man diese reine Kraft der Hingabe, der Liebe in sich gar nicht findet? Mit dem ,Geist’, insofern hier das Denken berührt ist, hat dies zunächst gar nichts  zu tun. Es sind Mysterien des Fühlens und des Willens. Bis in diese Tiefe hinein braucht es in der Seele ,gute Erde’. Das Fühlen und der Wille sind ihre wahren Schätze und Heiligtümer. Und erst über sie kann auch das Denken wieder ein heiliges werden.

Aber was, wenn auch im Fühlen und Wollen gar kein Ansatzpunkt zu diesem Heiligen existiert? Was, wenn Fühlen und Wollen in ihrer heiligen Form einfach ,verrottet’ sind, degeneriert – oder überhaupt nie existiert haben? Diese Frage kann jede Seele nur für sich selbst beantworten. Die Keime zu diesem Heiligen existieren nach wie vor noch in jeder Seele. Sie werden erst in einer späteren Zeit völlig verschwinden. Vielleicht ist diese Zeit bereits nahe, denn diese heiligen Kräfte werden längst mit Füßen getreten. Aber noch können sie erweckt werden, mit wieviel Mühe auch immer. Noch sind sie nicht verloren.

Aber wie können sie erweckt werden, wenn die Seele es doch eigentlich gar nicht will? Wozu sollte sie auch – wenn sie postmodern-selbstbezogen und bequem gerade so unendlich zufrieden ist? Beuys jedenfalls kann sie nicht überzeugen. Beuys erreichte nur wenige – Menschen, die ohnehin schon leise auf der Suche waren und nur Ermutigung brauchten. Jemanden, der die Dinge klar (ja, sehr wohl: klar) aussprach, die sie vielleicht nur dunkel fühlten. Solche Menschen hat Beuys erreicht. Sie wurden nachdenklich – zumindest das. Aber das Brennen, das Geheimnis der ,Kraftvergeudung’ lernten auch sie nicht... Das blieben wenige...

Aber was könnte die Seelen dann überhaupt noch erreichen? Oder wer? Wer, wenn es Beuys nicht geschafft hat, dieser aufrichtige, inspirierende, mutmachende ,Rufer in der Wüste’? Wenn es er nicht schafft – wer denn dann? Beuys ermutigte jeden, wies ganz offen auf das Geheimnis des Menschen hin, entzog den verlogenen Todesprozessen jede Legitimität, legte die seelentötende Struktur unserer heutigen Gesellschaft offen, war also ein machtvollster Weckender – und erreichte doch Wenige. Was aber ist dann überhaupt noch zu hoffen?

Mädchenherz

Es gibt ein Hoffen, das überhaupt nicht begreifen kann, dass es keine Hoffnung mehr gäbe – selbst wenn es so wäre. Es gibt ein Hoffen, das so rein, so innig, so bedingungslos ist, das man es seinerseits nicht begreifen und fassen kann, als gewöhnliche Seele: das reine Herz eines Mädchens.

Und auch ich kann an dieser Stelle nur eines tun: innig darum bitten, dass dieser Gedanke einmal wirklich gefasst wird, eben mit ganzer Seele und echter Aufrichtigkeit: das reine Herz eines Mädchens.

Warum eines Mädchens? Auch das weiß die Seele selbst – wenn sie es sich nicht verschüttet. Welcher Junge würde je diese radikale Selbstlosigkeit und ebenso radikale Empfindungsfähigkeit verkörpern, die ein Mädchenherz verkörpern kann? Ohne jede Aussicht auf Ruhm? Ohne jede Aussicht auf Erhörtwerden. Ohne jede Aussicht auf irgendetwas – nur reine Sehnsucht seiend. Das kann nur ein Mädchen. In unserer Gesellschaft ist diese absolute Reinheit des Herzens und der Seele für Jungen nicht vorgesehen – seit Jahrtausenden übrigens nicht. Bei Mädchen war sie zumindest nie ausgeschlossen, gerade das ist das heilige Geheimnis des Mädchens: dass ihr Herz zur Reinheit hin keinerlei Grenze hat, potenziell nicht.

Die Seele eines Mädchens kann so rein sein, dass sie mühelos die dickste Abwehr härtester Drachenhaut durchschlägt – sanft wie ein Engelsflügel... Das sind keine bloßen Bilder, es sind Wahrbilder, es sind Imaginationen, die einer Realität entsprechen. Wir nehmen das heute vielleicht nicht mehr ernst, aber es bleibt wahr.

Wo Beuys also nicht mehr weiterkommt, weil selbst er scheitert – obwohl er sich bei weitem nicht nur an das Denken der Menschen wandte, sondern auch an ihre Empfindungs- und Willenskräfte, aber eben als Mann, als männliches Wesen ... da hat das Mädchen noch Mittel und Wege, gerade weil es keinerlei Mittel und Wege hat...

Im Grunde ist das Mädchen die machtlose Gestalt schlechthin. Es ist das geborene Opfer. Und sogar sein ,reines Herz’ kann einem geradezu als Inbegriff absoluter Lächerlichkeit vorkommen und einen zu wildestem Spott und tiefstem Sadismus reizen. Das Mädchen hat nichts in der Hand – rein gar nichts. Beuys war immerhin noch intelligent und schöpferisch, war am Ende berühmt und hat zumindest das Beste aus seinem Scheitern gemacht – ein Mädchen dagegen ist einfach nur lächerlich in seiner Armseligkeit. Steht da mit seinem ,guten Herzen’ und wartet auf bessere Tage! Auf bessere Seelen auch in den anderen Menschen, die aber nie kommen werden. Pech gehabt, du aus der Zeit gefallenes Mädchen. Du bist ein noch größerer Narr als der Kaspar Beuys. Er war immerhin nur ein alberner Komiker – du aber in deiner naiven Unschuld bist so bekloppt, dass es geradezu physisch wehtut.

So könnte man denken, und auch das sind reale Reaktionen – von Seelen, die sich selbst das Urteil sprechen, weil sie mit ihrem ganzen Sein vor dem Wesen des Mädchens fliehen. Sie verleugnen ihr eigenes Wesen noch grundlegender als jene, die nur die Spiritualität leugnen. Sie verleugnen ihre Seele ganz. Denn Spiritualität müsste man denken lernen. Wenn man aber das Mädchen mit dem reinen Herzen verspottet, verleugnet man nicht nur das wahre Wesen des Denkens und seiner heiligen Fähigkeit – Spirituelles begreifen und erkennen zu können –, sondern man verleugnet auch das reine Wesen des Fühlens und des Willens. Und mehr hat die Seele nicht. Wenn sie diese drei Kräfte verleugnet, dann hat sie ihr eigenes Wesen endgültig und vollständig negiert.

Mnemosyne und Menetekel

Ein altes Wort lautet: ,Wer angibt, hat’s nötig’. Das Gleiche gilt für jede heftige Abwehr. Auch wo etwas verspottet und angegriffen wird, berührt dieses Etwas einen wunden Punkt...

Beuys berührte Punkte in der menschlichen Seele, die ihrer Erlösung harren. Aber das Mädchen berührt mehr – mehr Punkte und tiefere Punkte. Beuys wandte sich doch an das Denken, letztlich, und oft sehr direkt. Das Mädchen wendet sich an die ganze Seele, und zwar ebenso direkt. Es wendet sich ohne Rückhalt direkt an das Herz – das Herz des anderen Menschen. Hier wird kein Denken dazwischengeschaltet, das man mitvollziehen könnte oder auch nicht – es geht direkt zum Herzen des anderen Menschen. Deswegen können die Reaktionen so heftig sein, denn man muss sich dazu stellen. Man kann diese Ebene verweigern – und spricht sich aber im selben Moment dann selbst das Urteil. Oder man kann darauf eingehen – und muss im selben Moment erkennen, wie sehr man diese Herzensebene bisher verraten hat. Im Angesicht des Mädchens kann man nur verlieren – und das Mädchen hat einen immer schon besiegt. Durch seine Machtlosigkeit.

