06.03.2022

Ukraine – und nun?

Die wahre Frage.

Einleitung

Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat weltweites Entsetzen ausgelöst. Doch wie schon zwei Jahre lang in der Corona-Krise glaubt man, weitermachen zu können wie bisher: mit bloßen ,Maßnahmen’. Es ist erschütternd. Wie lange will man an dem Alten noch festhalten? An Kapitalismus, bloßem Rationalismus (der sich fantastisch mit Geopolitik verträgt) und reaktionärem Macht-Denken? Einem Denken, das inzwischen den gesamten Planeten ruiniert – und gegenüber den wirklichen Katastrophen regelrecht gleichgültig erscheint? Wie lange noch? Der Angriffskrieg Russlands offenbart eine Kälte des Denkens, die im Westen, die global auf anderer Ebene ganz ebenso vorhanden ist. Der Krieg könnte ein Moment der Besinnung und der Umkehr sein – statt eines fatalen, unbedingt zerstörerischen ,Mehr vom Gleichen’.

Während in der Ukraine Menschen sterben – ukrainische und russische Menschen –, betrifft der noch viel weitergehende Kampf die Frage, welche Kräfte eigentlich die Zukunft der Menschheit bestimmen sollen. Welche Kräfte sie jetzt bestimmen, ist offensichtlich – ein immer stärkeres Macht-Denken, eine immer weitergehende Ökonomisierung aller Lebensbereiche, ein Denken, das geprägt ist (allein in seinen objektiven Folgen) von Vernichtung. Vernichtung von Menschlichkeit, Vernichtung von Natur, Vernichtung von Leben überhaupt. Und all dies oft genug unter Behauptung des Gegenteils oder unter Verweis auf angebliche Sachzwänge. Welch ein Wahnsinn!

Unter Gorbatschow war ein Fenster offen zu einer völlig neuen Weltordnung. Es wurde nicht genutzt. Stattdessen haben die USA die unipolare Weltordnung vorangetrieben, sind aus Abrüstungsvereinbarungen und anderen Abkommen ausgestiegen und haben weiter auf Geopolitik gesetzt. Heute steht die Welt vor dem Scherbenhaufen... Aber noch einmal: Es geht um weit, weit mehr. Es geht existenziell um das Menschenbild und um die Realitätsfrage: Welche Kräfte sollen unsere gesamte Zukunft bestimmen? Oder anders ausgedrückt: Wann endlich machen wir wahr mit dem Wesen des Menschen? Haben wir überhaupt noch den Mut dazu? Oder sind Dekadenz und Untergang nicht aufzuhalten? Es liegt nur an der Wahrhaftigkeit und der innersten moralischen Substanz jeder einzelnen Seele.

Ich gebe die Dimension dieser Frage durch eine zentrale Passage aus meinem Roman ,Unerwartet’ wieder. Die Journalistin Sandra ist durch die Begegnung mit einem Mädchen in ihrem ganzen eigenen Standpunkt als Feministin erschüttert worden, hat begonnen, sich mit Beuys zu beschäftigen, und hat mehr und mehr begriffen, dass mit dem ,Wärme-Prozess’ ein existenzielles Mysterium verbunden ist. All dies ist ihr nur dadurch möglich geworden, dass sie sich in das Mädchen ganz real verliebt hat – diese Liebe hat gerade tiefe Verwandlungsprozesse mit sich gebracht, ausgelöst und ermöglicht ... und tut es noch immer. Ihr Partner Henri jedoch wirft ihr vor, einem bloßen Mädchen ,hinterherzurennen’, sich gar noch erotisch angezogen zu fühlen – und ihre neue ,Partnerin’ wunderbar dominieren zu können (was Sandra gerade ihm vorwirft, weil er subtil noch immer sexistische Tendenzen hat).

