20.06.2021

Wie man Beuys totschreiben kann

Weitere Gedanken zum Ausstellungskatalog des Hamburger Bahnhof.


Inhalt
,Der Born borniert’
,Zu was soll mich das denn inspirieren?’
,Wem kann er heute noch Spaß machen?’
Die eigene ultimative Trägheit
,...sich für andere zu öffnen’
,Was gerettet werden muß, ist die menschliche Seele.’
,Die Person rührt mich.’
Noch einmal: Was ist Kunst?
Bilanz


,Der Born borniert’

Über den leider sehr traurigen Hauptaufsatz der Kuratorin der Beuys-Ausstellung im Hamburger Bahnhof habe ich bereits ausführlich geschrieben. An dieser Stelle möchte ich zumindest kurz den Blick auf den übrigen Katalog weiten.

Auf den Beitrag von Schallenberg folgt eine Collage verschiedener Äußerungen ganz Außenstehender, über die es im Vorwort heißt:

Beiträge, die in Kooperation mit dem Kollektiv die Wiese / [arab., H.N.] der Neuen Nachbarschaft//Moabit entstanden sind, eröffnen in Ausstellung und Katalog daher weitere kulturelle und literarische Perspektiven auf Beuys’ Verständnis von Sprache [...].

Zehn Menschen des Berliner Bezirks Moabit äußern sich hier in Form kurzer ,Briefe’ mit ihren Gedanken und Assoziationen zu Beuys’ Rede bei der Veranstaltungsreihe ,Reden über das eigene Land: Deutschland’ in den Münchner Kammerspielen 1985.

Miriam Rainer schreibt (S. 31):

Warum benutzt er das altertümliche Wort „Born“, wenn er „Brunnen“ oder „Quell“ hätte sagen können? Ich lese die Rede nochmals durch und es fällt mir auf: Er beginnt mit dem Born. Er endet auf borniert. Und zwar, wenn er die „bornierte“ Sicht des Kultusministeriums, auch des Staates, auf künstlerische Bildung anprangert. Das Sprechen vom Born wird von der Borniertheit eingeholt, heimgesucht, und das ironisiert den „Born“ zumindest. Der Born borniert – das heißt beschränkt, grenzt ab und ein und aus.

Beuys hatte am Ende seiner Rede gesagt, dass das heutige, staatlich kontrollierte Bildungswesen in Schule und Hochschule in Bezug auf die Vorgaben, Lehrpläne etc. ,von Ideologien besetzt ist, die die Kultusministerien entwickeln aus ihrer bornierten Sicht, die der Staat bestimmt aus seiner bornierten Sicht und die nicht Lehrende und Lernende frei lassen [...]’.

Wie man den ,Born’ der deutschen Sprache am Ende mit Beuys’ schärfster Kritik an der staatlichen Diktatur des Geisteslebens zusammenbringen kann – als hätte Beuys damit auch sein Sprechen vom ,Born’ ironisiert, ist unfassbar. Es vergewaltigt Beuys und sein Denken regelrecht. Aber leider zeigte dies ja schon der von mir ausführlich besprochene Aufsatz, und offenbar ist dies heute geradezu der Normalfall. Niemand besitzt mehr soviel Ehrfurcht vor einem anderen Menschen, dass er ihn erst einmal verstehen will – es wird immer gleich losgedeutet, völlig fern von den Tatsachen. Und das ungeheuer Wesentliche, was ein Mensch zu sagen hatte, wird nicht nur links liegengelassen, es wird regelrecht niedergetrampelt.

Es ist seltsam, dass das Wort ,borniert’ den gleichen Klang hat. Im Gegensatz zu dem deutschen ,Born’, der wirklich ,Quelle, Brunnen’ bedeutet, also etwas Reiches, Spendendes, stammt ,borniert’ von frz. borner = abgrenzen, ein-, beschränken. Während der bornierte Geist also beschränkt ist – und deswegen auch anderes beschränkt –, ist der Born gerade das Unbeschränkte, das gleichsam grenzenlos Spendende. Und es ist ungeheuer borniert, diesen Unterschied, ja Gegensatz nicht zu sehen oder gar sehenden Auges zu zertrampeln.

,Zu was soll mich das denn inspirieren?’

Orsolya Kalász schreibt (S. 32):

[...] mein Ehemann meinte, als wir über Beuys geredet haben, einen Mann, der darauf besteht, dass man sich an ihn als einen Mann mit Hut erinnert, den könne man nicht ernst nehmen. Kann jemand, den ich nicht ernst nehme, inspirieren?

