15.12.2021

Wenn Soziologen scheitern

Erschreckende Symptome unserer Gegenwart.


Inhalt
Nicht irgendjemand und das große Schwafeln
,Klare Kante’ und Madagaskar
Bude und die Notwendigkeit des Dialogs
Das ungeheure Defizit


Nicht irgendjemand und das große Schwafeln

Der Soziologe Heinz Bude (geb. 1954) ist nicht irgendjemand. Von der Deutschen Gesellschaft für Soziologie wurde er für herausragende Leistungen ausgezeichnet, im letzten Jahr wurde er Gründungsdirektor des documenta-Instituts in Kassel. Er veröffentlichte Bücher wie ,Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft’ (2008) oder sehr aktuell ,Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee.’ (2019).

Aber wie kann es sein, dass ein solcher Soziologe (!) noch 2019 behauptet, es gäbe massenhaft günstige Wohnungen, und überhaupt erst durch 9/11 und die Finanzkrise 2008 darauf gebracht wurde, dass der Neoliberalismus Verlierer und Krisen produziert? [o]

Über sein Buch ,Gesellschaft der Angst’ (2014) heißt es in der Ankündigung:

Es handelt sich weniger um die Angst vor einem »großen Anderen«, es ist die Angst vor den eigenen, schier unendlich wirkenden Möglichkeiten, zu denen wir uns verleiten lassen. Das Angstbild, das sich nach den Funktions- und Legitimationskrisen des Kapitalismus und des Internets ausbreitet, ist das Bild von selbstregulativen Systemen, die auf den Reaktionen und Entscheidungen der beteiligten Individuen beruhen. Welchen gesellschaftlichen Entwicklungen sehen sich die Menschen ausgeliefert, wo fühlen sie sich verlassen, bevormundet oder übergangen? Wie kann unser Ich der Angst standhalten und in welchen Ritualen und Diskursen kann es sich mit anderen über die gemeinsamen Ängste verständigen?

Selten kann man irgendwo größeres Geschwafel lesen. Offenbar hat Bude noch immer nicht begriffen. Überhaupt ist der Begriff Angst gar nicht der richtige. Er schiebt etwas den Einzelnen zu, was doch objektiv ist. Die Verunsicherung ist real, weil der Kapitalismus strukturelle Verunsicherung bedeutet und vermehrt. Er schafft objektiv Krisen und immer größere Ungerechtigkeit – aber Bude labert ein abstraktes Zeug daher, als würde es sich um eine Selbsthilfegruppe handeln. Es geht nicht um gemeinsame ,Rituale’ zur Verständigung über die gemeinsamen Ängste, sondern es geht darum, täglich reale menschenfeindliche Dynamiken und strukturelle Brutalitäten, die sich fortwährend fortsetzen, endlich zu stoppen. Ein Soziologe, der davon nichts sagt, macht sich zur reaktionären Stütze der bestehenden Prozesse.

Zum Begriff der ,Generationengerechtigkeit’ äußerte er schon 2013 [o]:

Das Prinzip der Generationengerechtigkeit beruht auf der sehr schematischen und sehr naiven Unterstellung einer linearen Entwicklung der Welt. Nur bei dieser Unterstellung nämlich kann man ernsthaft glauben, daß Lasten und Zuwächse sich gleichmäßig entwickeln, so daß gerechte Kompensationen zwischen den Generationen möglich sind.

Und weiter:

Gemeinsam ist allen Beteiligten, daß sie den Glauben an die Zukunft verloren haben: die Jungen den Glauben daran, daß sie eine eigene Zukunft haben werden, und die Alten, daß die Jungen noch eine vergleichbare Zukunft erwarten können, wie sie sie gekannt haben.

Auch dies ist ein Gelaber ohne jede Substanz, im Grunde eine jämmerliche Bankrotterklärung des menschlichen Geistes, der dennoch mit unglaublichem Hochmut daherkommt. Auch hier wieder: reaktionäres Stützen des Status Quo.

Die erste Tatsache, dass die ökonomischen Ungerechtigkeiten massiv wachsen, könnte man ohne weiteres jederzeit beenden, wenn nur der politische Wille da wäre. Gleiches gilt aber auch für die jetzt endlich auch von der Politik anerkannten Gefahr des Klimawandels. Eine Generation, die erkennt, dass sie auf Kosten anderer lebt, hat die unmittelbare Pflicht, für Gerechtigkeit zu sorgen. Bude jedoch lehnt sich auch hier reaktionär zurück und gibt geistverblödende Allgemeinheiten von sich, die jedes klare Denken einlullen. Von Solidarität und ethischem Impuls keine Spur.

,Klare Kante’ und Madagaskar

Ein Soziologe hätte sich vielleicht auch dafür interessieren zu können, in welch massivem Ausmaß eine Gesellschaft gespalten wird, in der mit absoluter Ausdrücklichkeit die Impfentscheidung als eine freie deklariert wurde – und in der dann auf einmal massivst Menschen, die sich nicht impfen lassen möchten, ausgegrenzt werden, wie es seit 1945 nicht mehr der Fall gewesen ist.