Die Machtlosigkeit des Mädchens ist, dass es nur eine einzige ,Sache’ hat – sein reines Herz. Aber dieses ist die Macht schlechthin. Denn es ist die absolute Mnemosyne – reine Erinnerung. Es erinnert den Menschen ohne jeden Rückhalt an das, was er nicht mehr hat, aber haben sollte und auch gehabt hat, wann auch immer, früher... Das Mädchen lässt nicht frei, es konfrontiert – und kann nicht anders. Denn es kann an seinem reinen Herzen nichts ändern, es kann es auch nicht verbergen und so steht es da – als lebendige Anklage, die es gar nicht sein will.

Das Mädchen ist das Menetekel der modernen Seele – die Offenbarung ihres Scheiterns. Das Mädchen zeigt der Seele all das, was sie nicht mehr hat. Und das ist nur eine einzige ,Sache’ – und doch das Ganze, das All. Die moderne Seele hat nichts mehr – und das Mädchen zeigt es ihr. Das Mädchen berührt den wunden Punkt der modernen Seele, und es zeigt, dass diese moderne Seele eine einzige Wunde ist.

Aber die Seele wehrt sich natürlich dagegen – gegen eine solche Erkenntnis. Und schon ist das Mädchen verdrängt, ist die Abwehr errichtet, ist das Mädchen eben doch nur lächerlich, irrelevant, ja illusionär, ein bloßer Gedanke, wahrscheinlich sogar reaktionär, denn wo gibt es solche Mädchen heute noch? Und zum Glück, dass es sie nicht mehr gibt, denn es gab ja die Emanzipation. Und damit existieren solche Mädchen heute nicht mehr! Und wer sie noch immer imaginiert, der ist vergangenheitsorientiert und patriarchal angehaucht. Das Mädchen als billige Projektionsfläche männlicher Allmachtswünsche – weibliche Wesen als bloße Imago absoluter Hingabe.

Das Schöpferische der Unschuld

So lauten dann die postmodernen psychologisierenden Urteile – und der Mainstream würde sie teilen, allein schon, um nichts falsch zu machen, ,politisch korrekt’ zu sein und sich im übrigen vor allen Konsequenzen zu ducken, denn worauf kommt es heute an? Durchzukommen. Durchzukommen und nicht anzuecken – nachdenken kann man später. Oder man lässt es einfach ganz. Beuys hätte mit der Imagination des Mädchens sicher einiges anfangen können – er hätte gewusst, was sich darin ausdrückt, er hätte es verstanden. Aber möglicherweise auch nicht völlig.

Denn das Mädchen macht die Bewegung zur Kreativität, zum ,Jeder Mensch ist ein Künstler’ nicht ohne weiteres mit. Denn für das Mädchen ist nicht dieses Schöpferische das Wesentliche, sondern dieses Element der Unschuld – das reine Herz. Bevor man nun vorschnell urteilt, dass dies ,rückwärtsgewandt’ sei, sollte man einmal staunend zur Kenntnis nehmen, dass das höchste Gotteswesens selbst in der Zeitenwende eine schöpferischste Tat vollbrachte: Es inkarnierte sich selbst in die Unschuld hinein. Jenes Wesen, das durch den Kreuzestod ging und der Menschheit die Auferstehung rettete, bis in den Leib hinein, war das unschuldigste von allen. Deswegen berührt die Gestalt des Mädchens ja so tief – weil die Seele ein Wissen von dem Mysterium der Unschuld hat. Und sie hat es durch Christus.

Während Beuys also den einen Pol des Christus-Wesens verwirklichte – das Schöpferische –, verwirklicht das Mädchen den anderen Pol: die Unschuld. Und doch sind beide nicht getrennt, können es gar nicht sein, denn sie gehören zusammen. Auch Beuys war unschuldiger als alle anderen, man spürt, wie sehr er sein Leben lang eine innerste Wahrhaftigkeit und Verletzlichkeit bewahrte. Aber das Mädchen bewahrt diese noch unendlich viel stärker – und ist auch schöpferisch. Allein schon seine zarte Entscheidung für die Unschuld ist Schöpfertum. Und ein reines Mädchenherz ist auch in unendlich vieler anderer Hinsicht schöpferisch. Allein schon, dass es eine heilige Meisterin der Begegnung ist, macht das Mädchen zu einer reinen Künstlerin. Ich habe das in meinen Romanen immer wieder beschrieben.

Das Mädchen mit dem reinen Herzen ist also ein ,Affront’ für die sogenannte ,Emanzipation’ – aber das bedeutet mitnichten, dass das Mädchen nicht emanzipiert wäre, es ist nur auf andere Weise emanzipiert als jene, die diesem Begriff anhängen. Das Mädchen hat sich zum Beispiel von der Vorstellung emanzipiert, dass man ,emanzipiert’ sein müsse. Das Mädchen mit dem reinen Herzen wird sich keineswegs irgendeinem Patriarchat unterwerfen, im Gegenteil – es wird solches bis auf den Grund durchschauen. Aber eben auch jene Geschlechtsgenossinnen durchschauen, die bloß dem hinterher rennen, was bisher nur den Männern zustand: der ,Verschmutzung des Ich’ (Lusseyran) und dem Verrat der Seele. Einer Veräußerlichung des ganzen Menschenwesens. Das Mädchen mit dem reinen Herzen macht dies radikal nicht mit – und dafür gibt es nur einen Grund: Es hat sich von diesem Fall des Menschen emanzipiert, es bleibt dem Ursprung treu – aber dieser Ursprung ist längst die Zukunft.

Das Mädchen mit dem reinen Herzen ist reinste Zukunft – und wir, wir alle, wir ach so Emanzipierten, wir sind Vergangenheit. Das Mädchen geht uns voran – Hand in Hand mit Christus...

Das Mädchen als Zukunft

Und mit diesen Gedanken hätte Beuys wieder sehr viel anzufangen gewusst. Und erneut können wir uns daran erinnern, dass jedes tiefere Schöpfertum im Sinne von Beuys Hingabe braucht: Hingabe an das Wesen der Dinge, an die in ihnen lebenden Kräfte, ihre Botschaften, ihr Wunsch, gehört und verstanden zu werden – an den Wunsch der übersinnlichen Wesenheiten, ebenfalls wahrgenommen, gewusst und erkannt zu werden. Überall ist Hingabe vonnöten – und die postmoderne Seele kennt sie so sehr gar nicht mehr. Das Mädchen aber kennt sie und hat sie. Und so versteht es noch die kleinste Blume, und wenn es auch vielleicht zunächst keinen Sinn für das Übersinnliche mehr hat, ist der Schritt dorthin für das Mädchen doch nur ein kleiner, denn die dafür unbedingt notwendigen Hingabekräfte hat es ja bereits in Fülle...

Auch das Mädchen könnte sich mit einem Kojoten verständigen und dem toten Hasen die Bilder erklären. Das Mädchen ist Beuys eine innige Schwester im Geiste – ich habe es bereits beschrieben. Das Mädchen hat im Grunde alles, was Beuys wecken wollte, aber es hat noch etwas: die Grundlage, auf der dieses zu Weckende überhaupt geweckt werden kann. Jedes wahre Schöpfertum muss aus der Unschuld geboren werden – sonst trägt es keine Frucht. Oder es muss auf einer Liebe fußen, die geradezu weltenweit wird, hier kann man an Prometheus, an Buddha, an Nietzsches Zarathustra oder an Rudolf Steiner denken.

In gewisser Weise sind dies zwei Pole. Der junge Rudolf Steiner schrieb, Selbstlosigkeit gebe es nicht, man müsse das Ego so groß machen, dass es die ganze Welt umfassen könne, sodass die Interessen der Welt seine Interessen werden. Aber das Mädchen hat gar keine eigenen Interessen. Es trägt das Wollen des Guten in seinem Wesen – und wo eine gute Tat gebraucht wird, ist das Mädchen da, ohne zu fragen, ohne zu zögern. Das ist bei einer Prometheus-Natur anders, diese muss sich erst kurz innerlich vergewissern, was ihr eigenes Ich dazu sagt. Dem Mädchen gibt der gute Wille selbst unmittelbar Antwort – das Mädchen muss nicht überlegen. Der junge Steiner hätte vielleicht gesagt: Dann ist das Mädchen ein moralischer Automat. Aber das stimmt nicht. Das Mädchen hat sein eigenes Ich nur absolut mit dem guten Willen seines Herzens vereint. Es mag sein, dass das menschheitlich erst ein absoluter Zukunftszustand ist, aber die Imagination des Mädchens mit dem reinen Herzen lebt diesen Zustand eben bereits jetzt vor – wie es das Gotteswesen Christus tat.