Abgesehen davon, dass sie das Urteil ihres Ehemannes hier offenbar unmittelbar und eins zu eins selbst zu übernehmen scheint, ohne irgendwie ein eigenes Urteil zu bilden, ist schon das ihres Mannes absurd. Hat Beuys darauf ,bestanden’? Oder hat er einfach nur auf dem Recht bestanden, einen Hut zu tragen? Wie sehr nimmt man einen Menschen überhaupt ernst, dessen eigene Entscheidungen man nicht ernst nimmt? Wie sehr ist man auch hier wieder im eigenen (Schein-)Denken bloßer Diktator?

Dieselbe Miriam Rainer von vorhin schreibt etwas später (S. 33):

Ich verhöre mich lieber, als mich an die Eintönigkeit des gebotenen, geradezu begehrten Borns zu halten: „Born“, „born“, „geboren“, „Boden“, „gestorben“, „borniert“, „bored“. Irgendwie reime ich mir die Rede beim Lesen anders zusammen. Ich vertreibe mir mit translingualen Erweiterungen die Langeweile.

Hier sehen wir die Essenz solcher ,Urteile’! Im Grunde geht es nur um sinnfreie Assoziationen, die die eigene Langeweile, sprich: das absolute Desinteresse ,vertreiben’ sollen. Postmoderne Sinnentleertheit als Begründung für eigenes ,Urteilen’ – welch eine ungeheure Farce! Welch eine Beschmutzung von Beuys’ Individualität, der das genaue Gegenteil wollte! Verantwortlichkeit, Engagement, Initiative – die Befreiung des Einzelnen zu wirklichem Schöpfertum! Stattdessen: ,translinguale’ Idiotie...

Und Monika Rinck schreibt (S. 34f):

Liebe Sandra, Beuys-Müdigkeit. Ja, dieses hohl (und irgendwie kaputt) Elementare. Vielleicht etwas wie die Wiederkehr des Verdrängten, aber diesmal verkleidet als Bearbeitung des Verdrängten? [...] Zu was soll mich das denn inspirieren?

Hier fehlen einem wirklich die Worte. Denn hier fehlt erneut sogar jeder Ansatz eines Versuches, einen anderen Menschen zu verstehen, der, ja, Elementares zu sagen hatte – etwas, was kein bisschen ,hohl’ und erst recht nicht ,kaputt’ war. Hohl und kaputt sind nur die geistigen Fähigkeiten der Menschen, es sind absolute Unfähigkeiten geworden. Hohl und kaputt isoliert man sich voneinander, schwebt in den eigenen postmodernen Blasen und hat nicht mehr das leiseste Organ für das, was ein Mensch ausdrücken will – und sogar sehr klar ausdrückt für alle, die Ohren hätten zu hören. Der Born der Sprache wird zu sinnentleertem Geplapper, denn man selbst hat seinen Bezug zur Sprache völlig verraten. Desinteresse und müdes Abwinken – sie sind es, die den Geist eines Anderen, seinen ungeheuren Inhalt und sogar die Sprache selbst zu Grabe tragen.

,Wem kann er heute noch Spaß machen?’

Christian Filips bekennt (S. 34):

Ich habe mich so auf diese Rede gefreut, und jetzt finde ich in ihr nichts vor als Wörter, mit denen ich nichts anzufangen weiß:
„Auferstehungskraft“, „Gedankenbildungskraft“, „menschliche Schöpferkraft“, „traditioneller Kunstbegriff“, „erweiterter Kunstbegriff “, „Mein Weg ging durch die Sprache“, „Soziale Plastik“, „Verschleierung der Macht des Geldes“, „Scheindemokratie“, „die Welt ist voller Rätsel, für diese Rätsel aber ist der Mensch die Lösung“, „Nahrungsbedarf für des Menschen Seele“, „KAPITAL ist Fähigkeit und Produkt der Fähigkeit“, „sozialer Organismus“, „unseren Gegner von gestern als unseren Freund von morgen sehen“, „Freiheit als Ansatzhebel für alles“, „Der Mensch wird totgeschwiegen“, „Jeder Mensch ist ein Künstler“, „KUNST = KAPITAL“.