Es entfaltet sich folgender Dialog, der wirklich das Schicksal der Welt umfasst:

Die wahre Frage

„Du hast es noch nicht verstanden, Henri. Hier dominiert keiner. Oder wenn – dann das Mädchen. Begreifst du das denn nicht? Du zählst nicht einmal zwei und zwei zusammen – oder machst es, wie es dir gerade passt. Einmal redest du von ,Hinterherrennen’ – jetzt von dominieren. Weißt du eigentlich selbst, was du sagst? Das angebliche ,Hinterherrennen’, das dir so peinlich ist, deutet doch wohl darauf, dass Elisa mich dominiert, oder etwa nicht? Aber was hier dominiert, ist mein Erleben von etwas völlig Neuem, mir bisher absolut Unbekannten – das dominiert, Henri, nichts anderes! Und Elisas Unschuld bedeutet, dass keine andere Dominanz existiert – von ihr aus schon gar nicht, und von mir aus erst recht nicht, denn ich bin von ihrer Unschuld völlig und gänzlich berührt. Ich sprach von einem Heiligtum. Ein Heiligtum dominiert man nicht – sondern hier lernt man ganz neu eine Ehrfurcht ... vor dem, was nie auch nur einen Moment lang dominiert werden darf.
Und so wäre die Unschuld auch das Heilmittel für euer Problem, das ja ganz und gar daraus besteht. Die Unschuld wäre das volle Heilmittel für das Patriarchat – das habt ihr nie verstanden, Henri. Ich verstehe es jetzt, immer tiefer. Ihr habt die Unschuld immer nur ausgenutzt. Ich laufe ihr jetzt hinterher – und lasse mich von ihr sogar noch dominieren ... was aber nichts anderes bedeutet als: immer wieder berühren. Mich verwandeln. Ich lasse mich verwandeln. Elisas Dominanz besteht gerade darin, dass sie niemals dominiert und dies nie auch nur wollen würde. Und gerade dadurch verwandelt sie – ja, auch mich! Elisa verwandelt durch Unschuld. Dadurch, dass sie das genaue Gegenteil des Patriarchats ist. Das verwandelt, Henri! Das erschüttert. Das heilt... Es heilt wirklich.
Durch Elisa erkenne ich, dass das ganze Macht-Ding und sogar der Macht-Kampf ein völliger Wahnsinn ist. Der Machtkampf der Geschlechter, das Anrennen gegen eure bescheuerte Dominanz – das ist nicht der Endpunkt. Das ist eine Sackgasse. Manche Paare finden zu echter Gleichberechtigung. Und vielleicht wird es in ein, zwei Generationen Männer wie dich gar nicht mehr geben, Henri. Du hältst dich für gleichberechtigt, aber du bist es nicht, du hast noch immer ein ungeheures Dominanz-Problem.
Vielleicht also sterben diese Männer allmählich aus, weil die Frauen die Gleichberechtigung wirklich durchsetzen. Aber seit ich Elisa begegnet bin, inzwischen, frage ich mich, ob das wirklich die Lösung sein kann. Und ich spüre: Es ist sie nicht. Es ist nicht die Lösung. Die Lösung ist nicht der Kampf um Gleichberechtigung, die dann endlich, mühsam, irgendwie, gefunden wird. Die Lösung kann nur die Liebe sein. Echte Gleichberechtigung, weil etwas anderes gar nicht denkbar ist – und nicht nur nicht denkbar, sondern eben gar nicht gewollt wird. Das Dominanzdenken nicht nur völlig ausgelöscht, sondern als echte Krankheit erkannt, etwas, was man nicht einmal mehr verstehen kann. So sehr muss die Liebe in den Seelen leben – auch in den männlichen!
Und was in Elisa lebt, ist der tiefe Anfang dessen – denn ihre Unschuld ist nichts anderes als dies: tiefe Liebe. Einfach Liebe – Liebe an sich. Unschuld besteht darin, dass sie niemanden dominieren will, aber mehr noch: Dass sie überall zarte Zuneigung verströmt, sogar, ohne es zu merken. Unschuld ist reine Wärme – es ist die heiligste Qualität überhaupt. Es ist der Beginn einer neuen Evolution: Die Erde wird ein Ort der Wärme. Der Herzenswärme, der absolut menschlichen Wärme. Das ist es, was Elisa mich bereits gelehrt hat – auch wieder, ohne es zu wissen. Und Beuys war auch daran beteiligt. Und vielleicht weiß er es...
Ich rechne nicht damit, dass du diese Dinge verstehst, Henri. Aber du siehst – mein Erleben mit einer ,Vierzehnjährigen’ hat bereits mehr verändert und mehr Bewusstsein und geradezu revolutionäre Erkenntnisse eröffnet als Jahre davor. Für mich ist das existenziell und umfassend. Ich kann dahinter gar nicht mehr zurück.“