Während die männlichen Jünger Christus in der Gefahr verrieten, hätte das Mädchen dies nie getan. Es war und es ist weiter als die anderen Seelen. Und damit ist es ich-stärker, nicht ich-schwächer.

Das Mädchen lebt in reinster Form vor, was Zukunft ist. Damit ist nicht gesagt, dass Mädchen so sein sollten – damit ist gesagt, dass alle Menschen in diese Richtung gehen, wenn sie ihrem wahren Wesen entgegengehen. Das Mädchen lebt schon jetzt jene Emanzipation vor, die wir erst sehr, sehr langsam erreichen werden: Die Emanzipation vom Materialismus, die Emanzipation von einem degenerierten Selbst, einem sehr schwachen Herzen; die Emanzipation von tausend Dingen, die uns an einem hindern: wir selbst zu sein. In reiner Form. In wirklich bedingungsloser Form. Emanzipiert von sämtlichen Einflüsterungen. Das Mädchen hat sie schon jetzt hinter sich gelassen.

Die Unschuld als Essenz

Und deswegen kann das Mädchen so berühren. Auch da, wo Beuys nur aneckte, aber nicht zu erwecken vermochte. Das Mädchen berührt selbst da, wo die Menschen wissen, dass sie noch nicht die Kraft haben, dem Mädchen zu folgen. Sie erleben, dass das Mädchen keine Forderungen stellt – das tat Beuys auch nicht, aber sie erleben weiter, dass das Mädchen im Grunde bittet. Durch das, was das Mädchen ist und vorlebt, bittet das Mädchen. Oben sagte ich: es konfrontiert, aber das ist nur die halbe, die Viertelwahrheit. In Wirklichkeit hat das Mädchen nichts in der Hand, und die Seele spürt das. Und so ist das Mädchen eben keinerlei Witzfigur, sondern ruft Mitleid auf. Und dieses Mitleid ist wiederum nur dieses Wissen, dass das Mädchen Ernst mit etwas macht, zu dem man selbst noch nicht den Mut hat, nicht einmal ansatzweise. Es ist Mitleid, das zugleich stille Bewunderung ist.

Das Mädchen berührt also in der Seele etwas zutiefst Reales. Es ist nicht nur Mnemosyne – es erweckt Mnemosyne in der anderen Seele. Und damit erreicht es etwas, was Beuys nicht erreichte. Es erweckt in der Seele die allerbesten Kräfte zumindest als etwas bewusst Werdendes – weil es dies bedingungslos vorlebt und wahrmacht. Nicht Schöpfertum, sondern Unschuld. Die absolute Grundlage für das, was je Zukunft werden will. Alle Zukunft geht immer wieder durch dieses Nadelöhr: Unschuld des Herzens. Wo keine Unschuld ist, da ist Tod. Wo Tod ist, ist keine Zukunft. Im Tod kann das Leben gefunden werden – aber auch dies wäre wieder: Unschuld. Und das Mädchen steht als dieses Mysterium fortwährend vor Augen. Seine Botschaft ist: Ohne die Unschuld gibt es keine Zukunft. Erinnere dich an die Kraft der Unschuld. Sie ist die Zukunft – auch in deiner Seele. Und ihr Keim ist schon da. Sonst könnte ich dich nicht berühren. Tue ich es aber, so bist auch du an irgendeinem Ort deiner Seele unschuldig. Suche ihn ... du wirst ihn finden ... und da, genau da, beginnt die Zukunft...

Das ist die Botschaft des Mädchen, das ist sein Wesen. Und deswegen hat sein Wesen mit der ganzen Debatte um ,Emanzipation’ oder nicht ,Emanzipation’ nicht das Geringste zu tun. Diese Debatte ist zeitgebunden und vergänglich. Das, was die Botschaft des Mädchens ist, ist aber unvergänglich, es ist bis in alle Zukunft wahr und entscheidend. ,Suche die Unschuld... Suche, was ich bin ... es ist auch in dir...’

Im Grunde ist die Unschuld die Essenz von allem – denn sie ist eins mit dem Mysterium des guten Willens. Nicht gemeint nämlich ist die Unschuld des ,reinen Tor’ (Parzival), der noch gar nicht weiß, was gut und böse ist. Das Mädchen weiß dies bis in alle Tiefe. Seine Unschuld ist der gute Wille selbst. So ist es die innigste Christus-Botin – was ich ja bereits andeutete. Und das Schöpferische kann ohne die große Liebe, kann voller Selbstbezug bleiben – aber die Unschuld kann nicht unschöpferisch bleiben. Ein Mädchen kann in vielem hilflos bleiben, aber auf seine sanfte Weise wird es trotzdem in unendlich vielen kleinen, aber entscheidenden Dingen schöpferisch sein, denn es hat die Liebe – die Liebe aber ist das eigentliche Prinzip des Schöpferischen. Und indem ein Mädchen anderen Menschen mit Liebe begegnet, übersteigt es schon dadurch das Schöpfertum hunderter anderer – denn es trägt aus dem Nichts etwas in diese Welt, das wandelnder und heilender und bereichernder ist als so unglaublich viel anderes, schöpferisch oder nicht. Die Liebe ist immer schöpferisch.

,Plastik tötet das letzte Einhorn’

Vor einigen Tagen sah ich eine Werbung auf einem großen Plakat an der Bahnstrecke: ,Plastik tötet das letzte Einhorn.’ Darunter stand kleiner: ,Mehr über das herzlose Plastik unter trink-aus-glas.de’.

Das Ganze war eine Werbung von Fritz-Kola, Teil einer sehr geistreichen Werbeinitiative. Man kann sich einmal fragen, was dieser Spruch mit einem macht, wenn man sich wirklich auf ihn einzulassen vermag.

Im Grunde werden die Worte dieses einen Satzes schon durch den nächsten gebrochen. Denn obwohl auch dieser das Plastik ebenfalls unmittelbar märchenhaft personifiziert, fällt er unter Hinweis auf die zu besuchende Webseite – die ja die ,eigentliche’ Botschaft ist; zu der ja hingelenkt werden soll, nichts weiter – zwangsläufig in den simplen Konsum-Kontext zurück. Nach dem Motto: ,Bla-bla-bla..., willst du mehr wissen, klick einfach auf www.bla-bla-bla-.de. Werde auch du Teil unserer Community. Bla-bla...’

Aber dieser eine Satz und die zwei Worte, das herzlose Plastik, vor allem aber: Plastik (als ebenfalls wesenhaft gedacht) tötet das letzte Einhorn – sie gehören einer anderen Ebene, Sphäre an. Was machen sie mit einem?

Sie entführen einen im besten Sinne in ein anderes Reich. Vorschnell könnte man sagen: in das Reich der Märchen. Aber das wäre allzu simpel gedacht. Es ist der geistige Simpel, der an der bloßen einen Ebene festhält und nur sagt: ,Billiger Werbetrick, was für ein Schwachsinn...!’ Denn in Wirklichkeit ent-führt der Satz in jenes andere Reich, das der Simpel von vornherein nicht anerkennen will. Der Satz ent-führt – er führt heraus, er erlöst, er ent-bindet, man kann geradezu sagen, er ent-sklavt einen.

,Plastik tötet das letzte Einhorn’ – dies ist ein Prozess, ein Geschehen, eine Anschuldigung, eine Gefahr, aber in jedem Fall: das letzte Einhorn lebt noch, ist noch nicht tot, noch existiert es. Und schon ist man entführt – und nicht mehr Sklave der Eindimensionalität, der Profanität, der von allem entleerten Welt, auch seelisch-geistig-gedanklich gemeint. Das Reich der Märchenwesen ist viel größer, viel bedeutungsgesättigter und im Grunde viel realer als jenes Reich, das wir uns fabriziert haben und in das wir uns eingemauert haben, weil wir von der eigenen Totheit unserer immer mehr schrumpfenden Gedanken versklavt wurden. In Wirklichkeit haben wir, haben diese Gedanken das Einhorn getötet – als sie es irgendwann nicht mehr für nötig befanden, es für real zu halten.