Es ist verstehbar, dass Beuys für nicht wenige nicht unmittelbar verstehbar ist. Nicht verstehbar aber ist, dass jemand, der Beuys so unglaublich nicht versteht, dieses eigene Nichtverstehen sogar noch als arroganten Vorwurf nach außen kehrt und gegen Beuys richtet – nach dem Motto: ,Ey, Alter, sprich Klartext oder halt die Klappe!’ Denn genau das ist die Brutalität der Postmoderne. Eine immer unmenschlichere und brutalere Haltung, die nur noch eins ist: absolute Konsum- und Anspruchshaltung. Das völlige Gegenteil von dem, was Beuys erwecken wollte und selbst war.  

Der Beweis, das auch Filips diese Arroganz offenbart, sind seine vorherigen Sätze:

[...] sollen wir vor B.’s großen Brocken [...] stehen bleiben und perplex schweigen, während er und der Diskurs über ihn weiter und weiter labert? Nur Bahnhof verstehen. [...] [...] wie gut, wie schlecht ist Beuys gealtert? Wem kann er heute noch Spaß machen? Wen ansprechen?

Beuys labert nicht – der Diskurs vielleicht schon, denn auch er redet Beuys oft zu Tode und kehrt unter den Teppich, was sein Ur-Anliegen war. Filips jedoch sieht in Beuys einen abgehalfterten Gestrigen – der heute kaum noch jemanden anspricht. Warum? Weil er nicht ,hip und fetzig’ daherkommt, wie ein guter Song unmittelbar ,in den Kopf geht’, weil er eben ,keinen Spaß macht’. Das obige Zitat zeigt die arrogante Haltung des ,Sich-Zurücklehnens’, während jemand wie Beuys erst einmal ,liefern’ muss, bevor ich müde entscheide, ob ich mich für ihn vielleicht ein wenig ,interessiere’. Es offenbart die ganze Kaputtheit der postmodernen Seele.

Die eigene ultimative Trägheit

Derselbe Filips schreibt direkt darauf (S. 34):

[...] ich erinnere mich an diese Geschichte, die Schlingensief mal erzählt hat. Sein Vater habe eine Rede von Beuys gehört, Beuys habe gesagt, der Kapitalismus sei in fünf Jahren vorbei. Der Vater habe fünf Jahre gewartet. Als der Kapitalismus nach fünf Jahren nicht vorbei war, sagte der Vater: Jetzt hat dieser Beuys mich fünf Jahre meines Lebens gekostet. Aber der Gedanke war ja fünf Jahre da, als Zeitvertreib. [...] Beuys’ Kapitalismuskritik vermeidet jegliche konkrete Analyse, rettet sich lieber in Kunstnebel.

Ist es nicht erstaunlich? Filips identifiziert sich mit Schlingensiefs Vater. Dieser wiederum – was tat er? Er hörte voller Wohlgefallen Beuys’ Satz, der Kapitalismus sei in fünf Jahren vorbei. Dann wartete er! Und als der Kapitalismus nach fünf Jahren noch immer nicht vorbei war, warf er Beuys vor, er habe ihn fünf Jahre seines Lebens gekostet! Warum!? Etwa, weil dieser Vater fünf Jahre seines Lebens mit einer falschen, irrtümlichen Erwartung vergeudet habe? Welchen Sinn ergibt das denn? Überhaupt keinen – erneut absoluter, postmoderner Non-Sense, völlige Idiotie.

All diese Menschen verwirklichen nicht ein bisschen von individuellem Schöpfertum. Und sie werfen Beuys sogar noch hier vor, dass er nicht ,geliefert’ habe. Der Kapitalismus hatte doch in fünf Jahren vorbei sein sollen! Ich hatte es doch erwartet – und nun habe ich fünf Jahre meines Lebens vergeudet, für diesen Unsinn, den Beuys gesagt hat!

Das erinnert mich an eine Schilderung von Rudolf Steiner, der die träge Passivität der Menschen einmal mit einem Mann verglich, der in einem Straßengraben lag und jammerte – aber nicht etwa, weil er da lag und nicht aufstehen konnte, sondern weil ihm sogar noch die Erdumdrehung zu anstrengend war! Am liebsten hätten die Menschen nicht nur völlige innere Trägheit, sondern auch noch äußeren Stillstand. Beuys ist bereits zu anstrengend, um auch nur über seine Impulse nachzudenken. Selbst etwas zu tun, ist geradezu der Gipfel von Unverschämtheit. Der Kapitalismus soll sich sozusagen selbst abschaffen – man selber verfolgt es nur wie ein ,Event’.