Doch was tut ein Soziologe wie Bude? Er äußert in einem Podcast mit Gabor Steingart [o]:

Ich würde es jetzt jedem politisch empfehlen: Klare Kante, klare Richtung. Impfgegner müssen fühlbar Nachteile haben. Und im Grunde, in gewisser Weise, kann man sich nicht länger mit denen beschäftigen. Das ist so. Die kann man nicht nach Madagaskar verfrachten. Was soll man machen?

Das Niveau dieser öffentlichen Äußerungen ist kaum noch zu fassen. Die Menschenverachtung ist hier fast mit Händen zu greifen. Implizit schimmert das Bedürfnis, der Wunsch durch, man könnte ,Ungeimpfte’ auf einfache Weise deportieren. Denn es ist nur das Tüpfelchen auf dem i, dass die Nazis 1940 kurzzeitig tatsächlich den Plan hatten, Millionen Juden nach Madagaskar zu verfrachten! [o]

Bude erweist sich hier also als knallharter Vertreter der spaltenden, von Hass bis in die Rede hinein geprägten Impulse – und das Schlimmste ist, dass dieser Hass, der sich als abgeklärte Vernunft tarnt – in feindosierten, zunächst kaum fassbaren Nebensätzen –, in diesen Monaten längst gesellschaftsfähig geworden ist, sich in den Kommentarspalten nahezu aller großen Medien irgendwo finden lässt.

Wenn man sich bewusst macht, dass hier eben nicht von ,Corona-Leugnern’, ,Verschwörungstheoretikern’, ,Unbelehrbaren’, einem ,rechten Rand’ und dergleichen die Rede ist, sondern von etwa zwanzig Prozent der gesamten Bevölkerung, also jedem fünften erwachsenen Mitbürger, dürfte vollends deutlich werden, wie sehr der Soziologe (!) Bude sich selbst disqualifiziert hat.

Bude und die Notwendigkeit des Dialogs

2015 äußerte sich Bude nach den Anschlägen von Paris und Kopenhagen zum interreligiösen Dialog. In einem Bericht des ,Deutschlandfunk’ wird Budes Grundthese so zusammengefasst, dass man gar nicht darum herumkommt, miteinander zu reden, zu leben und auszukommen. Und seltsamer- und bestürzenderweise taucht hier dieselbe Wendung schon einmal auf [o]:

Wir können Flüchtlinge ja nicht nach Madagaskar verschiffen oder noch schlimmere Dinge mit ihnen machen. Oder die Türen zumachen und niemanden mehr aus Afrika nach Europa lassen. Das wird alles nicht gehen. Also müssen wir doch überlegen, wie können wir in irgendeiner Weise miteinander zurande kommen und möglicherweise auch unter Verhältnissen leben, wo unsere eigenen Kreise auch so ein bisschen gestört werden, wo wir merken, wir können nicht mehr in der ewigen Reproduktion unserer Selbstähnlichkeit aufgehen. Und das glaube ich ist ein ganz wichtiger Impuls für unser kollektives Selbstverständnis.

In ungeheurer Überheblichkeit belehrt Bude hier, dass man seinen Eurozentrismus hinter sich lassen müsse. Gleichzeitig vernebelt er völlig, dass dies sehr wohl weiter geschieht. Mit Brutalität werden Menschen, die über das Mittelmeer nach Europa zu flüchten versuchen, so gut wie möglich daran gehindert – und das wird auch so bleiben. Auch das berühmte ,obere eine Prozent’ verharrt in der ,ewigen Reproduktion seiner Selbstähnlichkeit’ und sorgt mit allen Mitteln und Einflussmethoden dafür, dass seine eigenen Kreise nicht gestört werden und der eigene Reichtum weiter wächst, während er woanders abnimmt. Die Türen der Reichen bleiben definitiv zu.

Aber kehren wir zum ,interreligiösen Dialog’ zurück. Der Deutschlandfunk-Artikel fährt fort [o]:

Heinz Bude hingegen meint: Wenn die Angst da sei, dürfe man sie nicht ignorieren oder den Leuten einreden, sie sei falsch und gehöre weg. Man solle sie zur Grundlage vernünftiger Überlegungen machen. Etwa indem man sich fragt, was kann ich tun, um mich weniger eingeschränkt zu fühlen:
„Es gibt eine wichtige Tradition in der Philosophie, die sagt, das einzige Gegenmittel gegen die Angst, die einen verrückt macht, ist das Wissen. Aber […] nicht einfach nur die Kompilierung von Information, sondern […] dieses Wissen, was einen inneren Bewertungsmaßstab aufbaut und dabei […] mit neuen Gegebenheiten der Welt abgleicht, die passieren.“

Das betreffe in jedem Fall auch die eigene Seite [o]:

Der Rechtfertigungsdruck gegenüber dem Islam sei gar keine schlechte Sache, findet nun Heinz Bude. Und hat da eine Idee, auf welcher Basis ein interreligiöser Dialog zu führen sei. Religion gehöre, wie die Kunst, dem gesellschaftlichen Bereich der Inspiration an, Abteilung prophetische Sinnproduktion. Bude sieht den Bereich der Inspiration als eine Art Vorraum des Religiösen:
„Und die Frage ist: Wie redet man nun miteinander in dieser Welt der Inspiration? Und das ist, glaube ich, etwas, was wir noch gar nicht können. Können wir christliche Prophetie mit islamischer Prophetie in ein Gespräch bringen? Das heißt, nicht zu sagen, ihr müsst erst mal so werden wie wir, ihr müsst auch mal eine Aufklärung haben und auch mal versuchen, so was wie Säkularisierung zu erfahren, dann reden wir noch mal weiter mit euch. Das wird nicht gehen. Und damit macht man sich die Sache auch zu einfach.“
Der interreligiöse Dialog, verstanden als Dialog über Inspiration, also über solche Fragen wie: Was hält uns am Leben? Wofür begeistern wir uns? Worin finden wir Sinn? Gibt es eine Bedeutung jenseits fassbarer Dinge und Erfahrungen – also Transzendenz? Dieser Dialog könnte zu Ergebnissen führen, die die Gesellschaft näher zusammen bringt.

Das ungeheure Defizit

Halten wir fest, was Bude hier 2015 sagte: Man darf Menschen nicht einreden, ihre Ängste, Befürchtungen oder Sichtweisen seien falsch. Genau das tut Bude aber sechs Jahre später – er bringt sogar die unterbewussten Wünsche vieler zur Sprache, man könnte die Probleme (oder die ,problematischen Menschen’) einfach verfrachten. Aber da das nicht geht, müsse man eben, so Bude, ,klare Kante’ zeigen. ,Diese Menschen’ (für die Bude den Kampfbegriff ,Impfgegner’ in Anschlag bringt) müssten ,spürbare Nachteile’ haben – ein geradezu ekelhafter Euphemismus für Ausgrenzung.

Meint Bude etwa, man habe bereits lange genug den zwischenmenschlichen Dialog mit jenen versucht, die sich nicht impfen lassen möchten? Monatelang wurde nur versucht, ihnen zu versichern, dass sie die freie Entscheidung hätten! Dann auf einmal der Gegenschlag: Die Ungeimpften sind schlimm, schlecht, buchstäblich Volksschädlinge – so ist es doch!? Also, nicht lange fackeln, sondern ,klare Kante’! So redet der Soziologe Bude im Jahre 2021, und, es sei noch einmal wiederholt – er meint damit zwanzig Prozent der gesamten Bevölkerung.

Die Fragen nach dem Sinn, nach dem, wofür man sich begeistern, wovon man inspiriert werden könnte – alles Fragen, die er offenbar sogar gesellschaftsweit mit Islam-Anhängern mit einem ganz indiskutablen Frauenbild diskutieren möchte –, all diese Fragen fallen auf einmal unter den Tisch, wo es nur darum geht, sich gehorsam aus der Pandemie ,wieder in die Freiheit zu impfen’. Und den Soziologen Bude interessieren natürlich auch nicht eine künftige Online-Gesundheitsüberwachung, Dauer-Impfungen alle sechs Monate, Zugangsbeschränkungen über QR-Code für das gesamte öffentliche Leben.

Für ihn gilt nur: Klare Kante, spürbare Nachteile, denn Madagaskar … geht nun einmal leider nicht.

Diese Gesellschaft hat ein ungeheures Sinn-Defizit. Das wenigstens hat Bude 2015 erkannt. Gefolgt ist daraus für ihn nichts, schon wenige Jahre später hat er seine eigenen Erkenntnisse völlig verdrängt und hängt sein ethisch-moralisches Fähnchen in den Wind.

Viele andere haben in dieser Corona-Krise absolut richtig gesagt: Sie müsste, sie muss Anlass sein, radikal innezuhalten, umzudenken, sich zu fragen: Wo steuern wir eigentlich grundsätzlich hin? Wollen wir das? Pflegenotstand [o], Hate Speech, Ausgrenzung, Klimakatastrophe, Ökonomisierung aller Lebensbereiche, Macht- und Reichtumskonzentration – das alles und noch viel mehr wird sich unter der Dominanz des Kapitalismus nicht ändern, allenfalls zum immer schlimmeren. Wir brauchen endlich die Frage, was der Mensch eigentlich ist – die mutige, aufrichtige und offene Frage nach den ,letzten Fragen’. Solange diese nicht wieder aufgeworfen werden, leben wir unter der Diktatur der Scheinfragen und der ausbleibenden Antworten… Dann aber regieren Mechanismen, ,Sachzwänge’, Machteinflüsse, Kapitalinteressen – und wohlfeile Mitläufer, Labertaschen und andere Komfortzonen-Intellektuelle mit immer weniger Rückgrat und Weitblick.

Die Realität der Seele wird immer unsichtbarer. Wir ertrinken an Blindheit, Dummheit und innerer Faulheit. Die Seele gräbt sich ihr eigenes Grab. Dagegen sind sogar Corona und Klima Kleinigkeiten. Wir verlieren die Zugänge zu den Mysterien – und das beginnt bereits beim Mitmenschen und beim Wesen der Seele überhaupt, also bereits bei dem eigenen Wesen…