Im Reich der Märchen ist die Welt noch groß, weil unendlich erfüllt von Sinn, von Bedeutung, vor allem auch: von der Essenz des Guten. Allein schon dadurch, dass Gut und Böse absolut getrennt sind – und eindeutig. Das Böse mag sich noch so sehr verkleiden, es ist absolut klar, dass es eine Verkleidung ist, eine böswillige Absicht. Aber es trifft auf das Gute, es will dieses gerade vernichten – aber am Ende erweist sich immer wieder die eine Wahrheit: Das Gute ist stärker. Und wie schwach es auch sei, es siegt am Ende gerade dadurch, dass es das Gute ist. Das Gute kann nicht verlieren, es kann nicht untergehen – aus einem einzigen Grund: diese Welt ist noch sinnerfüllt. Eine Welt, in der das Gute unterginge, hätte keinen Sinn mehr, sie wäre im tiefsten Sinne wirklich und schlicht sinn-los.

Die Realität des Einhorns

Das alles empfindet die Seele, empfindet das Herz – und deswegen ist das Reich der Märchen ein tief reales. Im Herzen hat man es nie ganz verlassen – und im Herzen ist auch seine Heimat. Das Reich der Märchen lebt und entspringt im Herzen – und hier hat es Realität, hier beweist es sich täglich neu. Es ist das Herz selbst, das diese Realität, diese Mythen schafft – und die Frage ist nur noch: Glaubt es daran auch oder verleugnet es seine eigenen Schöpferrealitäten?

Denn der Materialismus und der Kapitalismus sind ja auch Schöpferrealitäten – auch diese hat der Mensch schlicht einfach nur ,fabriziert’. Sollten sie deshalb realer sein? Keineswegs. Sie sind nur nicht vom Herzen geschaffen worden – sondern von einem abstrakten, längst tief krank gewordenen Denken, das sich aus allen Verbindungen mit dem Herzen gelöst hat und darum gar nicht wahr sein kann. Es ist so gesehen nur eine schlimme Geschwulst eines krankhaften Geistes – der eben gar kein Geist mehr ist, deshalb ist es ja so krankhaft. Materialismus und Kapitalismus sind also überhaupt keine Realität – sie sind nur zu einer Realität gemacht worden.

Das Herzensreich aber, aus dem auch die Märchen stammen, ist eine Realität. Nicht umsonst berührt uns noch in der tiefsten Wüste des Materialismus auf einmal ein solches Plakat, auf dem steht: ,Plastik tötet das letzte Einhorn.’ Da ist auf einmal ein unrechtmäßiger Herrscher (der/das Plastik) – und von ihm geht etwas Unfassliches aus – der Versuch oder die im Geschehen begriffene Tat, das letzte Einhorn zu töten. Das letzte Einhorn – ein absoluter Mythos. Das gleichnamige Buch und erst recht der darauf basierende Film wurden ein Welterfolg, für viele Menschen zählt der Titelsong der Band ,America’ zu ihren Lieblingsmelodien. Das Reich der Märchen ist real – wir wollen es nur nicht wahrhaben. Denn wir begreifen nicht, in welcher Sphäre diese Realität zu suchen ist.

Das letzte Einhorn ... sobald wir uns auf dessen Realität einmal einlassen, sind wir bereits in dieses Reich eingetreten. Es ist ganz einfach. Und es ist kein ,Fall’ in bloße ,Phantasie’ – es ist schlicht ein Übertritt. Die profane (Schein-)Wirklichkeit des Materialismus wird verlassen, und eine viel reichere Wirklichkeit wird betreten. Und hier lebt das Einhorn tatsächlich noch, hier ist sogar seine eigentliche Heimat. Und es zeigt uns diese – und sie ist erfüllt von Sinn und Schönheit, aber ... sie ist bedroht. Ganz genauso, wie auch Phantasien bedroht war, in der ,Unendlichen Geschichte’. Aber auch Phantasien war nicht einfach bloß ein Symbol für die menschliche Phantasie, sondern ein absolut reales Reich. Dort gab es Glücksrachen, die geheimnisvolle Kindliche Kaiserin – und ein drohendes, sich ausbreitendes, absolut reales Nichts.

Die Welterfolge all dieser ,Erzählungen’, in Wirklichkeit aber realen Mythen, ist unmittelbarer Beweis dafür, dass hier Realitäten berührt, ja beschrieben werden – und wir nur völlig ratlos darüber geworden sind, wo diese Realitäten eigentlich liegen, zu suchen sind, Realitäten bilden, lebendig, fortwährend. Das letzte Einhorn existiert – nur sehen wir es nicht, finden es nicht, sind gleichsam völlig verloren – im Grunde verirren, verlieren und töten wir uns nur selbst. Und dies ist eine neue Realität größter, geradezu mythischer Tragik: Die sich selbst erstickende Seele... Der sich selbst tötende Geist. Das sind wir. Das ist der neue Mythos. Und er ist leider wahr.

Vom Wesen der Ent-führung

Plastik tötet das letzte Einhorn. Nehmen wir diesen Satz ernst, sind wir sofort in einer anderen, größeren Realität. Und wir wissen, dass diese Realität wahr ist. Es ist keine Flucht aus der Wirklichkeit – es ist ein Entkommen aus der Lüge. Das letzte Einhorn ent-führt uns aus dieser und begeht damit eine Rettung. Oder wir begehen eine Rettung, nämlich unsere eigene, indem wir ihm folgen, und von ihm ent-führen lassen, hinüber-führen lassen in die eigentliche Wirklichkeit – jene, die sein Reich ist.

Und damit sind wir aus dem toten Kopfreich in das lebendige Herzreich übergetreten. Hier ist das Einhorn lebendig – auch wenn es das letzte ist, so bedroht wie unser eigenes Herz, denn auch unser Herz ist das letzte, was übriggeblieben ist, von der einst großen Seele des Menschen. Alles andere ist verdorrt, zu Wüste geworden, zu einem sich ausbreitenden Nichts – aber das Herz ist noch da, wenn auch verschüttet, unter möglicherweise unendlichen Schichten, aber am Ende, wenn man tief genug gräbt ... eröffnet sich dieses Reich... Noch ist es lebendig...

Das letzte Einhorn – und das menschliche Herz. Beide gehören derselben Realität an. Der Spruch auf dem Plakat kann deshalb so berühren, weil er größte Dimensionen berührt. Unendliche Dimensionen. So tiefe Dimensionen, dass es den Plakatmachern selbst nicht einmal im Ansatz klar gewesen sein dürfte. Auch sie ,denken’ nur, sie würden mit reinen Versatzstücken spielen und ein bisschen nostalgische Regungen ansprechen, einen verständlichen Wunsch und eine erwartbare, normale Sehnsucht nach ,dem Guten’. Aber die Krankheit der heutigen Zeit besteht darin, dass sie das alles nicht mehr in ihrer Tiefe ernst nehmen kann – da, wo es absolut existenziell wird. Aber erst hier stoßen wir zur Wirklichkeit durch. Alles andere ist bereits verwandt mit dem Nichts, das Michael Ende so vollendet beschrieben hat.

Auch das Fritz-Kola-Plakat gehört zu diesem sich ausbreitenden Nichts – aber noch enthält es eine Botschaft, eine letzte Reminiszenz an das, was nicht Nichts ist, an die Wirklichkeit. Noch spricht es von dem letzten Einhorn und von dem, was bedroht ist, weil es Wirklichkeitscharakter hat. Noch ent-führt es einen aus dem Nichtigen und kann an die eigentliche Wirklichkeit erinnern. Und schon sind wir wieder bei Mnemosyne...

Das Plakat spielt mit Realitäten – aber es erkennt sie nicht einmal. Es hält das, was es tut, für ein bloßes Spiel – aber dahinter stecken tiefste Realitäten. Ohne es zu wissen oder ernst zu nehmen, wird es so in realster Weise zu einem Tor zwischen Welten.