„Schön – dann will ich dir das auch gar nicht nehmen.“

„Je länger ich rede, desto kürzer redest du. Du sagst dazu gar nichts mehr. Weil du dich versteckst? Oder ist es in deinen Augen absolut zu verachten, was ich gesagt habe? Bedeutungslos – zum tausendsten Mal naiv, utopistisch, schwammig, typisch weiblich?“

„Ich würde es so sehen, ja. Und die Diskussion mit dir – oder auch zwischen uns – ist ja sinnlos, du hast es ja selbst ausgeführt.“

„Aber ich sage doch nicht immer dasselbe, Henri! Was ich eben gesagt habe, habe ich doch nie vorher gesagt! Hast du zu allem trotzdem immer nur deine Standard-Reaktion?“

„Es hat sich nicht so sehr von dem unterschieden, was ich auch vorher schon von dir gehört habe, zumindest nachdem du ... dieses Mädchen kennengelernt hattest. – Gleichberechtigung schön und gut, aber, entschuldige mal, von einer ,neuen Evolution’ zu reden, ist nichts anderes als dieser Esoterik-Quatsch, den du auch immer verachtet hast. Und die Welt auf ,zarte Zuneigung’ zu gründen, die ,überall verströmt’ wird – das ist nun wirklich der größte Utopie-Schwachsinn, den ich je gehört habe. Das übersteigt alles, was du vorher von dir gegeben hast. Die Realitätsferne erkennt hier nicht einmal mehr irgendwelche Grenzen. Das ist nicht einmal mehr Utopie, das ist Esoterik-Wahn.
Ich will dich nicht einmal verletzen, Sandra. Es tut mir geradezu selbst weh, dich derart abgleiten zu sehen in ... honigsüße Illusionen, die geradezu einem Trip entstammen könnten. Ich kann das nicht begreifen. Ich hatte dich immer noch für eine rationale Denkerin gehalten.“

„Der Punkt ist, dass du die Liebe nicht anerkennst, Henri. Offenbar ist die Liebe für dich sowieso immer nur eine Verhandlungssache. ,Gibst du mir, geb ich dir’. So funktioniert das aber nicht. Allenfalls für euch Männer. Mit Liebe hat das aber nichts zu tun – also könnt ihr nicht wirklich lieben, ihr bildet es euch nur ein, aber da ist nichts von Liebe. Es ist Verhandlungs-Dominanz- und vielleicht auch noch Begehrens-Zeug. Weiter nichts. Selbst mein Begehren in Bezug auf Elisa ist weiblich, nicht männlich.
Ihr erkennt nicht, dass Liebe existiert, dass Liebe wesentlich ist, dass sie das Prinzip der menschlichen Evolution ist und sein sollte. Die ganze menschliche Evolution bestand aus Zusammenarbeit, Kooperation – nur so konnte der Mensch sich entwickeln. Und wenn du glaubst, das war immer nur ein ,do ut des’, dann täuschst du dich. Vielleicht war es das bei den Männern, die ganze Zeit – aber Frauen haben ihre Partner immer geliebt, Frauen haben auch ihre Kinder, die sie geboren haben, immer geliebt. Frauen haben das Prinzip der Liebe in die menschliche Evolution eingeführt.
Und Elisa geht einfach nur eine Stufe weiter. Sie führt die Liebe als einziges Prinzip ein. Von nun an gibt es nur noch Liebe – nicht nur gegenüber Partnern und Kindern, sondern gegenüber allen. Einschließlich den Tieren, Pflanzen und wahrscheinlich sogar Steinen. Das ist die Zukunft, Henri. Ihr seid die Vergangenheit. Und ich stehe mittendrin. Aber ich liebe ... Elisa. Und damit die Zukunft, nicht die Vergangenheit.“

„Wahnsinn... Wie du dir das hindrehst. Das nimmt ja apokalyptische Ausmaße an. Du entwirfst ja eine ganze Soteriologie – eine Heilslehre. Fehlt nur noch, dass du eine Sekte gründest und dieses ,Mädchen’ zum neuen Christus ausrufst. Willst du das nicht machen?“

„Du kennst doch die Stufen der Bekämpfung des Neuen: Schweige es tot, mache es lächerlich...“

„Wenn es wirklich das Neue ist, wie du sagst, wirst du ja keine Schwierigkeiten haben, damit die Welt zu erobern.“