Wenn Beuys von den fünf Jahren sprach, dann setzte er auf die ungeheure Dynamik und Bewusstseinsentwicklung in den Menschen. Die Menschen aber lehnten sich zurück und sagten: ,Beuys meinte, der Kapitalismus sei in fünf Jahren zu Ende – mal sehen, ob’s stimmt...’

Und Filips? Er unterstellt, Beuys bringe keinerlei konkrete Analyse – und diese Worte von einem Mann, der zuvor bekannt hat, er verstehe bei Beuys kein einziges Wort! Geht es noch absurder?

,...sich für andere zu öffnen’

Wie eine Erlösung ist dann endlich eine Passage wie die von Galal Alahmadi (S. 35):

Liebe Sandra, ich verstehe vollkommen, was Beuys meint, oder genauer, wie er denkt. Ich habe bereits alles über ihn auf Arabisch gelesen. [...] Das Verschwinden einer Sprache bedeutet das Verschwinden eines Volkes. Beuys’ Worte sind scharf und klar [...], weil sein Ziel – für ihn – klar war, nämlich die Wiedergeburt der Nation durch die Sprache und nicht die Wiedergeburt der Sprache selbst.

Und, wohlgemerkt, hier ging es nicht um eine neue ,deutsche Größe’, auch nicht – wie in den Beispielen des ,Arabischen Frühlings’ – um eine Befreiung von bereits äußerlich klar sichtbaren Diktaturen, sondern um die Frage nach der deutschen Aufgabe, die Beuys so beantwortete, dass sie ein Dienst für die gesamte Welt sein würde, nämlich die Offenbarung des absolut Zukünftigen der Sozialen Plastik, einer wahrhaft menschlich werdenden Gesellschaft, einer den Kapitalismus, das Profitdenken und jegliche Geistesdiktatur endgültig überwindenden Gesellschaft.

Nicht Freiheit für das Kapital und Einheits-Lehrpläne und Einheits-Abschlüsse für Schulen und Universitäten, sondern Freiheit für das Geistesleben an jedem einzelnen Ort und Brüderlichkeit als essenzielles Prinzip im gemeinsamen Wirtschaftsleben. Hierfür hat Beuys gekämpft, gerungen, gelebt, tage- und nächtelang durchdiskutiert. Dies wäre das, was durch die Sprache, das Denken, das Erkennen hätte geboren werden sollen – und noch immer. Die Wiedergeburt steht noch immer bevor. Die des Einzelnen – und die der ganzen Gemeinschaft.

Man ist erschüttert, wenn man wiederum etwas später erfährt, dass der Schriftsteller und Regisseur Christian Filips einer der zwei Gründer des Moabiter Literatur- und Übersetzungskollektivs ist. Der andere, Khenan Kadaj, berichtet, wie er nach Deutschland kam – und er zunächst die Sprache überhaupt nicht konnte (S. 38):

Was war zu tun? Musste ich in meinem Kopf isoliert bleiben oder sollte ich einem anderen erlauben, in ihm und zwischen meinen Gedanken zu wandern, um zu verstehen, wie er meine Worte sagen kann? Wie bei allen schönen Dingen erforderte es einen Vertrauenssprung, und dies ist im Grunde die Wahrheit der Übersetzung: Vertrauen, das dazu führt, sich für andere zu öffnen, ein kleiner, aber ernsthafter Versuch, als Menschen zusammenzukommen – dieses Gefühl ist der Weg zur Heilung, und so habe ich meine eigene Sprache entdeckt.

Dieser Mann beschreibt die Wahrheit in ihrer Tiefe: Jedes Verstehen ist ein inniger Prozess des Sich-Einlassens, und jeder dieser Prozesse ist Heilung, denn es ist Begegnung – und damit, im Kleinen: Soziale Plastik. Ein Geschehen, in dem das tief Menschliche aufleuchtet, das da ist: Liebe, Sich-Einlassen, Sich-Öffnen.

Bei Filips dagegen lebte in seinen Worten über Beuys nicht das Geringste davon.

,Was gerettet werden muß, ist die menschliche Seele.’