Aber den Übergang schafft, ja findet nur jene Seele, die mit der wirklichen Welt noch Verbindung hat.

,echt müll’

Und hier schließt sich der Kreis. Das Mädchen mit dem reinen Herzen hat diese Verbindung in jedem Fall. Ihm muss man nicht erklären, was ,das letzte Einhorn’ ist – es kennt dieses. Ihm müsste man höchstens erklären, was die abgrundtiefe Hässlichkeit unserer Städte soll und für einen Sinn hat – und man könnte es einfach nicht, denn sie hat ja keinen Sinn. Sie ist einfach nur die notwendige Ausgeburt unserer eigenen Hässlichkeit.

Ihm müsste man höchstens erklären, was dieses Plakat im weiteren Sinne soll – denn es missbraucht ja die tiefe Wirklichkeit des letzten Einhorns und die Realität dieses Reiches für ... billige Werbung in einer materialistischen Schein-Welt. Und die Profanität geht ja noch viel weiter. Auf der Webseite von Fritz-Kola heißt es ausführlicher:

plastikflaschen töteten das letzte einhorn.
vielleicht nicht die ganze wahrheit.
aber dass sich mehr als 800 tierarten in plastik verheddern und viele davon sterben, ist echt müll.

Hier geht es nicht mehr um das personifizierte, in tiefem, märchenhaften Sinne herzlose Plastik – sondern viel profaner um die äußere Hässlichkeit, wie wir sie kennen und geschaffen haben. Und in einem noch profaneren ,Sprachspiel’ wird die Tatsache, dass Plastik ganz real Tiere tötet, als ,Müll’ bezeichnet, umgangssprachlich für ,schlimm’, man hätte auch sagen können: ,mies’, ,scheiße’. Aber auf diese Weise wird nur das postmoderne Unbeteiligtsein angesprochen – und weiter verstärkt. Denn dass eine furchtbare Tatsache bloß ,echt müll’ ist, zeigt so ganz und gar, wie abgestumpft die Seele bereits ist. Nach dem Motto: ,Hey, Leute, die Welt geht gerade unter, passt halt ’n bisschen besser auf, ist doch scheiße, Mann!’ Oder: ,Hey, die Eisbären sterben aus, das ist echt Müll, so was – muss das sein!?’

Hier regt sich nur noch ein winziger Hauch an Seelen-Rest – und kleidet sich absolut angepasst und sklavisch an die coole Diktion, die in jedem Fall das wichtigere ist. Größte Tragik wird so zumindest noch zu einem ,kleinen Aufreger’, mit dem man sich noch einen kleinen Klacks an ,politischer Korrektheit’ geben kann. In Wirklichkeit aber ,juckt’ es einen nicht allzu sehr, dass ,die Welt den Bach’ runtergeht, denn die Sprache ist es ja schon längst. Was ich damit sagen will, ist, unmissverständlich: Wo schon die Sprache jede echte Empathiefähigkeit und jede wirkliche Seelenreinheit abgeschafft hat, da kann nur noch das Gegenteil ,gedeihen’, nämlich wuchern: hässlichste Unbeteiligtheit, die sich nur noch den Alibi-Anstrich eines seichtesten Rest-Bezugs zu geben vermag.

,Das ist echt müll’ bedeutet: ,Das ist kacke, das ist scheiße, und ich mach mir noch ’n bisschen ’ne Platte, dass das nicht so ganz in Ordnung ist.’ Aber das war es dann auch. Und niemand merkt, dass damit fortwährend die Seele verraten, verkauft, prostituiert, vergewaltigt und gemordet wird. Denn es ist ja nun mal heute ,angesagt’. Man soll ja cool sein. Es ist ja ,in’, es ist ja die Währung, in der man heute zahlt. Aber in welcher Währung auch immer die Seele verkauft wird – man hat sich zum Mittäter gemacht und zum bloßen Sklaven der jeweils vorgegebenen Diktatur degradiert.

Das Vollidiotentum der Postmoderne

Das Mädchen mit dem reinen Herzen kann all diese Dinge nicht verstehen und nicht fassen – und mit Recht! Es steht fassungslos vor dem Unfassbaren: Sehenden Auges degradieren sich Menschen in gröbstem Maße und merken es nicht! Halten es gar noch für modern, ja für die Ausgeburt des Modernsten überhaupt. Fühlen sich wohl, wenn sie so hip, so cool, so lässig und trocken-ironisch wie möglich sein können – und erkennen nicht, dass sie sich selbst abschaffen, als Mensch, als wahrhaft menschliche Seele. Diese ist dann nämlich nicht mehr vorhanden. Was bleibt, ist nur noch der Abklatsch einer absoluten Karikatur. Eine hässliche Nichtigkeit, die sich selbst als das Größte erlebt – welch ein Wahnwitz!

Und das Mädchen steht fassungslos... Rund um sie ermorden sich Menschen. Wissentlich. Auch wenn sie es nicht begreifen. Sie tun es aus eigenem Antrieb. Morden ihre Seelen und kommen sich toll dabei vor – denn sie schwimmen mit dem großen Strom, der aber doch nur ein Strom der Vernichtung ist. Aber er heizt das Selbstgefühl und den Hochmut an, und darum geht es. Seelen, die sich über sonst nichts definieren können, müssen sich darüber definieren: über künstlich aufgeblähten Eigenwert, dadurch aufgebläht, dass alles andere herabgesetzt wird. Denn das ist das Wesen des ,Coolen’: nichts mehr ernst nehmen. Dadurch bin ich ja so cool – durch nichts anderes. Ich mache mich zum empfindungslosen Vollidioten – und bin dadurch das absolute Zentrum des Universums.

Und dieses Wort ,Vollidiot’ ist absolut ernst zu nehmen, denn es kommt vom griechischen idiotes, was ,Privatperson’ bedeutet, im Gegensatz zu einem Menschen, der sich um die Belange der ganzen Gemeinschaft bekümmert. Ein ,Idiot’ ist also buchstäblich ein ,Autist’, ein ,Selbst-Sklave’, einer, der monoman nur mit sich beschäftigt ist. Ein Ego-Shooter. Und das ist das Charakteristikum der postmodernen Seele schlechthin – sie ist Vollidiot. Hat keinerlei Bewusstsein mehr für die Wirklichkeit außerhalb ihrer selbst. Sie allein füllt alles aus. Und füllt das Vakuum dann zum Beispiel mit ihrer unendlich hässlichen ,Coolness’ – um so noch mehr zu beeindrucken, in Wirklichkeit aber nur noch hohler zu werden.

Die moderne Seele ist von der wahren Wirklichkeit vollkommen abgeschnitten. Und sie schafft fortwährend weiter an einer Wirklichkeit, die mit Wirklichkeit nicht mehr das Geringste zu tun hat, die nur noch eine Ansammlung von Nichtigkeiten, Hässlichkeiten, Leerheiten und, nun wirklich, Müll ist. Geistiger Müll, seelischer Müll, physischer Müll. Das ist Postmoderne.

Das Mädchen als Wesen des Lebens

Und das Mädchen ist der absolute ,Gegenentwurf’ – denn es ist Gegen-Wesen. Das Mädchen mit dem reinen Herzen ist der Inbegriff des Lebendigen. Überall da, wo die anderen Seelen tot sind, ist das Mädchen lebendig. Es trägt Liebe in sich, guten Willen, Wohlwollen, Zuneigung, Interesse, Anmut... Was ist Anmut? Es ist einfach die Offenbarung echter Unschuld. Und sie, diese Unschuld, ist etwas Lebendiges, sie ist der Urquell des Lebens selbst.

Das Mädchen ist also voller Leben – und die übrigen Seelen sind tot, jedenfalls unendlich weniger lebendig. Das Mädchen bewahrt das wirkliche Leben, das nämlich immer mit Unschuld und Schönheit zu tun hat. Erst recht da, wo es menschliches Leben wird, seelisches Leben, geistiges Leben. Wo es an Schönheit verliert, verliert es auf geheimnisvolle Weise auch sogleich an Menschlichkeit. Der menschliche Geist kann sich in Totes, in Hässliches, in Menschenfeindliches, in Dekadentes hineinsteigern – aber es wird immer das, was es dann ist: Totes, Hässliches, Menschenfeindliches, Dekadentes. Das wahrhaft Menschliche ist stets anderes...