„Das Neue hat immer Schwierigkeiten, denn die Kräfte des Alten stellen sich dagegen. Du glaubst an den Fortschritt, Henri, aber es könnte sein, dass du längst zu den reaktionären Kräften gehörst – jenen, die das Prinzip der Dominanz, der Konkurrenz, der Ausbeutung, des rücksichtslosen Ressourcenabbaus und so weiter, immer weiter aufrechterhalten wollen – gegen das Neue.“

„Du weißt genau, dass Fortschritt auch mit Effizienz, Ressourcenschonung, flachen Hierarchien und unendlich vielem anderen verbunden ist.“

„Ja, Effizienz, aber nicht Nachhaltigkeit. Ressourcenschonung – angeblich, bei immer weiter intensivierter Ausbeutung der Natur, so dass sich das nur gegenseitig aufhebt. Flache Hierarchien, aber nicht gar keine Hierarchien. Und oben werden die sein, die sich am besten durchsetzen konnten, die bessere Bildungschancen hatten, reichere Eltern und immer wieder: Männer – oder aber Frauen, die sich männlich verhalten und durchgesetzt haben. Alpha-Frauen. Ja, Henri – dieser ,Fortschritt’ ist reaktionär. Er ist es schon jetzt – und er wird es immer mehr werden.
Wer nicht an die Liebe glaubt, ist kein Realist, er ist kalt. Und das ist vor allem das Problem von euch Männern. Ihr seid erkaltet. Ihr spielt das Spiel von Dominanz und Konkurrenz noch ewig weiter. Ihr seht überhaupt nicht, dass ihr evolutionär gesehen bereits auf einem Abstellgleis rangiert. Das Problem aber ist, dass ihr die ganze Erde da mit reinzieht – weil ihr nach wie vor die Macht habt. Und Frauen gar keine Macht wollen, weil sie ein völlig anderes Prinzip vertreten.
Deswegen wird die Welt keineswegs ohne Schwierigkeiten erobert werden. Die Liebe kann nicht ,erobern’. Sie kann nur berühren. Und wer nicht berührt wird, der vertritt das Gegenprinzip. Jenes Prinzip, das nicht nur Utopien leugnet, sondern das Ur-Prinzip des Menschen selbst. Du glaubst nicht mehr an den Menschen, Henri – das ist dein Problem. Und mit dir das Problem Millionen anderer, vor allem Männer – und auch Frauen, ich nehme mich da nicht aus, die allzu lange schon Erfahrungen mit Männern sammeln mussten. Wann schließt ihr euch uns an, Henri? Wann vertretet auch ihr das Prinzip der Liebe? Wann hört der Kampf auf? Ich möchte es so gern wissen... Aber ich weiß, dass ich von dir keine Antwort bekomme. Alles, was du kannst, ist Pragmatismus und Sarkasmus. Es ist der Todespol, Henri... Mehr kann ich dazu nicht sagen... Elisa hat mich sehend gemacht. Und das meine ich ganz nüchtern.“

„Ja“, sagte Henri trocken. „Frauen – Gefühl. Männer – Gedanke. Nur dass im einundzwanzigsten Jahrhundert die Welt nicht mehr durch Gefühle regierbar und gestaltbar ist. Der Gedanke wird immer überwiegen, Sandra. Daran kannst du nichts ändern. Die Welt ist für alles andere längst zu komplex geworden. Und wenn Frauen sich nicht an der Gedankenarbeit beteiligen wollen, werden auch künftig vor allem die Männer die Gestalter sein. Das hat nichts mit Patriarchat zu tun – eher mit der sehr vernünftigen und anzustrebenden Herrschaft der Ratio. Kein einziger Mann will zurück zu einer Herrschaft des Gefühls.“