Der ganze Textteil schließt mit einer anderen Passage von Kadaj ab, die wiederum kommentarbedürftig ist (S. 39):

Beuys schreibt: „Wenn ich aber danach frage, was denn eigentlich auf dieser Erde gerettet werden muß, dann ist es noch nicht das Stoffliche. Es ist sogar eigentlich nicht der menschliche Leib. Wir alle wissen, daß wir sterben werden. Was gerettet werden muß, ist die menschliche Seele.“ Solche Sätze erlauben es ja, dass Kriege entstehen! Wie kann man die Seele des Menschen retten, wenn man den menschlichen Leib nicht rettet?

Die Frage ist, wie Kadaj sich hier bemüht hat, das wahrzumachen, was er vorher beschrieb, als heilenden Weg des Sich-Öffnens, um so zu dem immer wieder neuen Wunder des Verstehens zu kommen. Es ist aber auch verständlich, dass solche Sätze für ihn zunächst etwas sehr Schmerzliches berühren, denn Kadaj kommt aus Syrien und musste 2014 wegen politischer Verfolgung fliehen.

Aber – je essenzieller Sätze werden, desto mehr ,erlauben’ sie, theoretisch, denn jeden Satz kann man auf jede beliebige Weise missbrauchen. Und Krieg ist ja immer ein Missbrauch, deswegen ist er immer von Propaganda begleitet und meist auch durch solche vorbereitet. Der Missbrauch von Sätzen sagt jedoch nichts über diese selbst aus – nur über den Missbraucher. Was aber wollte Beuys sagen?

Beuys wollte sagen: Das Leibesleben ist nicht das Höchste, es gibt etwas, was noch weit darüber hinaus geht und was erst wirklich das Kostbare ist. Der Verweis auf die Kriege trifft völlig ins Leere – denn eine Seele, der man den Leib entzieht, indem man sie Kriegen opfert, hat man auch gemordet. Und insofern zielt Kadaj auf genau dies, wenn er fragt, wie man die Seele retten könne, wenn man den Leib nicht rette. Aber darum ging es Beuys gar nicht. Ihm ging es um die Frage, wie man gelebt hat, wenn irgendwann das leibliche Leben zu Ende sein sollte – nicht durch Krieg, sondern durch Alter, möglicherweise auch das Alter der Menschheits- und Erdenentwicklung selbst, die auch endlich ist, also irgendwann ein Ende des rein Stofflichen haben wird.

Inmitten des Leibeslebens geht es um das Seelenleben. Der Leib ist kein Selbstzweck – er ist (zeitweilige) Heimat für die Seele. Ein Alkoholiker-Leben, ein computersüchtiges Leben, ein dahinvegetierendes Leben ist auch Leben – aber ist es aus Sicht der Seele noch Leben? Oder ist ein von kapitalistischen Zwängen von der Geburt bis zum Tod vorgegebenes Leben eines ,malochenden’ kleinen ,Rädchens im Getriebe’ aus Sicht der Seele Leben? Beuys wollte auf die Frage hinaus, wie wir die Bestimmung des Menschen wahrmachen können – und welche Bedingungen dafür gegeben sein müssen, welche Bedingungen wir dafür schöpferisch in die Welt bringen müssen, um die Welt für die Seele so zu gestalten, dass diese menschliche Seele sich offenbaren kann, in ihrem ganzen Wesen!

Und eben nicht nur als ,Leibeswesen’, als in der Materie und im Konsum versinkendes Etwas, was aber nicht mehr wahrhaft Mensch ist. Beuys Satz ermöglicht nicht Kriege – er beendet Kriege. Heute herrscht ein Krieg der Materie gegen Seele und Geist, und das Materielle hat schon weit, weit gewonnen, die Seele ist bereits ungeheuer unterworfen und halb getötet, sie ist bereits so bewusstlos, dass sie von ihrem eigenen Wesen gar nichts mehr weiß. Und sie stirbt weiter – oder kann sie sich noch erholen und ... zurückschlagen? Ihren Sieg davontragen...? Und dann auch beginnen, sogar das Materielle ... zu heilen?

,Die Person rührt mich.’