Und ein Wesen verkörpert dies in tiefer Treue: das Mädchen. Dieses eine Mädchen mit dem reinen Herzen. So wird es zum Urbild – und ist es immer gewesen. Wie sehr der moderne ,Feminismus’ gegen dieses Bild auch ,an-wettert’, es ist nur wie eine zeitlich bedingte Welle, die gegen einen lebendigen Diamanten anzugehen versucht.

Aber das Mädchen selbst wehrt sich ja gar nicht. Der Feminismus mag dieses Mädchen als ,absolut unemanzipiert’ und ,aus der Zeit gefallen’ verdammen – das Mädchen mit dem reinen Herzen kann auch dies nicht begreifen. Es kann nicht begreifen, wie die gesamte Welt, Männer und Frauen und alle übrigen, so aus der Wirklichkeit gefallen sein können – wie also eine ganze Zeit aus der Wirklichkeit gefallen sein kann: aus der Wirklichkeit des Herzens. Nicht nur das Plastik ist herzlos – sondern die Seelen selbst sind herzlos geworden: ihr Herz losgeworden. Das Mädchen besitzt es noch, die anderen nicht mehr. Sonst könnten sie das Mädchen nicht verdammen, verspotten, belächeln, negieren.

Das Mädchen offenbart das Herz und damit die Wirklichkeit – und alle anderen verleugnen es und stellen sich damit außerhalb der Wirklichkeit, schaffen diese ab und sich damit gleich mit, als wahrhafter Mensch. Die postmoderne Seele ist nur noch Schein-Mensch. Wie ein Werbeplakat suggeriert sie eine Wirklichkeit, die aber gar nicht mehr vorhanden ist. Nur noch in absolut reduzierter Form. Eine Mogelpackung.

Und das Mädchen durchschaut diese Mogelpackung, denn sie ist offensichtlich.

,Unemanzipative Imagination’?

Die postmoderne Welt wird immer weitermachen mit ihrem ausgefeilten Mordprogramm. Denn es hat eine Eigendynamik gewonnen, die nicht mehr aufzuhalten ist. Wer ,politisch korrekt’ sein will, muss mit den Wölfen heulen, muss das Mädchen mit dem reinen Herzen verdammen, als ,unemanzipative Imagination’, als ,Stütze reaktionär-patriarchalischer Weltbilder’.

So weit sind wir also schon gekommen. Das reine Mädchenherz gilt heute als ,Stütze reaktionär-patriarchalischer Weltbilder’. Als wären all die letzten Jahrhunderte nicht dadurch gekennzeichnet gewesen, dass man(n) einen Scheißdreck um dieses Mädchenherz gegeben hat! Ja, zum Beherrschen war es gut genug – aber mehr auch nicht. Die männlich dominierte Welt hat einfach weitergemacht mit ihrem nicht wahrhaft Menschlichen und oft genug sogar Anti-Menschlichen. Das Mädchenherz jetzt als ,unemanzipative Imagination’ zu erklären, ist ungefähr so wie Christus zum Mörder zu machen, weil ja die Kreuzzüge und gewaltsamen Missionierungen etc. geschehen sind.

Etwa in seinem Namen? Unter Vergewaltigung seines Namens und Wortes und Geistes! Und genauso wurde stets und immer das Mädchenherz vergewaltigt, indem man es vielleicht idealisierte, aber unter diesem Deckmantel die eigene reaktionäre Unmenschlichkeit fortsetzte. Nach dem Motto: das Mädchen muss rein sein, der Mann aber hart und mächtig. Eine Botschaft wird nicht dadurch wahrer, dass man sie jahrhundertelang fortsetzt. Christus verkündete eine ganz andere Wahrheit – und man hat auch sie mit Füßen getreten. Das Mädchen aber hat sie nicht mit Füßen getreten, es bewahrt sie in seinem Herzen. Seit jeher.

Und so ist das Mädchenherz keine ,unemanzipative Imagination’, sondern gerade die volle Wahrheit und das Leben selbst. Das reine Mädchenherz ist die tiefste Wahrheit, die seit Christus möglich ist. Buchstäblich seit Christus – denn es ist Seine Kraft, die im Herzen des Mädchens lebt. Das Mädchen ist eins mit Christus – und Er mit ihr. Das kann man leugnen, solange man will – und solange Christus einen überhaupt nicht interessiert, ,nicht die Bohne’, postmodern eben... Da aber, wo die Wirklichkeit beginnt, da beginnt auch die Wirklichkeit des Mädchens. Da steht als erstes das Mädchen ... treu wie die Wegwarte, auch dies sind ja keine Zufälle.

Das Mädchen ist also die treue Bewahrerin des reinen Herzens – und sie lässt sich freiwillig beschimpfen, verspotten, belächeln und sogar vergewaltigen, geistig, seelisch, physisch, wie Christus, das reine Opfer, für jeden, der darauf herumtrampeln will. Das Mädchen wehrt sich nicht, kann es gar nicht, allenfalls vergebens...

,Tue nun Herz-Werk...’

Das reine Mädchenherz ist eine absolute Offenbarung, eine bleibende – und hineinleuchtend gerade in diese Jetztzeit, die so stolz darauf ist, das Non-plus-ultra der Postmoderne erreicht zu haben, wo angeblich alle gleichberechtigt sind (,Emanzipation’, ,Diversity’ etc. etc.), obwohl diese Zeit mehr denn je unter der maskulinen Dominanz kapitalistischer Geistlosigkeit ächzt und alle Kreatur auf Erlösung harrt (Röm 8,19) – durch den MENSCHEN, der sich aber gerade selbst abschafft!

Wir leben also in einer absoluten Lüge – und im Grunde weiß jede einzelne Seele dies absolut und unmittelbar. Und solche Slogans wie ,Plastik tötet das letzte Einhorn’ gehören zu den wirklich unzähligen Symptomen dieser Wahrheit. Wir leben in einer Lüge, wir leben in der Zerstörung, wir leben in der Farce, wir leben – in einem Sterbenden, einem Toten, wir leben in dem wachsenden, sich ausbreitenden Nichts.

Und Beuys hat dies erkannt, und er hat in männlicher Weise (denn er war ein Mann!) darauf hingewiesen – als Rufer, als Schamane, als Unangepasster, als Narr, als klare Gedanken Aussprechender, als Schweigender, als Provozierender, als nie Aufgebender. Beuys hat die ganze Seele angesprochen, er wollte das Bewusstsein erweitern, aber vor allem über das menschliche Denken.

Das Mädchen handelt anders und sein Wesen ist anders. Das Mädchen ist ebenfalls Ruferin, aber es ist auch die Unsichere, die Stille, die stets Bereite, aber gar nicht Gefragte, die Liebevolle, die Magierin der Begegnung, die Priesterin hingebungsvollen Wohlwollens, die fassungslos Leidende, die oftmals zutiefst Hilflose. All dies ist die Magie des Mädchens. Und sie wirkt nicht minder machtvoll als die, die Beuys zur Verfügung hatte – sie wirkt sogar noch viel tiefer. Denn das Mädchen spricht auch die ganze Seele an und möchte das Bewusstsein erweitern, vor allem aber das Seelenbewusstsein und hier ganz unmittelbar das Fühlen und das mitten in diesem lebende Wollen, das reine Gute, eben das Mysterium des Herzens, ohne jeden Umweg.

In gewisser Weise ist das Mädchen das letzte Einhorn. Und zwar in uns allen. In jedem Einzelnen.