„Du unterschätzt das Gefühl gewaltig, Henri. Ganz gewaltig. Und du überschätzt den Gedanken, das ist ein echter Hochmut eurer männlichen Gedankenlastigkeit. Elisa hat auch Gedanken – und wie! Nur sind ihre Gedanken liebevoll. Und so spürt man in ihnen die Zukunft regelrecht – während man in euren kalten, rein sachlichen Gedanken, die aber zugleich ach, so oft bloß ,pragmatisch’ und sogar sarkastisch sind, die Vergangenheit spürt. Das Vergangenheitsverhaftete, das Reaktionäre – das, was keine Zukunft hat, weil es kein Leben mehr hat, Henri. Das Leben ist bei Elisa – und sie hat keineswegs nur Gefühle. Sie hat sogar mehr Gedanken als du – denn deine Gedanken sind rein pragmatisch, sie orientieren sich am Bestehenden.
Utopien sind auch Gedanken. Und dass sie so ,unrealistisch’ erscheinen, liegt nur daran, dass allein schon die männliche Hälfte der Welt nicht mehr an Gedanken glaubt – höchstens an die lächerlichen Gedanken der Mächtigen, die interessegeleiteten Entwicklungen der Reichsten und den engen Korridor des angeblich nur Machbaren. Das sind für mich keine Gedanken, Henri, es ist der letzte Rest des nicht mehr Denkenden. Es ist der Abschied vom Denken.
Elisa verabschiedet sich nicht vom Denken, weil sie noch daran glaubt, dass alles möglich ist. Und weißt du, was das Komische ist? Es ist alles möglich! Und weißt du, was das Komischste ist? Die Männer haben das schon vor langer, langer Zeit vergessen... Und – es ist das Gefühl, was einen wieder daran erinnert... Denn das Herz hat diese Wahrheit nie vergessen... Und es muss erst ein vierzehnjähriges Mädchen kommen, um an diese einfache Wahrheit wieder zu erinnern!“

„Es sind aber leider Gedanken gewesen, die die Schrift, den Buchdruck, eine die ganze Welt ernährende Landwirtschaft, die moderne Medizin, die Intensivstationen, die Handys und das Elektroauto erfunden haben.“

„Was alles keinen Sinn mehr macht, wenn die Beziehungen unter den Menschen immer liebloser werden.“

„Sie waren glaube ich in der Geschichte stets liebloser als heute, im Zeitalter von Gleichberechtigung, Diskriminierungsverbot, Diversity, fallenden Hierarchien etcetera etcetera.“

„Wir haben aber auch die Anonymisierung, die Egoisierung, die neofeudalistische Arm-Reich-Schere, den Kampf der Superreichen gegen den Rest der Welt, wir haben einen enormen Verfall dessen, was einst noch getragen hat. Wir haben Verwaltung, Bürokratisierung und Entmenschlichung. Das geht alles parallel. Du hast Recht – wir sollten heute an einem Punkt sein, wo das Menschliche sehr, sehr sichtbar wird. Aber zugleich geht es massiv in die andere Richtung. Und alles nur, weil man nicht die Kraft erkennt, die notwendig wäre, damit es nicht nur Diskriminierungsverbote gäbe, sondern Diskriminierung gar nicht mehr stattfände – weil man sich nicht bloß an Verbote hält, sondern an die Liebe, die man in sich findet...“

„Mir geht das zu weit, Sandra – es kreist auch immer wieder um dasselbe...“

„Ja, ich weiß, wir werden uns nicht einigen können, weil ich an etwas glaube, was du machtvoll verdrängst. Auch du diskriminierst ... nämlich das Fühlen. Dein ziemlich gefühlloses Denken will seine Herrschaft um jeden Preis behaupten – und zu diesem Zweck behauptest du immer wieder von Neuem, ein liebendes Denken und liebendes Fühlen sei naiv, utopistisch, schwammig und so weiter und so fort. Dabei ist es einfach nur im Moment noch zu selten, weiter nichts. Das aber liegt nur daran, dass dieses kalte Denken seine drückende und unterdrückende Herrschaft ausübt. In ganz vielen Menschen lebt schon etwas Neues. Und es kann sein, dass eines Tages dieses Neue sich durchsetzt, weil es plötzlich einfach die Mehrheit ist – und es dann als naiv, utopistisch und schwammig gilt, irgendwie so weitermachen zu wollen wie bis dahin...“

„Na prima – dann könnten wir ja die Geschichte entscheiden lassen.“

„Objektiv ist dieses Urteil aber nicht, denn Pragmatismus und Sarkasmus üben eine lähmende Herrschaft aus. Sie sind nicht Träger des Lebens – sie herrschen derzeit nur, und dies macht sie so hochmütig. Dass sie gerade herrschen, noch immer, obwohl die Zeit eigentlich längst über sie hinweggegangen ist. Man könnte sagen, sie sind lebende Mumien.“

„Du könntest Populistin werden, Sandra.“

„Der nüchterne Pragmatismus ist bereits Populist – denn er will den Leuten weismachen, es gebe keine Alternative. Das haben die Reichen und Mächtigen seit Beginn der Geschichte immer behauptet. Du siehst, du befindest dich in guter Gesellschaft.“