Es gibt in dem Ausstellungs-Katalog einzelne Oasen, so den Beginn des Aufsatzes von Holger Schulze, der sich erinnert, wie er in seiner Kindheit im Fernsehen sah, wie Beuys 1982 in der Sketch- und Musik-Sendung ,Bananas’ mit seinem Song ,Sonne statt Reagan’ auftrat (S. 68):

Die Person rührt mich. Ich bin nicht ganz zwölf Jahre alt. Ich frage mich: Warum tritt diese Person, sie erscheint mir sehr ernst und etwas verunsichert, in dieser Fernsehsendung mit Sketchen und Musik auf? Sie ist eindeutig fehl am Platz. Das ist mir unangenehm. Doch die hier deplatziert scheinende Person ändert die Situation. [...] Ich mochte diesen Mann. Er war völlig aus der Zeit gefallen, das war klar. [...] Linkisch hielt er das Mikro in der Hand und ebenso linkisch stemmte er, wie in angelernter Pose, die linke Hand stolz in die Seite. Auch war er alles andere als ein Frontmann, wie ich sie von anderen Bands kannte: Er blieb im hinteren Teil der Bühne, noch hinter dem Schlagzeug; bewegte sich oft außerhalb des Schlaglichts.

Im Grunde erkannte dieser Junge Beuys viel tiefer als alle Kunstwissenschaftler zusammen – denn er sah den Menschen. Er sah als Einziger ungeheuer intensiv, was Beuys immer war: Mensch. Verletzlicher Mensch – bis ins Letzte aufrichtig. Wenn man die Aufnahmen von Gesprächen mit ihm sieht, dann sieht man dies. Beuys’ Gesichtsausdruck war immer aufrichtig, ernst, anwesend. Sein Gesicht, seine Augen, hatten oft etwas Trauriges. Beuys war ganz und gar Mensch, eins mit seinem Impuls, den so wenige verstanden. Seine Gesprächspartner hatten oft etwas Maskenhaftes, gerade im Vergleich.

Ja, Beuys trug immer seinen Hut und die Anglerweste – aber andere trugen stets ihre Masken. Und Beuys war noch in Hut und Anglerweste immer Mensch, und auch auf der Bühne war nichts einstudiert: Er war so sehr Mensch, dass sich sogar der zwölfjährige Junge ,fremdschämte’. Aber nein, es war kein Fremdschämen, es war die Wahrnehmung, dass hier ein Mensch sich völlig verletzlich hinstellt, während alles Übrige perfekt choreografiert ist. Alle anderen erscheinen wie Profis – stimmig, durchgestylt, souverän –, und nur einer erscheint wie ein echter Mensch, durchsichtig mit all seinen Unvollkommenheiten, linkisch. All das, aber vor allem eins: Aufrichtig bis ins Letzte.

Schulze weist auch in seinem weiteren Aufsatz darauf hin, dass Beuys mit all seinen Aktionen sich selbst als Person immer wieder ,gefährdete’, ,riskiert’, ins absolut Unsichere hineinstellt. Aber zugleich durchbrach er damit immer wieder auch die Abgesichertheit des ,in den Erwartungshorizont der jeweiligen Ritualordnung eingebetteten Publikums’ (S. 76). Mit anderen Worten: Indem er sich außerhalb der festen Rituale und Erwartungshorizonte stellte, befreite er den Mitmenschen ansatzweise gleich mit – denn er stieß ihn in die Verunsicherung, die ja der erste Beginn jedes Hinterfragens von Etwas ist, was man unhinterfragt bisher als alternativlose ,Normalität’ einfach hingenommen hat.

Immer wieder wies Beuys durch seine Aktionen darauf hin, dass das ,Althergebrachte’ möglicherweise gerade die Krankheit sein könnte.

Noch einmal: Was ist Kunst?

Schulze ist vor allem mit dem Beginn seines Aufsatzes die absolute Ausnahme – auch er ist hier authentisch und damit bereits künstlerisch, denn er trägt tatsächlich etwas Neues, Substanzielles, Wesentliches bei, etwas, was den Blick öffnet, grundlegend verändert.

Generell ist es jedoch die Tragik von Kunstwissenschaftlern, dass sie nur noch über Kunst sprechen, aber selbst keine Künstler sind. Zumeist erheben sie aber den Anspruch, damit sogar ,über’ der Kunst zu stehen, weil sie sie ja ,kontextualisieren’, ,beurteilen’, ,bewerten’ etc. könnten. Dieser Anspruch ist allzuoft völlig überhöht – definitiv aber da, wo ein Künstler nicht einmal primär verstanden wird.