Denn des Anschauns, siehe, ist eine Grenze.
Und die geschaute Welt
will in der Liebe gedeihn.
Werk des Gesichts ist getan,
tue nun Herz-Werk [...].
Siehe, innerer Mann, dein inneres Mädchen,
dieses errungene aus
tausend Naturen, dieses
erst nur errungene, nie
noch geliebte Geschöpf.
(Rilke, ,Wendung’, 1914)

Hingabe und Bewusstsein

Das Mädchen mit dem reinen Herzen steht für alles und bewahrt alles, was die menschliche Seele an heiliger Kraft hat – an Herzenskraft. Und wenn Rudolf Steiner oder nach ihm und auf ihn aufbauend und verweisend Joseph Beuys auf die Tatsache verwiesen, dass die menschlichen Bewusstseinskräfte wieder Verbindung zu den Reichen finden können, die den Menschen umgeben – zu den Reichen des Seelischen (Tiere), des Lebendigen (Pflanzen) und der ewigen Gesetze (Mineralwelt) und damit verbunden auch der Engelreiche –, so ist dies alles ohne die Herzenskräfte, die das Mädchen hütet, gar nicht denkbar.

Wer meint, dem wirklichen Wesen des Tieres (der Tierseele) oder gar dem heiligen Leben der Pflanzen (der Welt des Ätherischen) näherkommen zu können, ohne jene tiefen Hingabe- und Ehrfurchtskräfte, wie sie im Grunde wirklich nur noch in einem reinen Mächenherzen leben – der täuscht sich gewaltig.

Dass auch Beuys solche Kräfte hatte, sieht man unmittelbar an seinen Gesichtszügen – denn die tiefste innere Haltung der Seele prägt sich jedem Gesicht ein. Und die Begegnung mit den nicht-menschlichen Wirklichkeiten und Wesen, sei es, dass sie (zumindest scheinbar) ,unter’ dem Menschen stehen, wie Stein, Pflanze und Tier, die sich der Entwicklung des Menschen gewissermaßen geopfert haben, sei es, dass sie über dem Menschen stehen, weil sie ein viel höheres Bewusstsein haben – eine Begegnung mit welchem dieser Reiche auch immer, erfordert tiefe Hingabe, tiefe innere Kraft, aber auch heilige Stille. Denn diese Reiche haben sich zurückgezogen, weil der Mensch immer ,lauter’ wurde, auch innerlich.

Das Mädchen aber ist das stillste menschliche Geschöpf überhaupt, denn sein reines Herz ist im besten Sinne selbstlos. Und so hört es alles – was sich schon in dem Märchen ,Frau Holle’ offenbart. Das Mädchenherz ist liebend mit allem verbunden, und so braucht es nur einen winzigen Schritt, damit sich der Schleier heben kann – und die den Menschen umgebenden Wirklichkeiten wieder zu sprechen beginnen können. Das Mädchen hat sich keinem dieser anderen Reiche entfremdet – denn es trägt die Kraft der Liebe in seinem Herzen, und diese ist der Schlüssel. Zu allem.

Es gibt auch eine starke, eine mehr ,männliche’ Liebe, und diesen Weg hat Rudolf Steiner vertreten und gewiesen. Liebe, die durch das volle Ich-Bewusstsein, das auf schmalem Grat sogar eins wird mit dem Ego, hindurchgeht und im Verlaufe dieses Weges gefunden wird, immer mehr. Hier steht das Bewusstsein am Anfang und die Liebe am Ende. Beim Mädchen ist es umgekehrt. Hier steht die Liebe am Anfang. Und zart und unaufhaltsam wächst auch das Bewusstsein mitten in diese Liebe hinein, immer mehr. Das Mädchen steht für den Weg der Liebe. Für das Mysterium des reinen Herzens. Ohne dieses Mysterium ist Bewusstseinserweiterung zwar auch möglich, aber nicht das heilige Wunder wahren Menschentums.

Das Mädchen hütet die Himmelskräfte, die das tiefste Geheimnis des Menschen sind. Andere erreichen sie am Ende eines langen Weges. Das Mädchen beginnt mit ihnen.

Gendersternchen in einer maskulinen Schein-Welt?

Und nun steht die Welt vor zwei Wegen: einen Weg wies Beuys – und einen weist das Mädchen. Beide jedoch sind Geschwister im Geiste. Wenn die Welt sich allerdings entscheidet, beide Wege zu verlachen und zu missachten, ist der Tod, den beide gesehen haben – Beuys und das Mädchen – nicht mehr aufzuhalten.

Heute wird Beuys entweder zu einem Scharlatan erklärt oder seine eigentliche Botschaft völlig vergessen, unterschlagen und totgeschwiegen. Jeder bricht sich wie aus einem Steinbruch das heraus, was er gerade mag – aber dann wird es sofort unwesentlich, bekommt vielleicht postmodernen Anstrich, ist aber unmittelbar bloß noch Fragment. Und das Mädchen? Wie wir es gesehen haben, wird es völlig verleumdet – als ,anti-emanzipative Imagination’. Selbstentfremdeter geht es also nicht mehr. Die Welt hat ihre eigene Seele verraten und gibt sich damit zufrieden das seelenlose Gendergerechtigkeit erkämpft wird: Jedem Geschlecht sein Sternchen, alle gleichberechtigt, Friede, Freude, Eierkuchen. Wirklich?

Die Welt ist noch immer ein Haifischbecken, Frauen sind noch immer benachteiligt, erleiden noch immer Übergriffe, sind noch immer massivst strukturell benachteiligt, in ihren Karrieren gehemmt etc. etc. – und die Gendersternchen bereiten hier einem anderen Denken schleichend den Weg. Aber in welche Welt hinein? In einer Welt, in der dann auch Frauen über Massenentlassungen, Personalkosteneinsparungen, Selbstoptimierung und Monetarisierung zu entscheiden haben? Wäre damit etwas gewonnen? Es wäre etwas verloren. Die Erkenntnis nämlich, dass die alles zutiefst männliche Konstrukte sind – und die einzige Hoffnung wäre, dass die weibliche Seele nicht auch korrumpiert wird. Was aber durch ,Gleichberechtigung’ unter maskulinen Vorzeichen zwangsläufig geschieht. Und sich unmittelbar da beweist, wo das Mädchen mit dem reinen Herzen abgewehrt und lächerlich gemacht wird.

Denn dieses Mädchen ist, anders als die ach so emanzipierten Frauen, eine einzige aufrichtige Anklage dieser maskulinen Welt, die alles tötet, vom reinen Herzen bis zum letzten Einhorn – eine Welt, in der von menschlicher Seele keine Spur mehr ist, bis auf alibimäßige Reste. Das Mädchen mit dem reinen Herzen ist der letzte Vorposten einer aussterbenden Welt – deren Sterben wir noch nicht einmal mehr ,echt müll’ (schlimm) finden, sondern das wir längst akzeptiert haben! Geht es noch degenerierter? Der Hirntumor ist schon so weit vorgedrungen, dass wir die Krankheit nicht einmal mehr begreifen – und der Herztumor so weit, dass wir es nicht einmal mehr fühlen.

In Wirklichkeit kann das Herz gar keinen Tumor bekommen – denn es ist das gesündeste Organ im ganzen Menschen, zumindest leiblich. Die Herzkranzgefäße können verkalken und all das – aber das Herz selbst kann nicht krank werden. Es kann nur an Liebeskummer oder Liebesmangel sterben. An einem verkalkten Denken, an einem verdorrten Fühlen. An der Tatsache, dass es nie wahrhaft Herz sein durfte. Daran gehen die Menschen zugrunde, daran gehen auch die Seelen zugrunde.

Was die Postmoderne bekämpft

Die Menschen bekämpfen das Mädchen nicht, weil sie selbst kein Herz hätten, sondern weil sie ihr eigenes Herz mit unglaublichem Gedankenmüll betäuben – einem wesenlosen Müll, der letztlich gänzlich und ohne Ausnahme aus maskulin geprägten Gedanken hervorgeht. Sie bekämpfen das Mädchen also gerade mit Patriarchat, ob sie das zugeben können oder nicht.