„Mach dich doch nicht lächerlich, Sandra. Du bemerkst überhaupt nicht, was du alles in einen Topf wirfst...“

„Was einst fortschrittlich war, kann längst rückschrittlich sein – auch heute wieder.“

„Dann würden viel mehr Leute das Gefühl haben.“

„Das geht leider nicht, wenn allein schon die Hälfte der Welt überhaupt kein Gefühl mehr hat – als das einer grenzenlosen Technikgläubigkeit.“

„Und die andere Hälfte die übliche Modernitätsangst.“

„Es ist keine Modernitätsangst – es ist nur die Erkenntnis, dass inmitten all dessen etwas Entscheidendes fehlt.“

„Du bist frei darin, es hinzuzufügen.“

„Wieder dieser kalte, pragmatische Sarkasmus. Warum bist du nicht auch frei? Weil du es gar nicht kannst! Ich rede gerade unendlich lange darüber – und in mir fügt es sich bereits hinzu, durch Elisa! Aber du wehrst es regelrecht ab, indem du es eben als naiv, idiotisch, irrational und überflüssig bezeichnest!“

„Richtig – wenn ich mir ein Rennrad kaufe, will ich im Geschäft keine Verkäuferin oder gar einen Verkäufer, der ,zärtlich Liebe ausströmt’! Die Welt ist gut so, wie sie ist. Und alles andere ist Sozialromantizismus oder sogar purer Kitsch.“

„Du begreifst nicht im Geringsten, worum es eigentlich geht. Es geht um erbarmungslose Lieferketten, um organisierte Verantwortungslosigkeit, um geradezu kriminelle Produktionsverhältnisse, gefühlloseste Ausbeutung der Natur – und dir fällt nichts anderes ein, als all meine Gedanken ein weiteres Mal ins Lächerliche zu ziehen?“

„Für diese Probleme können rationale Lösungen gefunden werden – und müssen es auch. Aber das ist ein völlig anderes Thema.“

„Eben nicht. Seit Jahrhunderten rennt die Welt ihren Lösungen hinterher – warum wohl? Weil der Egoismus immer schneller ist als die angebliche Vernunft. Du glaubst an die sogenannte Vernunft? Warum herrscht sie denn auch nicht? Weil Macht und Interessen herrschen! Und das wird immer so bleiben – deine sogenannte Vernunft wird ebenfalls nie wirklich zur Herrschaft kommen. Und warum nicht? Weil die Liebe verspottet wird. Nur die Liebe kann die Macht der Macht und der Interessen brechen. Alles, was einem die sogenannte Vernunft sagen kann, darauf kann schon eine Vierzehnjährige kommen – und die meisten können dir sofort sagen, was sich ändern müsste, und so viel schlauer bist du auch nicht. Was aber eine ganz bestimmte Vierzehnjährige dir und auch mir und uns allen voraus hat, ist eine innere Wärmekraft, durch die irgendwelche vernünftigen Gedanken nicht irgendwelches flaues Gerede bleiben, sondern Realutopie werden! Gedanken, die die Herzen erreichen, weil sie aus einem Herzen kommen.
Dieses Mädchen macht wieder ernst damit, dass Menschen eine Seele haben! Gedanken müssen nicht nur Hand und Fuß haben, sondern auch Seele – sonst kann man sie gleich lassen. Sonst kann man gleich einen Aktenordner zum Kanzler ernennen – und einen Paragraphen zum Minister. Was heute stattfindet, ist ein Kampf zwischen toten Kopfgedanken und lebendigen Herzens-Utopien – das findet heute statt! Du glaubst nicht mehr an radikale Veränderungen – das Herz glaubt an nichts anderes. Und darum ist das männliche Denken, insofern es tot ist, ein absoluter Bremsklotz. Es ist längst reaktionär. Und wenn das Reaktionäre an der Herrschaft bleibt, wie lautet dann das Urteil der Geschichte? Die Vergangenheit hat gesiegt... Die Frage ist nur: Wie lange noch?“

„Schwarz-Weiß-Denken hat noch nie geholfen, Sandra. Du siehst eben doch alles schlecht und mehr als nur ,halbleer’. Du stilisierst das rationale Denken zu einem Dämon – und dein zärtlichst-naives Mädchen zur Weltenerlöserin. Das ist es aber nicht. Auch sie wird ihre utopistischen Träumereien bald verlieren, gib ihr vielleicht ein Jahrzehnt, und dann trägt sowieso nur noch realitätsbezogenes Denken mit Bodenhaftung weiter...“