Matthias Weiß schreibt in seinem Aufsatz über eine Diskussion des Jahres 1970 (S. 155):

Während sich Max Bense, Max Bill und Arnold Gehlen auf konkrete Arbeiten bezogen, wollte Beuys sein Kunstverständnis im Allgemeinen debattieren. Vor allem jedoch begriffen die drei anderen Diskutanten die Kunst als Gegenstand ihrer Diskussion, wohingegen Beuys die Diskussion zum Gegenstand seiner Kunst machen wollte.

Genau das umreißt die Problematik: Die drei anderen wollten ,über’ Kunst reden, verstanden jedoch nicht, dass das fruchtlos ist, zumal sie sich auf Beuys’ erweiterten Kunstbegriff nicht einmal ansatzweise einlassen konnten. Beuys dagegen wollte die Diskussion nicht zum Gegenstand ,seiner’ Kunst machen, sondern er wollte aufzeigen, dass es nicht darum geht, ,über’ Kunst zu reden, sondern künstlerisches (nämlich: gesellschaftsveränderndes) Potenzial zu entfalten – selbst! Jeder Einzelne. Es ging nicht um ,seine’ Kunst – das gerade ist das einzige falsche Wort im obigen Absatz.

Es ging um ,die’ Kunst, um die soziale Plastik. Im Grunde ist alles Kunst, aber die Menschen merken es nicht. Sie diskutieren und diskutieren (,über’ Kunst) – und merken nicht, dass sie sich inmitten eines künstlerischen Prozesses befinden, der nur dann keine Kunst ist, wenn er nichts verändert und wenn auch sie sich in diesem Prozess nicht verändern. Eine Diskussion, die die Beteiligten aber nicht verändert, ist sinnloses Zeug, öffentliches Scheingeschehen. Beuys wollte, dass Diskussionen bewusstseinserweiternde Ereignisse werden. Dann aber wären sie Kunst, in jedem Einzelnen. Denn sie wären Plastik – Bewusstseinsplastik, soziale Plastik. Sie wären Schaffendes. Neues.

Und es ging Beuys niemals um ein ,l’Art pour l’Art’. Beuys wollte sehr konkret das Bewusstsein, die Wahrnehmung, die Begriffe erweitern. Noch einmal: Er wollte das Geistesleben befreien, er wollte, dass die Menschen erkennen, dass das Wirtschaftsleben brüderlich gestaltet werden müsse. Er wollte, dass die Menschen verstünden, was es heißt, menschlich zu denken, zu empfinden, zu handeln und zu gestalten. Er wollte, dass die Begriffe aktiv gestaltet werden würden – und auf ihnen aufbauend auch die äußeren Strukturen, die sich Menschen für das Zusammenleben geben und schaffen. Dies wollte er fortwährend in Bewegung halten – und dem eine Bewegung auf ein spirituelles Ziel hin geben: den Menschen. Ein (spirituell-geistiges) Wesen, das erst da zufrieden wäre, wo es schöpferisch alles so gestaltet hätte, dass nichts mehr das Erlebnis hinterlassen würde, dass es noch nicht ganz-menschlich gestaltet wäre...

Nur ,über’ Kunst zu reden, war für Beuys ein Sich-Stehlen aus der Verantwortung. Beuys wollte, dass jeder Mensch ein Künstler werden würde. Die größte Kunst aber ist das Gestalten der menschlichen Zusammenhänge, so, dass sie auch menschlich sind – oder immer menschlicher werden. Das war für Beuys die eigentliche Kunst.

Bilanz

Die hier ausführlich wiedergegebenen und kommentierten Beiträge des Ausstellungskataloges machen deutlich, dass in erstaunlich großen Teilen des Kataloges Beuys nicht nur nicht verstanden wird, sondern dass man ihm sogar Dinge unterstellt, die absolut unwahr sind (Schallenberg) – oder dass man sich in der eigenen Ignoranz und Trägheit noch selbst gefällt (der ,Moabiter Briefwechsel’).

Wie dies alles in einem Katalog Platz finden kann, der ,Joseph Beuys zum 100. Geburtstag’ gewidmet sein soll, entzieht sich meinem Verständnis.

,Von der Sprache aus’ heißt die Ausstellung und sollte auch der Katalog Wege zu Beuys und einem Verständnis von Beuys aufzeigen. Was er stattdessen tut, ist, Beuys zuzudecken – unter einem Geflecht von Details, Einzelheiten, Belanglosigkeiten, Falschheiten und erschütternd subjektiven, negativen Aussagen und Urteilen.