Und es besteht heute kein Mut mehr, mit Gedanken ernst zu machen, die das Bewusstsein wieder anderen Wirklichkeiten öffnen könnten – den Tieren, den Pflanzen, den Mineralien, den Engeln ... oder dem letzten Einhorn gegenüber. Aber auch dieser mangelnde Mut ist zutiefst patriarchalisch und maskulin, denn nur der Mann musste historisch immer den ,ersten Platz’ einnehmen und fühlte sich ansonsten bereits in seiner Ehre gekränkt und empfand einen Stein aus seiner Krone gebrochen. Damit aber ist der gesamte postmoderne Hochmut und Ego-Bezug als zutiefst maskulin gekennzeichnet. Wer das Patriarchat auch innerlich überwinden wollte, der müsste den Mut haben, sich dem Wesen des Mädchens anzunähern. Denn das Mädchen ist das einzige Wesen, das mit der Überwindung des Patriarchats vollen Ernst macht. In sich selbst lässt es nichts davon übrig, rein gar nichts.

Und so auch Beuys – Beuys hat sich mitten hineingestellt, er hat sämtliche Urteile über ihn angenommen, hat sich verletzlich gemacht bis ins Unerträgliche, hat nichts abgewehrt, alles immer nur als Möglichkeit zu neuem Gespräch und neuer Begegnung gesehen. Welcher ,Mann’ täte das? Keiner! Beuys war dem Mädchen und dessen Herzenskräften also ganz, ganz nahe. Dass er kein Mädchen war, ist etwas anderes – er hatte eben eine etwas andere Aufgabe, die mehr mit den Bewusstseins- und Denkkräften zu tun hatte, während das Mädchen mehr mit den unmittelbaren Herzenskräften zu tun hat. Trotzdem hat er das Mädchen nie verraten, wie wir es tun, sondern stets den Bund mit ihrem Wesen gehalten.

Die Welt aber verleugnet beide – wie sie auch Christus verleugnet hat. Das Mädchen ist der Welt zu ,gut’ (!), zu ,selbstlos’ – und Beuys ist ihr angeblich zu schwammig, zu esoterisch. In Wirklichkeit aber hat die Welt nur nicht den Mut, geistesklar und esoterisch zu werden, denn hier sind die Dinge sehr wohl eindeutig und lichtklar, das Einzige ist, dass der Mensch von seinem selbsternannten Thron gestoßen wird und die Welt viel größer und komplexer wird, als er es sich in seinem materialistischen Schrumpfgeist imaginieren wollte. Das kann der maskulin geprägte Narzisst (auch wenn er emanzipiert-weiblich ist) nicht ertragen. Deswegen bezeichnet er das Esoterische, was er nicht kennt, als ,schwammig’ – aus seiner eigenen schwammigen Faulheit heraus. Und das Mädchen wird als ,selbstlos’ verleumdet, weil der männliche oder weibliche Narzisst von seiner eigenen bodenlosen Selbstverliebtheit nicht herunterkommt.

In Wirklichkeit wird Beuys abgelehnt, weil auch er viel zu selbstlos für die postmoderne Seele war – und das Mädchen wird abgelehnt, weil es viel zu geistesklar die postmoderne Seele mit ihrer eigenen Hässlichkeit konfrontiert. Aber die postmoderne Seele dreht es sich hin, wie sie es gerade braucht – und belügt sich weiter. Fühlt sich wohl mitten im Müll... Hält sich bereits für ,gut’, wenn sie ein paar Gendersternchen setzt und Bienenkästen aufstellt – und für geistesklar, wenn sie das Mädchen als ,unemanzipativ’ abstempelt und Beuys ,krude Esoterik’ und ,autoritären Schamanismus’ vorwirft.

Die postmoderne Seele ist unheilbar selbstverliebt in ihre eigenen Irrtümer. Und damit hat sie das Urteil über sich selbst und die Welt gesprochen – denn so ist sie nicht mehr zu retten.

Rettung geschähe nur, wenn die Seele das Mysterium des klaren Geistes und des reinen Herzens erkennen und wieder lieben lernen würde, eine Sehnsucht empfinden könnte – die sich jenen beiden wieder nahe fühlte: Beuys und dem Mädchen.

Nur ein Quentchen Vernunft?

Die Postmoderne und alle Seelen, die sich mit ihr verbunden fühlen, werden dies wie einen Witz abtun. Sie werden sich weiter einem Schrumpfbewusstsein verschreiben, das glücklich ist, wenn Tiere allenfalls schwanzwedelnder Hund, Geräuschkulisse im Frühling und Sommer oder aber Fleisch auf dem Teller sind; wenn sie nichts mit Engelwesen zu tun haben müssen – und wenn die Ausbeutung der Ressourcen ungebremst weitergehen kann.

Andere Menschen spüren das abgrundtiefe Falsche dessen – und besitzen dennoch nicht den Mut, sich klarzumachen, was der bewusstseinsmäßige Ursprung dieser Tragik ist, die sich ungebremst fortsetzt. Ebenso wie Technisierung, Anonymisierung, Überwachung, Geopolitik, Korruption, Machtgier, Profitstreben, Selbstbezug, Rückzug ins Private, Resignation, menschliche Kollisionen, Bindungsunfähigkeit und tausend andere Dinge, die alle unter dem großen Zeichen einer wachsenden Entmenschlichkeit, genauer: Entseelung stehen.

Man erkennt die Zeichen der Zeit, aber nicht ihren Ursprung, ihren dunklen Quell – der als Krankheit in jedem Einzelnen lebt. Und hochmütig denkt man: ,Wenn alle zumindest so ,vernünftig’ wären wie ich, wäre die Welt ja in Ordnung!’ Das mag sein – aber vielleicht hätte genau dieses postmoderne Mittelmaß ebenfalls jene Welt geschaffen, die wir heute haben: mit Fernseher, Fleischtheken, Staatsgrenzen, Geopolitik, Eigenheim-Streben, Billigkauf-Reflexen etc. etc. Die Welt wäre eben keine andere.

Sie wird auch keine andere, wenn Unentwegte auf diesen oder jenen Missstand hinweisen, denn die Missstände gehen in die Tausende – und es sind alles nur Symptome. Der bloß ,aufgeklärte Humanismus’ ist gründlich gescheitert, denn er hat an der ,Conditio humana’ letztlich nicht das Geringste geändert. Tiere werden getötet und unmenschlich gehalten, weil es ,eben nur Tiere’ sind. Menschen werden getötet, gedemütigt oder befeinden sich gegenseitig, weil – der Bewusstseinsprozess des ,Ego-Shooters’ sich immer noch fortsetzt. Das Bewusstsein zentriert sich immer weiter, und die Ausweitung, verbunden mit Herzkräften, hält damit nicht einmal ansatzweise Schritt. Damit aber wächst ein ungeheurer Selbstbezug – während der Weltbezug nur wie ein Alibi hinterherläuft, in der Regel nur mehr oder weniger im Dienste des Ego.

Das Bewusstsein, das die Probleme geschaffen hat, kann sie also nicht lösen – und wer glaubt, es fehle eben nur jenes berühmte ,Quentchen’ Vernunft, der verlängert den tragischen Irrtum nur ins zeitlich Unbegrenzte. Was fehlt, ist eben keineswegs nur jenes Quentchen, das man immer selbst hat, die anderen jedoch leider oft nicht – sondern eine viel grundsätzlichere Umkehr. Nicht etwa in Richtung Vergangenheit, sondern in Richtung echte Zukunft.

Wer den Mut nicht hat, die eigenen Bewusstseinskräfte zu weiten, der wird an dem reaktionären Fortgang der Gegenwart mitwirken und mitverantwortlich dafür sein, dass selbst der aufgeklärte Humanismus niemals herrschend werden wird. Denn selbst dies geschähe nur, wenn eine größere Zahl von Menschen bereits weiter ist. Heute ist eine große Zahl auf der Stufe des ,aufgeklärten Humanismus’ – und die Welt steht noch immer auf einer viel, viel primitiveren Stufe (genannt Kapitalismus, Materialismus, Geopolitik etc. etc.). Die nächste Stufe wird erst erreicht werden, wenn genügend viele Menschen bereits die übernächste Stufe verwirklichen – und wieder die Reiche der Tiere, der Pflanzen, der Mineralien, der Engel und des Einhorns kennenlernen.

Wenn man also Beuys ernst zu nehmen beginnt – und die Kräfte des reinen Mädchenherzens nicht mehr belächeln wird.

Dann begänne Hoffnung.