„Und wieder sieht der Mann nicht, was er tut. Und tut es ja auch wieder sehr souverän, indem er mit einem Schlenker der Hand das Fühlen verspottet und lächerlich macht. Das ist nichts anderes als Schwarz-Weiß-Denken. Denken: supergut, von Natur aus dominant, Fühlen: meistens überflüssig, wenn nicht schädlich. Aber wir haben die Atombombe, das Wettrüsten, die Massentierhaltung, die Vernichtung unserer Lebensgrundlagen, wir haben Kriege, Hass, neuen Nationalismus ... ich weiß gar nicht, wo ich aufhören soll!“

„Ein bisschen mehr Denken schadet nicht – Probleme entstehen immer da, wo nicht genügend gedacht wird.“

Das ist irreal gedacht. Deine Utopie besteht darin, dass die Leute einfach irgendwann ,genug’ denken würden – und dann friedlich werden, nicht mehr hassend, nicht mehr ausbeutend, nicht mehr vernichtend. Worauf gründest du diese Utopie? Auf Sand! Auf den reinen Glauben an ein eines Tages sich entwickelndes ,Denken’, für das keinerlei Anzeichen existieren. Aber höre dich um – die Menschen wünschen den Frieden, sie wünschen einen anderen Umgang mit der Natur, mit den Tieren, wünschen keinen Hass oder Nationalismus.
Und doch wird all dies genährt. Wodurch? Durch Gedanken! Entweder allzu billiges Einkaufen oder aber Freund-Feind-Denken, Propaganda, Populismus, Bequemlichkeit... All dies ist nur möglich, wenn das Gefühl fehlt. Gib den Menschen ein wirkliches Fühlen – und sie werden nicht nur ,vernünftig’, sondern mehr als das. Sie finden in sich Liebe ... und daraus entwickelt sich alles andere.“

Schluss

Diese Kraft ist es, die fehlt – die heilige Kraft eines Fühlens, das radikal bricht mit allen patriarchalen Zügen und stattdessen sein eigenes Wesen wahrmacht: Wärme-Substanz zu sein, in realster Bedeutung.

Solange wir nicht erkennen, dass das gesamte menschliche Zusammenleben auf diese Kraft gebaut werden muss – und welche ungeheuren Implikationen dies hat –, solange wird die Menschheit weiterhin Untergängen entgegengehen, sie mag dies realisieren oder auch nicht. Die ungeheure Verdrängung, die fortwährend geschieht, wird zwangsläufig irgendwann einen Endpunkt erreichen, wo sie nicht mehr möglich sein wird. Dann aber wird es längst zu spät sein.

Wie kann es sein, dass die rettende, die heilende Erkenntnis so sehr abgewehrt wird? Aber die Antwort ist deutlich: Dieses Rettende ist zutiefst unbequem. Denn die wenigsten Seelen sind bereit, mit dem angenehmen Selbstbezug und der damit einhergehenden Bequemlichkeit und Annehmlichkeit (die auch die ,Segnungen’ der Moderne nun einmal bieten) radikal zu brechen, um sich stattdessen dem zu nähern, was das Mädchen dieses Romans verwirklicht. Lieber will man alles beim Alten lassen, zumindest aber sich selbst ... aber alle anderen tun das auch. Und so ist der eigene Stillstand immer auch der globale Stillstand – egal, wie sehr man stets sich für besser hält als den Durchschnitt. Vielleicht ist man es ja sogar, aber wie hässlich ist es, sich auf einer solchen armseligen Erkenntnis wiederum auszuruhen?

Die Protagonistin des Romans macht radikal Ernst mit dem, was sie erkannt hat – sie verharrt nicht in den Schubladen, die sie für die Wahrheit hielt, sondern tritt selbst da, wo es auch ihr ganzes bisheriges Leben (als Feministin) in Frage stellt, für die wirkliche Wahrheit ein: Dass diese Welt ohne eine umfassende Verwirklichung dessen, was das Mädchen dieses Romans so tiefgreifend offenbart, keine Zukunft haben wird. Weil jenes Mysterium des Fühlens und der Wärme die Zukunft ist.

Derzeit aber führt die gesamte Menschheit einen Angriffskrieg gegen ihre eigene Zukunft...