Mehrfach berührend ist noch Barbara Gronaus Aufsatz über ,Beuys’ Schweigen’ (S. 50-57), der auch einiges Wertvolle über die Bedeutung der von Beuys verwendeten Materialien ausführt. Sie beschreibt seine ,Räume aus Filz’ als ,Orte der Transzendenz’ (S. 54) – und sagt: ,Wo Worte (auch angesichts des selbst verursachten Unrechts) versagten, standen die Werke für ein schweigendes Gedenken. Wo umgekehrt die Zukunft noch ungeschrieben schien, verlieh Beuys’ Sprechen ihr Gestalt.’ (S. 53). Allein ein solcher Satz, der in völligem Gegensatz zu so vielem anderen in demselben Katalog steht, kann einen wieder versöhnen. Beuys kann auch in einem einzigen Satz tiefer erkannt werden als in hundert anderen...

Aber auch Matthias Weiß führt in seinem Beitrag die Aussage von Kuratorin Schallenberg, Beuys habe ,die Sprache dem Logos, der Rationalität und der Genauigkeit’ entziehen und sie ,stattdessen dem Körper, dem Gefühl und dem Unsagbaren zu[]schlagen’ wollen, ganz klar ad absurdum (S. 155):

So enthielten seine Redebeiträge [1970, H.N.] bereits alle wesentlichen Punkte des in den Folgejahren immer wieder proklamierten Kunstkonzepts: das Denken als Ursprung aller künstlerischen Schöpfung und als plastischer Prozess, die Sprache als eine das Gedachte vermittelnde Kunstform, die notwendige Erweiterung des Kunstbegriffs und des Wissenschaftsbegriffs, die Kunst als Mittel der Bewusstseinsweitung, der zentrale Stellenwert der Freiheit, das Einbeziehen der politischen Situation, die Überwindung von Bürokratie und Parteienherrschaft durch Volksentscheide, die Unzulänglichkeit des staatlich regulierten Bildungssystems, das revolutionäre und das metaphysische Potenzial der Kunst, der Nährwert von Kunst und so weiter [...].

Aber selbst der Aufsatz von Weiß, der sich ganz dem ,Sprechen’ von Beuys widmet, ist betitelt mit: ,Viel Silber, wenig Gold’.

Im Grunde ist dies die traurige Bilanz des Katalogs des Hamburger Bahnhofs. Allerdings muss man diesen Titel auf den Katalog selbst anwenden...

Und geradezu erbärmlich ist, dass Beuys’ vermächtnishafte letzte Rede, nur elf Tage vor seinem Tod, in der er ausführlich beschreibt, wie er durch Wilhelm Lehmbruck die entscheidende Inspiration für sein eigenes Künstlertum bekam, wie dies dann durch Rudolf Steiners Impuls der sozialen Dreigliederung mit konkretem Leben erfüllt wurde – und wie Lehmbruck selbst vermächtnishaft wenige Tage vor seinem Tod im März 1919 zu den Erstunterzeichnern von Steiners ,Aufruf an das deutsche Volk und die Kulturwelt’ gehörte ... dass also diese essenzielle Rede nur ganz kurz in Bezug auf Lehmbruck gestreift wird, Steiners Name nur einmal fällt und die soziale Dreigliederung gänzlich unterschlagen wird (S. 156f).

Bis zuletzt hat Beuys durch die Sprache versucht, ein Bewusstsein für diesen Impuls zu schaffen: wirkliche Freiheit im Geistesleben, Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben, menschliche Begegnung und menschliches Wirken als soziales Kunstwerk, überall. Das ist Rudolf Steiners Impuls schon vor einem Jahrhundert gewesen, das ist Joseph Beuys auf völlig neue Weise eine Generation später gewesen, und gerade die junge Generation hat gespürt, worauf es hier ankam, denn die allerbesten Impulse der Achtundsechziger wollten in die gleiche Richtung, spürten, dass ein Ideal Wirklichkeit werden könne, wenn man es nur aufrichtig genug verfolgt.

Der Ausstellungskatalog des Hamburger Bahnhof aber versucht leider alles, genau dieses Zentrum von Beuys’ Wirken unsichtbar zu machen und totzuschweigen. Er ist damit keine Geburtstags-Feier, er ist ein Begräbnis. Trotz der großen Sammlung bedeutendster Beuys-Werke dieses Hauses ist Beuys dort heute – und längst – buchstäblich ein Toter. Der lebendige Geist von Beuys lebt ganz woanders.